Die Mainzer Republik – Deutschlands erster Demokratieversuch

Shownotes

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – nicht nur Menschen, auch Ideen können wandern, über Grenzen sogar. 1792/93 infizierte der Französische Freiheitsbazillus Revolutionsbegeisterte in Mainz, auf der anderen Seite des Rheins. Sie wagten hier das Abenteuer Demokratie – lange bevor im restlichen Deutschland daran zu denken war. Plötzlich wurde der „Freiheitsbaum“ gepflanzt, der Gerichtsstein, Symbol des Feudalismus, zerstört, Männer trugen rote Jakobinermützen, und auch im Alltag war die neue Zeit spürbar. Doch kann ein junges, umkämpftes Freistaats-Projekt inmitten von Krieg und Besatzung wirklich gelingen? Und warum wurde der erste demokratische Nationalkonvent von vielen boykottiert? Fragen, die Almut Finck und der Historiker Kai-Michael Sprenger in der historycast-Folge beleuchten, die von Symbolen, Debatten und dem langen Weg zur deutschen Demokratie erzählt.

Der Mainzer Republik gelang der Sprung von der Idee zur Realität nur kurz. Was davon bleibt, sind beeindruckende demokratische Impulse, das Vermächtnis mutiger Persönlichkeiten wie Georg Forster oder Friedrich Lehne – und noch immer offene spannende Fragen: Wie viel Freiheit wollten die Menschen wirklich? Kann man Menschen zu ihrem (demokratischen) Glück zwingen? Und was lernen wir heute aus diesem gescheiterten Experiment?

Kai-Michael Sprenger ist Historiker und Gründungsdirektor der Bundesstiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte, des Kooperationspartners des historycast.

Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.

Staffel 4, Folge 8 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]

Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.

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TEASER:

SPRENGER: Dieser wichtige Satz, dass der einzige rechtmäßige Souverän dieses Freistaates das Volk, das freie Volk sein soll, das ist ja etwas, was wirklich grundlegend war, auch wenn es nicht umgesetzt wurde in dieser Zeit. Aber als Gedanke war es formuliert, als grundsätzliche Rahmenbedingung. Und das hat bis zum heutigen Tage für unsere politische Kultur, für unsere parlamentarische Demokratie nach wie vor als Idee, und heutzutage zum Glück nicht nur als Idee, sondern als umgesetzte politische Wirklichkeit, Bestand. Von daher ist die Mainzer Republik bei all ihrer Widersprüchlichkeit durchaus ein, wenn auch ambivalenter, Ort der deutschen und vielleicht sogar auch der europäischen Demokratiegeschichte.

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte

Folge 8: Die Mainzer Republik. Deutschlands erster Demokratieversuch

Almut Finck im Gespräch mit Kai-Michael Sprenger

FINCK: Wir sind in Mainz im Jahr 1792. Im November, am 3. November, glaube ich, 1792, kann man beobachten, wie dort ein Dutzend Männer durch die Stadt zieht und auf einem Platz in der Nähe des Doms, also ganz zentral gelegen, den sogenannten Gerichtsstein, ein Symbol des Feudalismus, entfernen. Und einen Baum pflanzen. Einen etwas seltsamen Baum, eher eigentlich ein Bäumchen. Ich habe mal ein Bild mitgebracht. Man sieht darauf, der hat keine Wurzeln, der ist entlaubt bis auf die Spitze. Und oben auf der Spitze ist etwas ganz Kurioses. Dort sitzt nämlich eine rote Mütze, so eine Art Zipfelmütze. Es ist überliefert, dass diese Männer um den Baum rumtanzen und auch noch Lieder singen. Herr Sprenger, was hat denn das zu bedeuten?

SPRENGER: Ja, das ist der Freiheitsbaum, der im Zuge der Französischen Revolution gepflanzt wurde, als Symbol einer neuen politischen Kultur, als Symbol der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit, den Idealen der Französischen Revolution. Und in den deutschen Landen, in denen dieser neue Geist, diese neue politische Kultur eben auch Anhänger fand, wurde dieser Baum gepflanzt als Zeichen dafür, dass man die alte feudale Ordnung überkommen hat und jetzt eine neue Kultur, eine politische Kultur errichtet. Diese Pflanzung oder Errichtung eines Freiheitsbaums, das war natürlich extrem geschickt, weil sie anknüpft an Traditionen, die bekannt waren. Wir alle kennen diese Maibaum-Traditionen, Kerbebäume, sagt man bei uns in der Region. Das war positiv besetzt. Das war verbunden mit Fest, mit Fröhlichkeit, mit Gesang. Und genau diese Assoziationen nutzten die Anhänger der Französischen Revolution, um diese positiven Gefühle zu transportieren, zu zeigen und zu suggerieren, mit dieser neuen politischen Kultur ist etwas sehr Positives verbunden, das man feiern muss. Außerdem war dieser Freiheitsbaum natürlich auch sichtbar. Es geht ja nicht nur darum, dass man mit Texten und politischen Idealen eine neue politische Kultur transportiert, sondern auch mit einer sichtbaren Symbolik.

FINCK: Auch im Alltag sichtbar, die Leute gingen da jeden Tag dran vorbei.

SPRENGER: Im Alltag sichtbar, vor allem auch für jene, die nicht lesen und schreiben konnten. Man darf ja nicht vergessen, dass der Grad der Bildung in dieser Zeit noch relativ überschaubar war, und diese neue Kultur sollte ja auch den Leuten nahegebracht werden, im Idealfall zumindest, die diese Texte, die ja zum Teil auch recht kompliziert sind, gar nicht lesen, geschweige denn vielleicht sogar verstehen können.

FINCK: Und warum hatte der keine Wurzeln, dieser Baum?

SPRENGER: Weil es im Grunde ein Holzstamm war, den man errichtet hat und den man dann mit einer Mütze bekrönt hat.

FINCK: Vielleicht auch, oder ist das überinterpretiert, um zu zeigen, da ist etwas ganz Neues, das hat noch keine Wurzeln, das ist also nicht traditionell überliefert, das ist also ist nicht Jahrhunderte alt, sondern wir setzen das da jetzt ganz neu rein?

