Heimat Europa. Das Ringen um Freizügigkeit in der EU

Shownotes

"Die europäische Integration ist eine historische Leistung, die wirklich sehr ungewöhnlich ist, weil sie so eine starke friedensschaffende Leistung vor allem darstellt.“, sagt die Historikerin Angelas Siebold im historycast. Sie hat die Geschichte des Schengen-Abkommens erforscht und kommt zu dem Ergebnis, dass nach langen und mühsamen Phasen der Annäherung und Grenzöffnung nun in Krisenzeiten wieder alte Sicherheits- und Schutzbedürfnisse der einzelnen europäischen Staaten dazu führen, sich neu abzuschotten. Dass die 29 Länder des Schengen-Raums die Freizügigkeit innerhalb Europas wieder einschränken. „Die europäische Integration ist nicht von Bestand, wenn man sich dafür nicht einsetzt.“ Grenzen, so Siebold, seien in der Geschichte nie statisch gewesen und müssten immer wieder neu ausgehandelt werden. Und die EU müsse dabei auch die Interessen der außereuropäischen Länder berücksichtigen. „Ich denke, dass eine Kooperationsnotwendigkeit besteht auch mit den Staaten, Gesellschaften, Gruppen, Akteuren, die hinter dieser Außengrenze existieren.“

Dr. Angela Siebold wurde in Heidelberg promoviert. Aus der Arbeit ist ein Buch entstanden mit dem Titel: „ZwischenGrenzen. Die Geschichte des Schengen-Raums aus deutschen, französischen und polnischen Perspektiven“.

Dr. Heiner Wember ist Radiojournalist und Historiker aus Münster.

Staffel 4, Folge 7 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]

Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.

Heimat Europa: Schengen, das Ringen um Freizügigkeit in der EU Vor der europäischen Einigung und dem Schengener Abkommen waren Grenzkontrollen, Visumspflichten und bürokratische Hürden beim Grenzübertritt Alltag. Die europäische Integration, insbesondere die Abschaffung der Binnengrenzen im Schengen-Raum, gilt als außergewöhnliche historische Leistung und als Motor für Frieden und Wohlstand.

Symbolische Grenzöffnung und die Vision eines vereinten Europas Bereits 1950, nur fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, setzten junge Menschen an der deutsch-französischen Grenze mit der symbolischen Zerstörung von Zollschranken ein Zeichen gegen nationale Abschottung. Sie forderten eine Europäische Union und ein gemeinsames Parlament – damals noch eine utopische Vorstellung. Dieses frühe Engagement zeigt, wie stark der Wunsch nach Versöhnung und Zukunft in Europa verankert war.

Grenzen: Mehr als nur Linien auf der Landkarte Grenzen sind nicht nur geografische, sondern auch soziale, kulturelle und rechtliche Konstrukte. Sie trennen nicht nur Staaten, sondern auch Menschen nach Herkunft, Sprache oder sozialem Status. Die Blockgrenze zwischen Ost und West während des Kalten Krieges erscheint im historischen Rückblick als unnatürlich statisch – tatsächlich sind Grenzen meist das Ergebnis von Aushandlungsprozessen und verändern sich im Laufe der Geschichte.

Von der Montanunion zur Europäischen Union Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) in den 1950er Jahren war ein entscheidender Schritt zur europäischen Einigung. Ziel war es, durch wirtschaftliche Verflechtung – insbesondere in der Rüstungsindustrie – Kontrolle und Sicherheit zu schaffen und einen erneuten Krieg zu verhindern. Die Montanunion gilt als „Keimzelle der Europäischen Union“. Es folgten weitere Integrationsschritte wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Euratom. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ermöglichte Synergieeffekte, Skaleneffekte und die Vereinheitlichung von Normen. Der gemeinsame Binnenmarkt mit heute rund 450 Millionen Konsumenten stärkte Europas Position im Welthandel und schuf Vorteile für Unternehmen und Arbeitnehmer. Gleichzeitig brachte die Harmonisierung zahlreiche Herausforderungen, da nationale Interessen, Sprachen und Kulturen berücksichtigt werden mussten.