SPRENGER: Ich glaube, es war eher ein Pragmatismus. Weil die Errichtung eines Freiheitsbaumes, ganz analog zu der Errichtung eines Maibaumes oder Kerbebaumes, das war im Grunde ein Holzstamm, den man eben geschmückt hat und den man hier in diesem Fall bekränzt oder bekrönt hat mit dieser phrygischen Mütze, der Jakobinermütze. Man kann auch augenzwingend sagen, sieht aus wie eine Schlumpfmütze, so ähnlich, so ’ne Zipfelmütze, in Anlehnung an die phrygische Mütze …

FINCK: Was war das denn, die phrygische Mütze?

SPRENGER: Die phrygische Mütze war eine Kopfbedeckung, die in der Antike, bei den Phrygern überliefert ist.

FINCK: Müssen wir uns denn jetzt vorstellen, dass die Leute in Mainz, die Männer und vielleicht auch die Frauen, dass die alle da mit dieser komischen roten Mütze rumliefen?

SPRENGER: Ich glaube, ganz so extrem war es nicht. Aber einige haben diese Mütze getragen. Es gibt eine Zeichnung, die eine Versammlung des Mainzer Jakobinerclubs, des „Clubs der Freunde der Freiheit und Gleichheit“ zeigt. Und da tragen tatsächlich Einzelne auf dieser Zeichnung eine solche Mütze. Also, von daher hat man auch durch das Tragen dieser Mütze öffentlich gezeigt: Ich bin ein Anhänger dieser neuen politischen Kultur, dieser Ideale der Französischen Revolution. Aber das war nicht flächendeckend, natürlich.

FINCK: Ich habe irgendwo gelesen, und Sie merken jetzt schon, mich interessieren immer die Symbole, dass die Mütze auch deshalb gewählt wurde: Es war bewusst kein Hut. Einen Hut hat man gezogen, um Respekt zu zeigen, meistens war das der Untertan, der sich verneigen musste und eben den Hut zieht, und die Mütze blieb auf, man zog vor niemandem die Mütze.

SPRENGER: Ganz genau. Also, diese Gesten, diese Symbolik ist natürlich in dieser Zeit, wie bei allen politischen Umbrüchen, extrem wichtig. Und auch der Ort, an dem man in Mainz diesen ersten Freiheitsbaum errichtet hat. Nämlich „Am Höfchen“, das war die Adresse, an der der erzbischöfliche Hof früher stand. Und an dieser Stelle stand noch ein Gerichtsstein. Das war das Symbol der feudalen Herrschaft, auch der Stadtherrschaft des Mainzer Erzbischofs, und war ein Symbol für den Verlust der Stadtfreiheit, möchte man so sagen, 1462, im Zuge einer größeren Auseinandersetzung, da wurde Mainz erobert von den Truppen des Erzbischofs Adolf von Nassau, da gab es einen Streit zwischen zwei Personen, die beiden meinten, Mainzer Erzbischof sein oder werden zu müssen. Und im Zuge dieser Eroberung 1462 hat Mainz seine Freiheit, kann man sagen, verloren. Und dieser Gerichtsstein, der erinnerte eben auch die Mainzer tagtäglich, wenn sie daran vorbeigingen, daran, dass sie eben einen Stadtherren hatten, den Mainzer Erzbischof. Und der wurde zerstört, dieser Stein, und der Freiheitsbaum errichtet.

FINCK: Nochmal zurück zur roten Jakobinermütze. Es soll einen Zusammenhang geben zur Narrenkappe des rheinischen Karnevals, ist das richtig?

SPRENGER: Ja, das kann man so sagen. Der rheinische Karneval, oder wie wir in Mainz jetzt sagen, die Meenzer Fassenacht, hat in ihren vielfältigen Erscheinungsformen zahlreiche Anklänge an diese Zeit. Das fängt an bei den Uniformen der Mainzer Garden, die nicht ohne Grund teilweise an den Uniformen der französischen Truppen orientiert sind. Dann natürlich die Farben, Blau, Weiß, Rot, und bei den Mainzer Fastnachtsfarben kommt noch das Gelb hinzu, und die Mainzer Narrenkappe, können Sie jedes Jahr dann in der Fernsehsitzung bewundern, die orientiert sich in der Form ein wenig an diesen Kappen der Jakobiner. Zumindest wird das so erklärt. Und eine weitere interessante Beobachtung ist: Die Zahl 11 spielt ja in der Mainzer Fastnacht eine wichtige Rolle.

FINCK: Der Elferrat.

SPRENGER: Elferrat, ja, die Zahl 11. Und wenn man jetzt Égalité, Liberté, Fraternité mal buchstabiert, dann kommt man eben auch auf diese ELF. Also – Ein weiteres Momentum ist ganz, ganz wichtig in diesem Zusammenhang. Die Mainzer Fastnacht ist ja eine Saalfastnacht und eine Straßenfasnacht, beides zugleich. Und gerade in der Saalfasnacht spielen die Büttenreden eine wichtige Rolle. Die Büttenreden auch als Form der offen vorgetragenen, satirisch vorgetragenen politischen Kritik, und diese literarisch-politische Fastnacht, wie sie in Mainz gefeiert wird, geht eben auch zurück bis in diese Zeit.

FINCK: Jetzt sind wir beim Karneval oder bei der Fastnacht, wie Sie sagen. Wir wollen aber zurück zur Mainzer Republik. Bevor wir da jetzt tiefer eintauchen, wir haben schon eine Weile geredet, möchte ich Sie, Herr Sprenger, erst mal vorstellen. Kai Michael Sprenger ist Historiker und war nach seiner Promotion tätig, unter anderem, als Kulturreferent und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Rom. Lange Jahre war er Referatsleiter im Rheinland-Pfälzischen Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration. Und seit Oktober 2023 ist Herr Sprenger Gründungsdirektor der Bundesstiftung Orte der Deutschen Demokratie Geschichte. Das ist die Stiftung, mit der wir vom historycast Ende 2024 eine Kooperation eingegangen sind. Herr Sprenger, als wir uns vorab ein bisschen ausgetauscht haben über mögliche Themen für eine Folge, die wir gemeinsam bestreiten in unserer jetzt vierten historycast-Staffel zu „Demokratie und Migration“, da haben Sie sofort gesagt, ja, Mainzer Republik, unbedingt. Warum wollen Sie über die Mainzer Republik sprechen? – Eine Art Demokratieversuch, der ja nur ganz kurz währte, je nach Betrachtung drei maximal neun Monate, der aber vor allem ein Experiment war, das am Ende scheiterte.

SPRENGER: Die Mainzer Republik ist als demokratiehistorisches Thema vielleicht noch immer zu unbekannt, außer bei Spezialistinnen und Spezialisten. Zum anderen aber ist die Mainzer Republik ein, finde ich, sehr gutes Beispiel dafür, wie ambivalent Demokratiegeschichte ist. Demokratie ist ja immer ein Prozess, ist nie ein Zustand. Jede Generation muss die Demokratie aus ihrer Sicht immer wieder neu verhandeln, neu erstreiten. Man kann sie erkämpfen, erringen, man kann sie aber auch wieder verlieren. Und wir leben in Zeiten, in denen wir dieses Bewusstsein, dass wir Demokratie auch wieder verlieren können, vielleicht immer wieder ein bisschen stärker schärfen müssen, dieses Bewusstsein. Und da können historische Ereignisse, historische Prozesse ein Stück weit eine Orientierung bieten. Ich möchte nicht sagen Blaupause. Die Mainzer Republik war, wie Franz Dumont das auch bezeichnet hat, ein Demokratieversuch. Das impliziert: Ein Versuch kann auch scheitern. Aber, ich glaube, jede Vergeblichkeit hat durchaus auch einen Nutzen, wenn man so möchte, nämlich in der Frage: Warum haben Menschen versucht, eine neue politische Kultur zu erreichen, auch wenn sie damit letztlich nicht auf Dauer Erfolg hatten? Und die Mainzer Republik ist ein schönes Beispiel dafür, wie in einer politischen Umbruchssituation eine neue politische Kultur nach den Grundsätzen der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, versucht wird, aber auch wie man an die Grenzen des Machbaren stößt, der Akzeptanz, der Umsetzbarkeit. Weil man mit seinen Programmen vielleicht nicht diese breiten Überzeugungen möglich macht, wie man sich das wünscht. Und vor allem auch, weil die politischen Rahmenbedingungen, da kommen wir noch drauf zu sprechen, Krieg, Belagerung, Besatzung, eben gar nicht dergestalt sind, dass diese Ideale alle in ihrer reinsten Form Verwirklichung finden können. Und ich glaube, wenn wir ehrlich sind und unsere Zeit ehrlich betrachten, schauen Sie nach Amerika aktuell, da sehen wir auch, wie demokratische Grundstrukturen eben auch in der alltäglichen, gelebten politischen Praxis nicht nur an ihre Grenzen stoßen können, sondern wo auch Grenzen überschritten werden, mittlerweile. Und die Mainzer Republik ist vielleicht ein Beispiel dafür, wie so etwas gelingen kann oder eben auch nicht gelingen kann.

Musikakzent

FINCK: Über das Scheitern und die Gründe für das Scheiten und was wir daraus lernen können, vielleicht, reden wir später noch. Ich würde jetzt gerne mal ein bisschen über die Chronologie sprechen, Herr Sprenger, und die zeitgeschichtlichen Hintergründe. Wir haben diese Folge aufgenommen in unsere Migrationsstaffel, weil wir gesagt haben, nicht nur Menschen wandern, sondern auch Ideen wandern, mit den Menschen. Wann begannen denn die Ideen von den Menschenrechten, von Volkssouveränität, von Partizipation aus Frankreich nach Deutschland zu wandern und warum gerade Mainz?

SPRENGER: Ja, im Kontext der sogenannten Aufklärung erreichen diese Ideen auch schon vor der Französischen Revolution die deutschen Lande, also auch Mainz. Mainz war ja eine Universitätsstadt, und in Mainz gab es Lesegesellschaften, in Mainz gab es Intellektuelle, in Mainz gab es kurfürstliche Beamte, die durchaus auch offen waren für diese neuen Ideen der Aufklärung. Und von daher ist das etwas, was jetzt nicht nur mit den Revolutionstruppen Mainz erreicht, sondern vorher schon einen Nährboden generiert hat, auf den dann diese revolutionären Ideen auch mit den französischen Truppen fallen konnten und sich entwickeln konnten.

FINCK: Aber ganz konkret wurde es, als die Truppen kamen. Das ist ja auch etwas, was immer vorgeworfen wurde: Es ging gar nicht so sehr um die Ideale, es ging den Franzosen vor allem darum, dass sie ihr Land erweitern konnten.

SPRENGER: Ja, ich glaube, am Anfang beides. Die Mainzer Republik, die muss man, und das hat Franz Dumont, ein wichtiger Historiker, der die Mainzer Republik sehr gründlich erforscht hat, schon getan – man muss die Mainzer Republik in verschiedene Phasen unterteilen. Und diese erste Phase, die ist im Grunde noch durchaus bemüht, diese neue politische Kultur im Sinne der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit umzusetzen.

FINCK: Wann war die ungefähr, diese erste Phase?

SPRENGER: Die erste Phase, kann man sagen, war von Oktober 1792 bis Ende des Jahres 1792. Vielleicht machen wir noch mal einen kleinen Sprung zurück, wie überhaupt die französischen Truppen hier an den Rhein kommen, weil – da spielt Mainz in gewisser Hinsicht als Starting Point eine gewisse Rolle. Die Franzosen hatten bereits am 20. April 1792 Kaiser Franz II. von Habsburg den Krieg erklärt. Und das bedeutete natürlich, dass die Fürsten sich irgendwie dazu verhalten mussten, wie sie jetzt mit dieser Kriegserklärung umgehen. Und es kam im Juli 1792, ausgerechnet in Mainz, in der Mainzer Favorite, zu einem Fürstenkongress, auf dem diese Niederschlagung der Französischen Revolution beschlossen wurde, und es wurden dann Truppen der deutschen Fürsten nach Frankreich geschickt. Da kam es zu dieser berühmten Kanonade von Valmy. Goethe war Zeitzeuge, hat das beschrieben, und er hat ja Recht behalten, als er sagte, „Von hier und heute wird eine neue Zeit ausgehen, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ Und die Franzosen drehen den Spieß dann um, die marschieren dann eben ins Reich ein, und von der Festung Landau, von der französischen Festung Landau, arbeiten die sich langsam den Rhein hoch, beziehungsweise runter, also flussabwärts, und erreichen Speyer, Worms, und im Oktober stehen sie vor Mainz. Und der General, der befehlshabende General Custine, macht das sehr geschickt. Er suggeriert, dass er mit einem viel größeren Heer angerückt ist, als er tatsächlich hat, und, ich kürze das ab, Mainz kapituliert kampflos. Auch deshalb, weil der Erzbischof mit der Staatskasse und einzelnen Beamten seines Hofes bereits vorher nach Aschaffenburg geflohen war. Es gibt einen Bericht, da wird erwähnt, dass die erzbischöfliche Kutsche, die außen mit den erzbischöflichen Wappen geziert war, dass man vorher dieses Wappen abgekratzt habe. Und jetzt stehen die Franzosen in Mainz, im Oktober, ziehen in Mainz ein, und hier zeigt sich jetzt eben, dass diese Ideen der Französischen Revolution durchaus schon Freunde in Mainz hatten, die die Franzosen enthusiastisch empfangen. Und bereits zwei Tage nach Einmarsch der Franzosen wird in Mainz ein sogenannter Jakobinerclub gegründet, ein „Club der Freunde der Freiheit und Gleichheit“, die eben in verschiedenen Sitzungen und Reden diese Ideale propagieren.