Schengen: Symbol für grenzenloses Europa Der kleine Ort Schengen im Dreiländereck Deutschland-Frankreich-Benelux wurde 1985 zum Synonym für den Abbau der Grenzkontrollen in Europa. Das Schengener Abkommen ermöglichte erstmals weitreichende Freizügigkeit für Bürger und Waren in weiten Teilen Europas. Die Initiative dazu ging maßgeblich von Deutschland und Frankreich aus, insbesondere von den Staatschefs Helmut Kohl und François Mitterrand, die einen neuen Integrationsschritt wagten.

Fazit: Europäische Integration als fortwährender Prozess Die europäische Integration ist das Ergebnis von jahrzehntelangen Verhandlungen und Kompromissen. Sie brachte nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern vor allem Frieden und Stabilität auf einem Kontinent, der von Kriegen und Feindschaften geprägt war. Dennoch bleibt sie fragil und auf das Engagement der Bürger angewiesen. Denn durch zunehmende eigenmächtige Grenzkontrollen werden die Freizügigkeit und der Warenverkehr in der EU behindert.

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SIEBOLD: Vor der europäischen Einigung oder vor dem Schengener Abkommen war es in der Regel üblich, dass man nur an bestimmten Stellen die Grenze überschreiten darf, dass man eventuell auch ein Visum braucht, um überhaupt einreisen zu dürfen in ein anderes Land. Die europäische Integration ist eine historische Leistung, die wirklich sehr ungewöhnlich ist, weil sie so eine starke friedensschaffende Leistung vor allem darstellt. Und sie ist nicht von Bestand, wenn man sich dafür nicht einsetzt.

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 4: Demokratie und Migration: Wege und Stationen in der deutschen Geschichte

Folge 07: Heimat Europa. Das Ringen um Freizügigkeit in der EU

Heiner Wember im Gespräch mit Angela Siebold

WEMBER: Am 6. August 1950 fiel die erste Grenze in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Zumindest symbolisch. Lange vor Gründung der Europäischen Union zogen etwa 300 junge Menschen aus sieben europäischen Ländern nach St. Germanshof an der deutsch-französischen Grenze. Sie kamen von beiden Seiten und zerstörten und verbrannten symbolisch Zollschranken, deutsche und französische. Sie prangerten ein Zaudern und Zögern der Politiker an, sie verlangten eine Europäische Union und die Bildung eines europäischen Parlaments. Frau Siebold, war das fünf Jahre nach Kriegsende nicht alles utopisch?

SIEBOLD: Zunächst einmal würde ich sagen, es ist erstaunlich, dass in so kurzer Zeit, also wenn man bedenkt, dass noch viele Feindseligkeiten und Wunden offen waren, überhaupt Menschen auf die Idee kommen, dass eine Annäherung wünschenswert oder was Gutes sein könnte. Das ist das eine, was mir dazu einfällt. Das andere ist, dass es sich hauptsächlich um junge Menschen handelt, zeigt, da ist auch die Einschätzung: Es reicht jetzt mit den Feindseligkeiten, Gewalt und Krieg, und wir wollen für unsere Zukunft was anderes. Das finde ich eigentlich einen sehr schönen Gedanken.

WEMBER: Nun stelle ich Sie aber erst einmal vor. Die Historikerin Dr. Angela Siebold wurde in Heidelberg promoviert. In ihrer Dissertation beschäftigte sie sich genau mit unserem Thema. Aus der Arbeit ist ein Buch entstanden mit dem Titel: „ZwischenGrenzen. Die Geschichte des Schengen-Raums aus deutschen, französischen und polnischen Perspektiven“. Frau Siebold, was gibt es überhaupt für Grenzen? Zunächst mal den Gartenzaun.

SIEBOLD: Ja, das ist eine ganz wichtige Grenze, der Gartenzaun. Weil er natürlich das Innere, Private, Familiäre vielleicht auch zu der Außenwelt abgrenzt. Den meisten fallen aber trotzdem wahrscheinlich nationalstaatliche Grenzen ein als erstes, wenn sie über Grenzen nachdenken und.

WEMBER: Die Grenzen zwischen den Ländern.