FINCK: Jetzt sind wir Oktober 1792, was passiert denn da? Wenn Sie sagen, es war eine Phase, in der die Ideale noch auf große Begeisterung stießen – hat sich direkt was geändert im Alltag, in der Verwaltung, in der Gesetzgebung? Wie merkten die Leute, außer dass der Freiheitsbaum da war und die Leute mit der Mütze rumliefen – woran merkten sie, dass da jetzt ein neuer Wind wehte?

SPRENGER: Zunächst muss man sich vorstellen, dass durch die Präsenz von nahezu 20.000 Franzosen in der Stadt natürlich mehr als merkbar war, dass jetzt hier eine andere Zeit anbrach.

FINCK: Das kann ja auch als Besatzung verstanden werden und noch gar nicht positiv.

SPRENGER: Ja, beides. Natürlich hat das konkret auch Auswirkungen auf den Alltag gehabt. Der Brot- und Fleischpreis ging natürlich in die Höhe, der Handel mit auswärtigen Partnern, Thema Rheinschifffahrt, war zum Teil eingeschränkt, die Wirte dagegen, die hatten Hochkonjunktur. Die haben sich natürlich gefreut über die Präsenz der französischen Soldaten. Und am Anfang haben die wohl auch noch ganz ordentlich gezahlt. In der zweiten Phase der Mainzer Republik, also ab der Jahreswende, ändert sich das dann, weil dann einfach die Bedrückungen, die durch den Kriegszustand sich mehren, die werden dann höher.

FINCK: 20.000 Soldaten, wie viele Einwohner hatte Mainz damals?

SPRENGER: So circa 25.000, wobei durch den Anmarsch der Franzosen schon einige geflohen waren, mit dem Erzbischof. Man geht davon aus, dass ungefähr einige tausend Mainzer, ein Viertel bis ein Drittel ungefähr, vor Einmarsch der Franzosen bereits das Weite gesucht haben.

FINCK: Aber nochmal zurück zu der Frage, was änderte sich. Wie merkten die Leute, da weht ein neuer Wind, ein neuer Geist?

SPRENGER: Zum einen natürlich, dass die Franzosen in dieser ersten Phase auch unter den Mainzern Partner hatten, die diese neue politische Kultur propagiert haben. Ehemalige erzbischöfliche Beamte beispielsweise, Intellektuelle aus dem Umfeld der Universität, die versuchten jetzt, die Mainzerinnen und Mainzer zu überzeugen, dass diese neue Kultur die richtige ist. Also, General Custine, der in Mainz einmarschiert mit seinen Truppen, der propagiert am Anfang noch sehr dezidiert dieses Selbstbestimmungsrecht der Mainzer. Sie sollen freiwillig entscheiden, ob sie jetzt der neuen politischen Kultur anhängen möchten oder zurück zu Altem wollen. Das war natürlich sehr idealistisch, aber immerhin, in dieser ersten Phase kommt es im November zu einer Art Abstimmung, in der gefragt wird, wer für die neue Konstitution ist, das ist eine Art Verfassungsumfrage, so kann man das nennen. Am 14. bis zum 29.12. findet in Mainz und in 40 umliegenden Dörfern eine sogenannte Verfassungsumfrage statt. Also: Wer ist für die fränkische Konstitution? Und die Mehrheit, vor allem auf dem Land, sagt, ja …

FINCK: Die Mehrheit der Männer, müssen wir immer sagen.

SPRENGER: Die Mehrheit der Männer. Die Mehrheit der abstimmenden Männer bestätigt das, dass sie für diese fränkische Konstitution sind.

Musikakzent

FINCK: Herr Sprenger, haben Sie aus der ersten Phase mal einen Lebenslauf, dass wir uns etwas genauer vorstellen können, was für einen Einfluss tatsächlich jetzt diese neue Zeit hatte, und diese Besatzung?

SPRENGER: Ja, ich denke, greifbar wird es immer an einzelnen Personen, und ein interessantes Beispiel für diesen Enthusiasmus, gerade bei den Jüngeren, für diese neuen französischen Ideale, ist Friedrich Lehne. Friedrich Lehne ist 1771 geboren, er war Sohn eines Beamten, sein Vater stirbt sehr früh, und er kommt sehr, sehr früh, als Junge, nach Mainz zu seinem Onkel. Er studiert an der Mainzer Universität schöne Künste und schöne Wissenschaften und wird später Historiker. Und er ist einer, der schon sehr, sehr früh, auch in studentischen Zirkeln, sich mit diesen Idealen der Französischen Revolution beschäftigt, und zwar bereits bevor Custine mit seinen Truppen nach Mainz kommt. Als Custine mit seinen Truppen vor Mainz steht, ist er gerade auf einer Reise zu Verwandten. Er erfährt davon und kommt sofort zurück nach Mainz und tritt als jüngstes Mitglied in diesen sogenannten Mainzer Jakobinerclub ein und engagiert sich auch aktiv für diese Umsetzung dieser neuen politischen Ideale. Er schreibt Gedichte, schreibt Lieder, Texte, die eben diese neuen Ideale transportieren sollen. Unter anderem etwa das Lied des Freien Mannes, das Lied des Freien Mainzers, das Lied der Freien Wöllsteiner. Geschickterweise wurden diese Lieder dann eben auf Melodien gesungen, die bekannt waren, zum Beispiel der Marseillaise. Friedrich Lehne ist jemand, der dann auch später, im Dienst der Franzosen agiert. Er wird Sekretär eines französischen Commissaires ab Februar 1793 und ist somit im Kern auch der französischen Verwaltung der Mainzer Republik aktiv. Er muss natürlich später fliehen, als Mainz dann wieder rückerobert wird von den deutschen Truppen, von den Preußischen, Österreichischen und weiteren alliierten Verbündeten, nach Frankreich, nach Paris, später muss er im Elsass eine Zeit lang sein, Hagenau, kommt zurück nach Landau, und erst 1798, als Mainz dann wieder französisch geworden war, kommt er wieder nach Mainz, in seine Heimatstadt zurück. Er ist eine interessante Figur, weil man an ihm auch eine gewisse Kontinuität dieses revolutionären Engagements festmachen kann. Also, in den 20er Jahren, das vielleicht noch hier kurz in Klammern erwähnt, engagiert er sich für den Freiheitskampf der Griechen gegen die Osmanen, die Türken, und wird über dieses Engagement als Redakteur der Mainzer Zeitung, weil er da ein bisschen zu freizügige Texte publiziert, dann von dem Metternich‘schen System, so kann man sagen, später abgesetzt. Also er ist ein interessantes Beispiel auch für die Kontinuität revolutionärer Gedanken und revolutionären Engagements.