SIEBOLD: Genau. Also in Europa eben zwischen den einzelnen Nationalstaaten, zwischen Frankreich und Deutschland, der Schweiz und Österreich. Das sind die Grenzen, über die wahrscheinlich auch am meisten gesprochen wird.

WEMBER: Es gibt allerdings auch Grenzen in Deutschland.

SIEBOLD: Ja, natürlich, rechtliche Grenzen.

WEMBER: Wenn ich als Lehrerin von Nordrhein-Westfalen nach Hessen gehen will, muss ich zusätzliche Prüfungen ablegen. Und so weiter und so fort. Es gibt unsichtbare Grenzen auch.

SIEBOLD: Ja, fast alle Grenzen sind unsichtbar, aber sehr wirkungsvoll. Es gibt auch soziale Grenzen, es gibt kulturelle Grenzen, es gibt Grenzen des Sagbaren in einem Diskurs. Das ich dann über Tabuisierung zum Beispiel zeigt. Und es gibt eben zum Thema Grenzen in Europa vielleicht eben auch nicht nur diese Grenzen zwischen europäischen Nationalstaaten, sondern auch die Grenzen zwischen dem Innen und dem Außen. Die gibt es ja bei jeder Grenzziehung. Und das zeigt sich bei Europa ganz besonders als Thema, weil die Frage, was eigentlich das Außen ist, was nicht zu Europa gehört, immer wieder im Laufe der Geschichte neu verhandelt wurde.

WEMBER: Lange Zeit war es klar, weil es die Blockgrenze war zwischen Ostblock und Westblock, wenn man so möchte, die ja dann nicht nur eine Grenze war, sondern auch Systeme komplett abschottete.

SIEBOLD: Genau. Und das zeigt allerdings die Geschichte, dass diese Blockgrenze, die wir oft vielleicht als Generation, die in der Zeit des Kalten Krieges oder danach aufgewachsen sind, vielleicht als natürlich wahrnehmen, weil sie lange Zeit unser Leben geprägt hat, etwas sehr Unnatürliches auch im Vergleich zum Rest der Geschichte war.

WEMBER: Das schien die Grenze zu sein, die am unüberwindlichsten auf Ewigkeit bleiben würde.

SIEBOLD: Und sehr statisch auch. Das ist eigentlich eher ungewöhnlich für die Geschichte, dass eine Grenze sich nicht bewegt. Eigentlich sind Grenzen auch immer Aushandlungsprozesse, die sich verändern.

WEMBER: Allerdings, das haben wir ja festgestellt. Lassen Sie uns einmal zurückgehen in die 50er Jahre Wie muss man sich das vorstellen? Wenn ich damals, als Deutscher nach Spanien reisen wollte. Wie muss man sich das vorstellen praktisch?

SIEBOLD: Ja, das ist ganz interessant, dass Sie das sagen. Das kennen junge Menschen gar nicht mehr. Ich habe einmal mit einer Heidelberger Studierendengruppe eine Exkursion gemacht an die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland und bin mit ihnen nicht über einen regulären Grenzübergang oder nicht mit dem Zug über die Grenze gefahren, sondern wir sind ausgestiegen und über die grüne Grenze nach Frankreich gelaufen. Und das war mir wichtig, das zu verdeutlichen, dass das eben nicht selbstverständlich ist. Vor der europäischen Einigung oder vor dem Schengener Abkommen war es in der Regel üblich, dass man nur an bestimmten Stellen die Grenze überschreiten darf, dass man eventuell auch ein Visum braucht, um überhaupt einreisen zu dürfen in ein anderes Land. Das bedeutet, dass man im Vorfeld bürokratische Hürden überwinden musste, überhaupt ein solches Visum zu erhalten. Und oft war zum Beispiel der Grenzübergang an bestimmte Uhrzeiten gekoppelt. Also der Grenzübergang war geöffnet oder geschlossen und gegebenenfalls musste man dann auch bis zum nächsten Tag warten, um die Grenze überschreiten zu dürfen.