FINCK: Ein anderer bekannter Name ist Georg Forster. Wer war das?

SPRENGER: Georg Forster war kurfürstlicher Bibliothekar, aber er war, als er in Mainz die Stelle antritt, schon weltberühmt, kann man sagen, und zwar als Schriftsteller und als Naturforschender. Als junger Mann war er bei der Weltumseglung von James Cook mit dabei und hat später einen sehr großen Bekanntheitsgrad erlangt als Naturforscher, Ethnologe, vor allem Reiseschriftsteller. Georg Forster spielt in der Mainzer Republik natürlich eine wichtige Rolle. Manche sagen, er wird vielleicht manchmal auch etwas überschätzt. Er ist aber derjenige, der dann an der Jahreswende 1792, 1793 den Vorsitz im sogenannten Jakobinerclub übernimmt und der vor allem dann auch später im Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent eine Rolle spielt und der nach der Ausrufung des Freistaates, da kommen wir vielleicht gleich noch drauf zu sprechen, und der Konstituierung des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents, diese Reunionsbitte, also die Bitte dieses Freistaates, sich mit dem Mutterland Frankreich zu vereinigen, dann nach Paris bringt, überbringt, und dort dann eben sehr jung, kann man sagen, mit Ende 30 an einer Lungenentzündung in Paris stirbt.

FINCK: Gehen wir mal weiter in der Chronologie. Sie haben gerade schon Dumont erwähnt, den Historiker, der diese bekannte Einteilung in drei Phasen vorgenommen hat. Er nennt die zweite Phase eine „Diktatur der Demokratie“ oder spricht von einem „Despotismus der Freiheit“. Was passierte da? Ab Dezember, Januar bis März 1793. Was kippte und warum?

SPRENGER: Zunächst muss man sagen, dass sich die gesamten Rahmenbedingungen dergestalt ändern, dass bereits im Dezember 1792 die deutschen Truppen Frankfurt bereits wieder rückerobert hatten. Und das war natürlich auch in Mainz bekannt. Das heißt, die Angst, dass Mainz ein ähnliches Schicksal blühen könnte, die war relativ hoch. Und das kann man sich gut vorstellen, dass das natürlich bei Einzelnen, die vielleicht nicht hundert Prozent überzeugt waren, für eine gewisse Zurückhaltung sorgte. Was passiert mit uns? Was passiert, wenn wir uns jetzt zu stark für diese neuen Ideale engagieren und zu stark für eine Vereinigung mit Frankreich zu erkennen geben? Also, diese Skepsis, diese Zurückhaltung hat mit Sicherheit auch mit diesen grundsätzlichen politischen Rahmenbedingungen zu tun. Das macht es natürlich den neuen Machthabern schwer, diese ursprüngliche Idee, ihr sollt euch frei entscheiden für unsere Ideale, dann weiter fortzuführen. Und deswegen wandelt sich auch die Art und Weise, wie die französischen Machthaber und die von ihnen eingesetzten Verwalter, das sind ja meistens Deutsche, dieses Bekenntnis durchsetzen und umsetzen.

FINCK: Nämlich mit Zwang. Es wurde dann ein Eidzwang eingeführt.

SPRENGER: Also, es gab zwar Wahlen, aber wählen durfte nur derjenige, der zuvor diesen Eid auf diese neuen Ideale geleistet hat, und dieser Eidzwang konterkariert natürlich dieses Ideal einer freien Wahl. Dazu muss man auch sagen, dass die Versorgungslage zunehmend komplexer und schwieriger wurde und dieses Gesetz, das der Nationalkonvent am 15.12.1792 verabschiedet hatte, nämlich das in allen befreiten bzw. besetzten Gebieten, das Feudalsystem abgeschafft werden soll und dass eben das Kriegsziel auch sei, bis zum Rhein alles mit Frankreich zu vereinen, was Georg Forster im Übrigen auch unterstützte, diese Forderung – das macht die Sache dann natürlich schwierig.

FINCK: Die Wahlen fanden dann statt, im März, und wir wissen, die wurden zum ganz, ganz großen Teil boykottiert. Wie erklären Sie das?

SPRENGER: Also in dieser zweiten Phase der Mainzer Republik, Jahreswende 1792/93, war es so, dass bereits französische Kommissäre das Zepter übernahmen. Und das war schon eine andere Qualität. Und diese Wahlen, die sollten im Grunde dafür sorgen, dass dieser Freistaat dann auch später mit Frankreich reuniert werden sollte. Wählen durften ja ohnehin nur Männer über 21 Jahren, ausgenommen waren Dienstboten und Knechte, und Frauen durften natürlich auch nicht wählen.

FINCK: Ist ja auch interessant, dass die Dienstboten nicht durften!

SPRENGER: Ja, also sozusagen selbständige Männer über 21 Jahre. Und die konnten aber unabhängig von ihrer sozialen Stellung und ihrer finanziellen Mittel wählen. Aber zuvor mussten sie alle diesen Eid auf die demokratischen Grundsätze leisten. Und zwar: „Ich schwöre, treu zu sein dem Volke und den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit.“ Das war die Eidesformel. Das klingt ja eigentlich ganz gut, aber das hatte natürlich Konsequenzen. Und alle, die diesen Eid nicht leisteten, waren im Grunde von der Wahl ausgeschlossen beziehungsweise wurden zum Teil dann auch ausgewiesen. Und das erklärt vielleicht auch die Wahlbeteiligung in dieser zweiten Phase, wo einfach der Charakter des Verhältnisses zwischen den Franzosen und den Mainzern und den Personen der umliegenden Gemeinden sich etwas änderte. Das erklärt vielleicht diese gewisse Zurückhaltung, diese gewissen Skepsis. In Mainz waren es gerade mal acht Prozent, die sich an der Wahl beteiligten. In einzelnen rheinhessischen Gemeinden lag die Wahlbeteiligung höher, aber in Mainz 8 Prozent, das kann man nicht wirklich als besonders repräsentativ bezeichnen.