WEMBER: Es war auch nicht nur eine Grenze für Menschen, sondern auch für Waren. Ich kann mich noch erinnern, die Reise in die Niederlande war nicht nur, weil es so schön am Meer dort war, sondern weil Kaffee und Zigaretten dort so billig waren.

SIEBOLD: Und wenn man sich dahin zurückversetzen möchte, dann kann man aus heutiger Zeit sich überlegen: Wie ist das, wenn ich zum Beispiel aus England etwas bestelle im Internet oder wenn ich ein Päckchen nach England verschicke, dann fallen oft Zollgebühren an, aufwendige Beschreibungen Was ist in dem Paket? Und die Kosten sind natürlich viel höher. Das sind alles Erleichterungen, an die wir uns gewöhnt haben, die aber alles andere als selbstverständlich sind.

WEMBER: Anfang der 50er Jahre, gab es eine Montanunion. Das war der erste Versuch. Der Historiker Christoph Driessen nennt das die Keimzelle der Europäischen Union.

SIEBOLD: Die Motivation war auch eine Motivation der Kontrolle, und zwar vor allem einer Kontrolle Deutschlands.

WEMBER: Das war die Rüstungsindustrie im Ruhrgebiet, Krupp usw., die man dann aus französischer Sicht kontrollieren wollte.

SIEBOLD: Genau, der Gedanke ist ja aus französischer Sicht häufiger aufgekommen nach dem Zweiten Weltkrieg und auch aus nachvollziehbaren Gründen, zu sagen: Wir versuchen, Deutschland, das ökonomisch sehr stark ist, an uns zu binden durch Kontrollmechanismen, um zu verhindern, dass eine Aggression vonseiten Deutschlands oder eine Übermacht Deutschlands noch einmal entstehen kann. Und das war eben gebunden an Kohle und Stahl. Später beim Euro gab es dann ähnliche Perspektiven.

WEMBER: Nach dem Ersten Weltkrieg hatte man versucht, die Deutschen klein zu halten. Jetzt wollte man sie ins Boot holen.

SIEBOLD: Genau. Also Verbindungen, Zusammenarbeit vielleicht auch zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil, aber auch vor allem zur Kontrolle des anderen.

WEMBER: Christoph Driessen nennt das „Mit der Montanunion wurde erstmals in der Geschichte der Versuch unternommen, den mörderischen Wettbewerb zwischen den europäischen Nationalstaaten durch übernationale Strukturen zu beenden.“ Es gab keinen Zoll mehr auf Stahlprodukte und gleichzeitig wurde es international geregelt.

SIEBOLD: Internationale oder übergeordnete Regelungen gab es natürlich außerhalb Europas schon. Also wenn man sich den Völkerbund anschaut und die Vereinten Nationen, das sind ja auch Versuche, in einer zunehmend sich ausdifferenzierenden, globalisierenden Welt Kommunikation herzustellen, Verbindlichkeiten zu schaffen, Regeln zu schaffen. Und das Äquivalent, das europäische Äquivalent dazu war eben das der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl oder Montanunion, der Römischen Verträge, gemeinsames Dach zu konstruieren für den europäischen Kontinent.

WEMBER: Es gab dann europäische Gemeinschaften, einmal die Montanunion, später kam Euratom dazu. Dahinter steckte der Glaube, dass man mit der Atomkraft alle Probleme lösen könnte. Und dann gab es die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG. Warum ist das wirtschaftliche Zusammenwachsen für Europa so wichtig gewesen? Es gibt ja so Synergieeffekte einmal zwischen den Unternehmen, die dann zusammenarbeiten können, und die sogenannten Skaleneffekte. Wenn ich einen VW Käfer bauen wollte, musste er dann in jedem Land wieder ein bisschen anders aussehen. Und im Binnenmarkt ist es dann so, dass es einheitliche Normen gibt.

SIEBOLD: Genau. Also die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa hat natürlich neben diesem Kontrollaspekt eine Erweiterung der eigenen Marktanteile, Handels- oder Exportmöglichkeiten unter vereinfachten Bedingungen. Das heißt, die Regeln, die gelten, für Unternehmen, später ja auch für Arbeitnehmerinnen, die sind ähnlich oder teilweise sogar gleich. Und damit ist eben eine grenzübergreifende ökonomische Entwicklung. Arbeitsmarktentwicklung, all diese Themen, deutlich leichter. Und das ist natürlich, wenn man auf die Welt schaut, heute ein ganz wichtiger Aspekt. Wenn man Europa als relevante Macht in der Welt betrachten möchte, dann ist natürlich diese Vereinzelung, die sonst die Alternative gewesen wäre, nationalstaatliche Vereinzelung. keine Lösung, sondern ein gemeinsamer Zusammenschluss, der dann auch Einfluss in der Welt bedeuten kann. Gleichzeitig hat der Binnenmarkt als Effekt auch einen gewissen Protektionismus nach außen, also eine Regelung, die innen gegenseitig stärkt und dann eben auch gemeinsam davor schützen kann, dass globale Einflüsse den europäischen Markt schwächen könnten.

WEMBER: Wenn man einen Markt hat mit 450 Millionen Konsumenten, dann ist das auch weltpolitisch für den Handel eine ziemliche Größe.

SIEBOLD: Ja, größer auf jeden Fall als 19 mal 50 oder 30 oder 6 Millionen oder wie groß auch die europäischen Nationalstaaten sind. Ja.

WEMBER: Da kann man auch Zollpolitik mit betreiben. Wenn es darauf ankommt.

SIEBOLD: Könnte man ja.

SIEBOLD: Dieser Harmonisierungsprozess ist eben sehr komplex, sehr kompliziert und immer wieder auch im Widerspruch mit ganz vielen verschiedenen Partikularinteressen in der Wirtschaft, also auf wirtschaftlicher Ebene, auf politischer, gesellschaftlicher Ebene und dann noch in den verschiedenen Ländern. Und dadurch wird Europa oder ist oft sehr komplex und kompliziert.

WEMBER: 27 Länder, 24 Sprachen.

SIEBOLD: Ja, was auch was Schönes ist, natürlich. Also Europa als Vielfalt zu begreifen. Es gab ja lange auch mal diese Formulierung Einheit in der Vielfalt- Also das nicht gleich zu machen, ist natürlich auch wichtig für die europäische Identität und Kultur, aber gleichzeitig die Welt nicht komplexer, komplizierter zu machen und damit dann auch wieder den Austausch und den Kontakt zu verhindern durch solche zu ausdifferenzierten Regelungen. Ich glaube, da immer die richtige Waage zu finden, die richtige Balance zu finden, das ist die große Herausforderung.

WEMBER: Wenn aber die Wirtschaft vereinheitlicht werden soll, müssen auch irgendwann die Grenzen fallen. Dass wir Freiheit haben beim Reiseverkehr, beim Arbeitsverkehr, Niederlassungsfreiheit usw. Damit kommen wir zu unserem eigentlichen Thema Wo liegt eigentlich Schengen?

SIEBOLD: Schengen liegt im Dreiländereck zwischen Deutschland, Frankreich und den Beneluxstaaten. Also symbolträchtig, ein kleiner Ort, an dem das grenzenlose Europa geboren wurde, erschaffen wurde.

WEMBER: Hat nur 5000 Einwohner, gut 5000, ganz klein. Und alle Beteiligten damals waren dabei: Deutschland, Frankreich und dann die Beneluxstaaten mit Belgien als Vertretung, wenn man so will. Deswegen ein sehr symbolträchtiger Ort.

SIEBOLD: Genau. Aber symbolträchtig natürlich in mehrfacher Hinsicht. Denn Schengen ist jetzt das Symbol, der Name für europaweite Visa, Richtlinien-, Grenzkontrollabbau usw. Aber es ist ein zutiefst westlicher Ort, und ganz viele Teile Europas identifizieren sich nicht damit oder wissen vielleicht auch gar nicht, wo dieser Ort liegt.

WEMBER: Das konnte man 1985 aber auch noch nicht wissen, wie es kommen würde.