FINCK: Macht Freiheit Angst? Die Menschen haben ja vorher, wenn überhaupt, dann dem Kurfürsten oder einem König einen Eid geleistet, aber nicht so einem Begriff wie der Freiheit. Was haben die sich darunter vorgestellt?

SPRENGER Ja, diese neuen politischen Begriffe und diese neuen Rahmenbedingungen, die waren ja nicht erprobt. Ein Freiheitsbegriff, der ist natürlich nicht ganz neu. Es gab ja auch andere Freiheiten, wie städtische Freiheiten etc. Aber wie sich das in der politischen Praxis, in der alltäglichen Praxis dann gerieren sollte, das war natürlich weitgehend unbekannt und nicht eingeübt, nicht erprobt. Und das erklärt vielleicht auch die Zurückhaltung bei manchen. Aber ich glaube, der wohl wichtigste Faktor für diese Skepsis, gerade in dieser zweiten Phase, war zum einen die Art und Weise, wie die Franzosen diese neue Kultur jetzt durchsetzen wollten, also sozusagen der Zwang mit den Bajonetten zur Wahl, der Zwang zur Freiheit – ist ja schon ein Widerspruch in sich. Zum anderen aber auch natürlich das Bewusstsein, dass man sich in einer Art Kriegszustand befand und die alliierten Truppen, nachdem sie Frankfurt erobert hatten, jetzt als nächstes Mainz ins Visier nehmen würden, und wie das ausgehen würde, das war natürlich völlig offen.

Musikakzent

FINCK: Wir haben noch gar nicht über einen Punkt geredet: Der Rheinische Nationalkonvent, Herr Sprenger, was war das?

SPRENGER: Der Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent war, wenn man so möchte, das erste Parlament auf deutschem Boden, das nach demokratischen Grundsätzen gewählt war, auch wenn es natürlich kein gesamtdeutsches Parlament war. Dieser Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent war von sehr kurzer Dauer.

FINCK: Von wann bis wann?

SPRENGER: Er konstituierte sich am 17. März 1793. Und am 18. März wurde eben durch diesen Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent, das war die Idee, eine Art Freistaat deklariert, der eben doch einen größeren Landesstrich, und zwar von Landau bis Bingen, umfasste.

FINCK: Also nicht nur, das müssen wir vielleicht auch noch mal betonen, die Stadt Mainz, sondern es war schon sehr viel größer.

SPRENGER: Ganz genau, das war ein Gebiet mit 125 Orten aus Rhein-Hessen und der Pfalz, die in diesem Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent vertreten waren und die Deputierte, Delegierte, sozusagen Abgeordnete, in diesen Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent entsandten. Der war nur von ganz kurzer Dauer, wir haben gehört, 18. März wird ein Freistaat verkündet, und im Juli ist es schon wieder vorbei damit, und Georg Forster wird von diesem Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent, mit einigen anderen nach Paris entsandt und soll dort die Reunionsbitte mit Frankreich vortragen, die auch angenommen wird. Die militärische Wirklichkeit vor Ort in Mainz sieht dann schon anders aus. Aber interessant ist Folgendes. Grundlage unserer Demokratie ist unsere Verfassung. Und auch eine Verfassung hat eine Geschichte. Weimar, Paulskirche. Interessant ist, dass der Text, der im Grunde den Geist dieses Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents, vor allem dieses Freistaates, formuliert, dass der so ein bisschen verfassungsmäßig klingt. Da kommen so bemerkenswerte Sätze vor, wie: „Der ganze Strich Landes von Landau bis Bingen, welcher Deputierte“ – also Abgeordnete – „zu diesem Konvente schickt, soll von jetzt an einen freien, unabhängigen, unzertrennlichen Staat ausmachen, der gemeinschaftlichen, auf Freiheit und Gleichheit gegründeten Gesetzen gehorcht. Der einzige rechtmäßige Souverän dieses Staates, nämlich das freie Volk, erklärt durch die Stimme seiner Stellvertreter allen Zusammenhang mit dem Deutschen Kaiser und Reiche für aufgehoben.“ Bemerkenswerter Satz, finde ich, der sehr verfassungsmäßig klingt und der noch mal in starken Worten formuliert, worum es ging, nämlich die Aufhebung der alten politischen Ordnung und ein nach den Grundsätzen der Französischen Revolution organisierter Staat, der repräsentiert wird durch gewählte Abgeordnete in einem Parlament. Auch wenn das nicht von langer Dauer war, war trotzdem diese Art, Politik und Gesellschaft zu organisieren, etwas, was uns heute vielleicht viel näher ist, als alle Kurfürsten oder feudalen Herrscher davor.

FINCK: Mir stößt natürlich schon auf, dass immer von „Volk“ die Rede ist, aber nur die eine Hälfte des Volkes vorkommt und Frauen offenbar so wenig eine Rolle spielen, dass man gar nicht auf die Idee kommt, dass auch Frauen beteiligt werden könnten. Geschweige denn wählen. – Gab es überhaupt Frauen, die engagiert waren?

SPRENGER: Es gibt eine wunderbare Zeichnung, die eine Sitzung des Jakobinerclubs zeigt, und da sind zumindest bei den Gästen auch Frauen dabei. Also, zumindest haben sich einige dafür mit Sicherheit interessiert. Aber, schauen Sie mal, selbst die Paulskirchenverfassung, da war es mit dem Frauenwahlrecht auch noch nicht weit her. Wir wissen, dass bei den Sitzungen Frauen, zumindest oben auf der Empore, zu Gast waren, die dann teilweise verächtlich als die Parlamentsfliegen bezeichnet wurden, aber immerhin ein Interesse und ein Engagement.

FINCK: Als die „Parlamentsfliegen“?