SIEBOLD: Genau. Und wenn man sich so in diese Zeit versetzt, gab es zwar diese Bestrebungen für den europäischen Binnenmarkt und auch so einen Wunsch voranzukommen in der europäischen Integration. Es gab aber gleichzeitig irgendwie diesen Stillstand. Da wurde von diesem Begriff der Eurosklerose gesprochen, also der europäische Prozess, der steckte irgendwie fest. Da passierte nicht mehr so viel. Die Demokratisierung war noch nicht so da, wie sie da sein sollte. Beteiligungsmöglichkeiten usw. Die Europäische Union selbst gab es ja noch gar nicht. Und gleichzeitig wusste man aber nicht, was noch kommen würde. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre.

WEMBER: Maggie Thatcher und Helmut Kohl haben sich ja sehr gefetzt, und sie immer mit ihrem No. no, wenn es wieder an Finanzen ging. Also von Utopie war da nicht viel zu spüren. Und da ist die Hälfte der Länder, 5 von 10 sind nach vorne geprescht und wollten was Neues probieren und auch ohne die anderen.

SIEBOLD: Genau genommen sind erst mal zwei Länder vorgeprescht, nämlich Frankreich und Deutschland. Und da auch ganz genau genommen eigentlich nicht zwei Länder, sondern zwei Personen, nämlich Francois Mitterrand und Helmut Kohl, die eigentlich, muss man sagen, unter Ausschluss jeglicher parlamentarischer Beteiligung, diesen Vorstoß 1984 schon gemacht haben und eine bestehende Idee, die von der Kommission der Europäischen Kommission schon geäußert worden war, eben die Grenzkontrollen zu erleichtern erst einmal, umzusetzen und in der Sache jetzt mal voranzugehen. Und man spricht ja manchmal auch von dem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Und das war ein schönes Beispiel, wie eigentlich zwei Personen, natürlich zwei Schlüsselpersonen in Europa zu dieser Zeit aber zwei Personen, sich zusammensetzen und sagen: Wir machen das jetzt und bringen die Sache mal voran. So könnte man es vielleicht positiv formulieren, neben all der Kritik.

WEMBER: Was haben die Franzosen sich dabei gedacht und was die Deutschen? Beziehungsweise in Person von Helmut Kohl und Francois Mitterrand.

SIEBOLD: Meine Vermutung ist doch, dass beide, die sich ja gut verstanden, eine gute Politik gemeinsam machen wollten, die auch sehr stark an Europa ausgerichtet war, gemeinsam ein Zeichen setzen wollten für einen neuen großen Schritt in die europäische Integration. Und zwar einen neuen Schritt, der wirklich insofern groß war, als dass er eben über diese rein wirtschaftliche Ebene hinausgehen sollte. Man muss bedenken, in dieser Zeit, auch der Anfangszeit des europäischen Parlamentarismus, also der ersten Wahlen zum Europäischen Parlament, aber gleichzeitig eben dieser rein ökonomischen Ausrichtung der europäischen Einigung, da war es jetzt einfach wichtig, auch hinsichtlich der Versöhnung, Annäherung, vielleicht auch zivilgesellschaftlichen Annäherung ein Zeichen zu setzen, dass die europäische Integration, das europäische Zusammenwachsen sichtbarer und auch erfahrbarer für die Bürgerinnen auch in Europa macht. Und was ist spürbarer, als eben einen solchen Grenzübergang zu übertreten, ohne kontrolliert zu werden?

WEMBER: Hinzu sollte irgendwann auch kommen eine Niederlassungsfreiheit. Was heißt das?

SIEBOLD: Das heißt im Grunde: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit, das sind alles Freiheiten, die für EU-BürgerInnen oder teilweise auch für BürgerInnen mit EU-Aufenthaltsstatus gedacht waren. Eben arbeiten und sich auch geschäftlich niederlassen zu dürfen in den unterschiedlichen Ländern der Europäischen Union oder damals Europäischen Gemeinschaften.

WEMBER: Ich kann leben und arbeiten, wo ich möchte in Europa.

SIEBOLD: Ja, das ist nicht selbstverständlich. Ich denke auch, dass diese Frage der Binnen-Arbeitsmigration in Europa eine ist, die oft unterschätzt wird. Wenn Sie eine Arbeitserlaubnis in den USA haben möchten, was das für einen Unterschied macht, wenn man nicht nur die Möglichkeit, sondern auch das Recht hat, in ein anderes Land einzureisen und dort zu arbeiten. Einfach nur, weil beide Länder in Europa oder in dieser gemeinsamen Union liegen.