SPRENGER: Ja. Das ist ein Ausdruck, der ist tatsächlich in den zeitgenössischen Quellen überliefert, die „Parlamentsfliegen“. Das habe ich jetzt mit Augenzwinkern und in Anführungszeichen gesetzt.

FINCK: Ja, und wir wissen, es hat dann noch weit über 100 Jahre gedauert, bis Frauen überhaupt wählen durften. Damit sind wir in unseren historycast gestartet, das war die erste Folge unserer ersten Staffel. Da ging es um das Frauenwahlrecht. Wann? In der Weimarer Republik, also wirklich erst nach Ende des Ersten Weltkrieges.

SPRENGER: Aber dieser Rheinisch-Deutsche Nationalkomment, um das noch vielleicht abzuschließen – Es gibt ein Bild, das einen Deputierten bei dem Nationalkonvent in Mainz zeigt, in seiner, möchte man sagen, Parlamentstracht, ja? Mit einer Art Frack und einer Schärpe, mit den Farben der französischen Trikolore. Also, die Würde dieses Amtes, die Würde, Abgeordneter zu sein, das brachte man auch rein schon äußerlich zum Ausdruck. Und dieser wichtige Satz, dass der einzige rechtmäßige Souverän dieses Freistaates das Volk, das freie Volk sein soll, das ist ja etwas, was wirklich grundlegend war, auch wenn es nicht wirklich umgesetzt wurde in dieser Zeit. Aber als Gedanke war es formuliert, als grundsätzliche Rahmenbedingung. Und das hat bis zum heutigen Tage für unsere politische Kultur, für unsere parlamentarische Demokratie nach wie vor als Idee und heutzutage zum Glück nicht nur als Idee, sondern als umgesetzte politische Wirklichkeit Bestand. Und von daher ist die Mainzer Republik bei all ihrer Widersprüchlichkeit durchaus ein wenn auch ambivalenter Ort der deutschen und vielleicht sogar auch der europäischen Demokratiegeschichte.

FINCK: Es ist interessant, dass Sie das erwähnen, mit der Würde des Abgeordneten und der Kleidung, die das auch zum Ausdruck bringen sollte. Wir haben auch wiederum eine Folge der ersten Staffel gehabt, da geht es um das ganze Gegenteil. Joschka Fischer, der mit seinen Turnschuhen im Landesparlament auftauchte und natürlich für einen Aufruhr sorgte, weil man sagte, er würde eben die Würde des Parlaments und des Volkes mit den Füßen treten, buchstäblich, als er da in Jeans und mit Turnschuhen ankam.

Musikakzent

FINCK: Zurück zur Mainzer Republik. Weiter in der Chronologie.

SPRENGER: Es ging so aus, dass Mainz zurückerobert wurde. Also ab März, April schließt sich allmählich der Belagerungsring um Mainz. Und Sie können sich vorstellen, dass in diesem Moment die Versorgungslage extrem schwierig wird. Es standen ca. 23.000 Franzosen in der Festung. Und um Mainz herum waren ungefähr doppelt so viele Preußen, Österreicher, Sachsen, Bayern und andere Reichstruppen versammelt. Die versuchen zunächst, Mainz abzuschneiden von allen Versorgungswegen. Das gelingt weitgehend, es kommt immer wieder zu Ausfällen, auch von französischen Truppen. Es gibt zahlreiche Tote bei diesen kleineren und größeren Ausfällen und Scharmützeln. Aber ab April wird dann die Stadt komplett eingeschlossen, und erst Ende Juni beginnt die Preußische Artillerie mit einem massiven Bombardement, das vor allem im Stadtzentrum und am Dom schwere Schäden anrichtete. Erstaunlicherweise, nach allem, was wir wissen, gibt es wenige Opfer unter der Zivilbevölkerung, man rechnet so ungefähr 20. Aber im Vorfeld dieses Bombardements kommt es eben zu Scharmützeln, bei denen etwa 5.000 Soldaten ihr Leben lassen müssen, circa 2.000 Franzosen, 3.000 Deutsche. Ab Mitte Juli wird in Mainz die Versorgungslage extrem schwierig, Munitionsvorräte, Lebensmittelvorräte werden knapp, und die Hoffnung, dass es noch eine Art französischen Entsatz gibt und Mainz von Franzosen befreit wird, die aus dem Elsass hätten kommen sollen, diese Hoffnung, die schwindet zunehmend. Und in diesem Moment beginnt der französische Festungskommandant dann Kapitulationsverhandlungen mit den Preußen. Interessant ist, dass einzelne dieser Jakobiner bis zum Schluss auch Durchhalteparolen propagieren. Und vielleicht lassen wir hier nochmal kurz Friedrich Lehne zu Wort kommen, den wir vorhin hatten, der beim Bombardement tatsächlich in Mainz ist und, wie wie er später in einem Brief schreibt, nur knapp dem Tod entrinnt. Der Raum, in dem er sich befindet, oben auf der Zitadelle, der Mainzer Zitadelle, wird getroffen von einer Granate, und er wird unter Schutt begraben und überlebt aber, leicht verletzt. Und Friedrich Lehne, der formuliert in dieser schwierigen Situation noch eine Art Durchhalte-Lied „Gesang der Belagerten Freien Deutschen in Mainz beim Bombardement der Stadt“. Natürlich – auf die Melodie der Marseillaise zu singen. – Der Text lautet folgendermaßen: „Ha! Sieh uns deiner Flammen spotten, Du Drache der Despotenwut! Spott deinen feilen Sklavenrotten, Mordbrennersucht ist euer Muth. Was soll uns dieser Kugelregen? Er ehret uns, und schändet euch. Nie wird der Freiheit Krieger feig, flammt auch der Abgrund ihm entgegen. Gerecht ist unser Krieg, drum kämpfen wir ihn gern. Weh euch! Der Sieg der Menschheit ist, Tyrannen, nicht mehr fern!“

FINCK: Starke Worte.

SPRENGER: Starke Worte, aber …

FINCK: Sie haben nichts genützt.

SPRENGER: Vielleicht in einem Punkt doch. Lehne formuliert hier etwas, was wir gar nicht hoch genug einschätzen können. Er sagt im Grunde, auch wenn unser Kampf für die Freiheit und für die Demokratie und für die neue Kultur vergebens ist, im Moment, so ist er langfristig doch nicht vergeblich gewesen. Diese Idee der Freiheit wird weiterleben. Das kann man fast als visionär bezeichnen, denn er hat ja Recht behalten. Auch mit der Rückeroberung der Stadt Mainz und dem Ende der sogenannten Mainzer Republik waren diese Ideen nicht völlig verschwunden auf einmal. Gerade Friedrich Lehne, auch in seiner Familie und anderen Mainzer – man kann bei einzelnen dieser Personen eine ganz interessante Kontinuität feststellen, die von der Mainzer Republik bis ins Paulskirchenparlament reicht. Bei Friedrich Lehne, der 1836 bereits stirbt, reicht es nicht ganz so weit. Er war auch zur Zeit des Hambacher Festes schwer krank. Aber sein Sohn wird später Rechtsanwalt und verteidigt 1850 Teilnehmer der 1848/49er Revolution. Friedrich Lehne selbst, 1822, engagiert sich für den Freiheitskampf der Griechen. Und es ist interessant, es wurde in der Forschung oft die Frage gestellt, ob es einen Weg von Hambach, Hambacher Fest, nach Frankfurt, in die Frankfurter Paulskirche gibt. Ja, den gibt es. Es gibt aber auch einen Weg vom Mainz über Hambach in die Paulskirche. Da lassen wir vielleicht noch mal den Blick auf einen weiteren der Mainzer Jakobiner lenken, und zwar Johann Adam von Itzstein. Der ist 1775 als vierzehntes Kind einer Mainzer Familie in Mainz geboren, und er begeistert sich ebenfalls wie Friedrich Lehne, er ist sogar noch jünger, als junger Mann für die Mainzer Jakobiner und die Mainzer Republik. 1832 ist er Redner auf dem Hambacher Fest und 1848/49 Paulskirchenabgeordneter. Er ist auch derjenige, der in den ‘30er und ‘40er Jahren in Hallgarten, im Rheingau, den sogenannten Hallgartenkreis konstituiert, in dem sich Parlamentarier, spätere Parlamentarier treffen aus den verschiedensten politischen Richtungen. Robert Blum ist dort zugegen, Hecker gastiert dort. Und dort üben die, in diesem Hallgartenkreis, so ein bisschen Vorparlament. Und diese Kontinuitäten, die sind bis auf wenige Ausnahmen, noch gar nicht so gut erforscht. Hier müsste man noch viel tiefer gründeln, und dann könnte man nämlich zeigen, was Lehne in seinem „Gesang der Freien Deutschen beim Bombardement der Stadt Mainz“ im Grunde formuliert hat, dass gewisse Dinge weiterleben, sich doch fortsetzen und gewisse Kontinuitäten, mit allen zwischenzeitlichen Brüchen, die es immer mal wieder gibt, eben doch sich von der Mainzer Republik bis in diese frühen demokratisch-liberalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts hinübergerettet haben.

FINCK: Das ist die eine Seite, aber ich spucke jetzt sozusagen mal ein bisschen in die Suppe und möchte mal die etwas provokante Frage stellen: Lernen wir aus der Mainzer Republik? Lernen wir nicht vor allen aus ihrem Scheitern? Nämlich dass sich demokratische Ideale eben nicht von oben und schon gar nicht mit Gewalt durchsetzen lassen. Was ja auch etwas wäre.

SPRENGER: Das zum einen ganz sicher. Demokratie findet ihre Grenzen natürlich an der Frage, in welchen Rahmenbedingungen sie sich vollzieht. Demokratien mit Gewalt zu erzwingen, ist ein Widerspruch in sich. Ich hatte vorhin gesagt, wir wissen nicht, wie unsere Demokratien in Ausnahmesituationen – nennen wir mal: Thema Kriegszustand – reagieren und vielleicht auch das, was wir als demokratische Grundrechte bezeichnen, worauf wir stolz sind, einschränken müssen. Das wissen wir nicht. Undenkbar ist das natürlich nicht. Aber Demokratie mit Gewalt durchzusetzen, wird nicht funktionieren.

FINCK: Menschen lassen sich nicht zu ihrem Glück zwingen. Das ist ja wieder sehr aktuell, wenn wir in Länder wie Ungarn, Russland, Venezuela schauen, alles Staaten, in denen die Demokratie bedroht, wenn nicht sogar zunichte gemacht ist. Können wir also, wenn wir sagen, mit Gewalt geht’s nicht – können wir nur zusehen, wenn Menschen sich entscheiden, frei entscheiden, sogar in Wahlen entscheiden, dass sie lieber von Autokraten regiert werden, als selber mitzubestimmen?

SPRENGER: Zusehen allein ist, glaube ich, keine Option. Ich glaube, man muss immer wieder werben, und man muss den Mehrwert und den Wert der Demokratie an sich immer wieder neu aushandeln. Das haben die in der Mainzer Republik, ein Friedrich Lehne und ein Itzstein haben das versucht, und das müssen wir heute auch immer wieder versuchen. Und zwar mit unseren Mitteln und mit unseren Vorstellungen. Wir werden natürlich sagen, dass mit Blick auf die damaligen Verhältnisse es demokratische Defizite gab, aus unserer Sicht. Frauen hatten kein Wahlrecht. Es gab den Eidzwang. Aber wer sagt denn, dass in 200 Jahren, wenn es unsere Demokratie hoffentlich noch gibt, nicht uns auch demokratische Defizite vorgeworfen werden? Wahlrecht, ab welchem Alter? Etc. Also, das ist immer wieder ein Aushandlungsprozess, und die Mainzer Republik, oder diese Phase der Mainzer Republik zeigt ganz schön, wie diese Aushandlungsprozesse gestaltet werden können, aber auch, wo sie an ihre Grenzen geraten. Aber dass diese grundsätzlichen Ideen weitergetragen werden und sich weiterentwickeln, das ist so etwas vielleicht wie der rote Faden, den wir von damals bis heute ziehen können. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit. Gewerbefreiheit. Religionsfreiheit. Und das sind teilweise Errungenschaften, die dann, das ist interessant, auch im 19. Jahrhundert vor allem linksrheinisch weiter bestehen, Code Civil als Stichwort, die sogenannten französischen Institutionen, die bestehen zum Teil linksrheinisch weiter, und das zeigt, dass es doch eine gewisse Kontinuität geben kann.

FINCK: Herr Sprenger, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

SPRENGER: Danke.

Musik

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte

Folge 8: Die Mainzer Republik. Deutschlands erster Demokratieversuch

Almut Finck im Gespräch mit Kai-Michael Sprenger

Eine Kooperation mit der Stiftung Orte der Deutschen Demokratiegeschichte

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