WEMBER: Es hat dann 1985 nicht geklappt, weil: Es kam was dazwischen. Der Fall der Mauer?

SIEBOLD: Ja genau, der kam ja erst vier Jahre später dazwischen. Davor kam, würde ich sagen, noch der große Unwille, eigentlich dann doch der Länder, dieses Schengener Abkommen umzusetzen. Und zwar muss man bei Schengen allgemein sagen, dass auf der einen Seite viele dieses Symbol wollten der offenen Grenze, aber niemand auf keinen Fall eine offene Grenze haben wollte, weil die Ängste, die damit verbunden waren, doch massiv waren. Und die waren sehr unterschiedlich. Einfach Ängste vor Sicherheitsverlust. Dass man eine ungebremste, in irgendeiner Form kriminalisierte Grenzbewegung haben könnte, die dazu führt, dass eben die Diebstähle in den Grenzregionen sich erhöhen, dass eine nicht kontrollierbare Zuwanderung sich erhöht. All diese Bereiche, vor denen ein Staat vielleicht auch Angst hat, die Hoheit abzugeben, und dieser letztere Aspekt ist noch viel stärker in Frankreich der Fall gewesen. Die Vorstellung, dass über die eigenen Grenzen nicht vom eigenen Staat entschieden wird oder von der eigenen Regierung, sondern vielleicht sogar von anderen Staaten. Das war in der französischen Politik wirklich eine grauenhafte Vorstellung.

WEMBER: Sie sehen Verbindungen zwischen den Entwicklungen im Westen, auf der anderen Seite mit dem langsamen Erodieren des Ostblocks, wenn wir ihn immer so nennen wollen, gerade in Polen. Warum sehen Sie da Zusammenhänge?

SIEBOLD: Auf der einen Seite gibt es viele symbolische Zusammenhänge, denn Europa wird oft über den Begriff der Freiheit definiert. Und Freiheit war in dieser Zeit, in den 80er, frühen 90er Jahren definiert eigentlich durch zwei besondere Bewegungen: Einerseits die Öffnung der Grenzen oder den Abbau der Grenzkontrollen in Westeuropa und auf der anderen Seite die Demokratisierungsprozesse und Protestwellen in Mittel- und Osteuropa. Und beides fand gleichzeitig statt. Beides war unabhängig voneinander entstanden und gewachsen. Und das ist ja das, was auch Geschichte so spannend macht. Was eigentlich passiert, wenn zwei Prozesse, die nicht aufeinander abgestimmt waren, die auch nicht so geplant waren, vielleicht in Kombination miteinander, dann aufeinandertreffen und dadurch eine ganz neue Dynamik entsteht? Und das ist nämlich 1989 sehr deutlich sichtbar geworden. Denn nachdem 1985 dieses Schengener Abkommen unterzeichnet wurde, war ja das Ziel zu sagen: Wir schaffen diesen Abbau der Grenzkontrollen. Aber dafür muss noch ganz viel anderes geschaffen werden, die sogenannten Ausgleichsmaßnahmen. Also bei Schengen ist es ja so, dass es einerseits diesen Abbau der stationären Grenzkontrollen am Grenzübergang gibt. Und alles andere ist aber kein Wegfall von Kontrollen, sondern eine Aufnahme oder Entwicklung von neuen Kontrollen, die das kompensieren sollen oder ausgleichen sollen.

WEMBER: Dieses Informationssystem, das SIS heißt das Schengener Informationssystem.

SIEBOLD: Das ist eine Datenbank, in der eben Daten gesammelt werden sollen über legale oder vor allem illegale Grenzübertritte. Also Fragen auch der Digitalisierung hängen ja auch damit zusammen. Dann gibt es natürlich mobile Kontrollen.

WEMBER: Ich kenne es ja auch aus dem Polizeiruf, wo dann plötzlich die Deutschen in Polen.

SIEBOLD: Genau.

WEMBER: Verbrecher jagen und umgekehrt.

SIEBOLD: Genau. Und das ist natürlich ein ganz sensibles Thema. Können Sie sich vorstellen, alleine die Vorstellung in Polen oder in Frankreich, was das bedeutet, wenn Deutsche in Uniform dort präsent sind und Menschen verhaften, beispielsweise festhalten, dürfen die das? Was hat das für ein Bild? Welche Erinnerungen weckt das auch hinsichtlich der kriegerischen Auseinandersetzungen? Und diese Ausgleichsmaßnahmen, die mussten natürlich alle erst mal definiert und entwickelt werden. Und deswegen hat es so lange gedauert. Nach 85 ist erst mal gar nichts passiert. Und dann sollte eben im Dezember 1989 das zweite Schengener Abkommen, das sogenannte Schengener Durchführungsübereinkommen heißt das, unterzeichnet werden von den teilnehmenden Ländern oder Regierungen.

WEMBER: Der Blick auf Solidarnosc in Polen zum Beispiel: hat das auch irgendwas bewirkt in Westeuropa.

SIEBOLD: Grundsätzlich gab es schon eine Beobachtung aus westeuropäischer Perspektive, auf die Solidarnosc-Bewegung vor allem. Es gab auch viele Unterstützungen, viele Versuche, auch Kontakte herzustellen, beispielsweise vonseiten der Sozialdemokraten. Oder auch die Grüne Partei hatte auch Kontakte, beispielsweise zu zivilgesellschaftlichen Gruppen in Mittel- und Osteuropa. Aber insgesamt muss man sagen es gilt eigentlich immer die Regel: Der Osten schaut mehr auf den Westen als der Westen auf den Osten bis heute, und in dieser Zeit ganz besonders. Und das ist auch symptomatisch für die Geschichte der europäischen Einigung, dass sie sehr lange ausschließlich aus westlicher Perspektive wahrgenommen wurde. Und viele Probleme, Konflikte sind auch dadurch entstanden, dass dann ab 1989 der Westen den Osten doch sehr stark wahrnehmen musste aufgrund des weggefallenden Eisernen Vorhangs, der ja eine sehr sichere Außengrenze nach Osten hin war bis dahin.

WEMBER: Sicherer ging es nicht.

SIEBOLD: Genau.

WEMBER: Im Juni 1990 wurde dann Schengen II verabschiedet, also die Durchführungsverordnung, wie es denn nun konkret laufen sollte. Und 1995 trat es dann in Kraft. Da waren neben diesen fünf ursprünglichen Ländern noch zwei weitere direkt dabei: Spanien und Portugal. Und kurz darauf, zwei Jahre später, kam dann auch schon Österreich dazu, Italien auch dazu.

SIEBOLD: Ja, ich würde auch nicht sagen, dass zum Beispiel Italien nicht von Anfang an gerne dabei gewesen wäre, sondern dass bestimmte Dinge in dieser Kern-Schengengruppe Deutschland, Frankreich, Benelux erst einmal verhandelt wurden und dann nach und nach anderen zugestanden wurde.

WEMBER: Die durften dann mitmachen.

SIEBOLD: Genau. Italien durfte mitmachen, weil sie ja auch Gründungsland der europäischen Einigung insgesamt waren.

WEMBER: Römische Verträge.

SIEBOLD: Diese Diskussion war auch sehr stark von Vorurteilen geprägt. Also die Italiener, können die das überhaupt? Eine sichere Grenze aufbauen? Kann das sein, dass wir als Deutschland zulassen, dass in Sizilien unsere Grenze gesichert wird? Und ist das zuverlässig, was da passiert? Und später sind diese Stereotype dann in Hinsicht auf die Ostperspektive auch noch mal aufgetaucht.

WEMBER: Zum Beispiel, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder darauf bestand, dass die Übergangsfristen zu Polen besonders lange sein sollten, weil auch die Angst war, dass der Wegfall der Grenze zu Polen viel Kriminalität nach Deutschland bringen könnte.

SIEBOLD: Genau. Ich habe ja sehr viel zur medialen Berichterstattung gearbeitet und da sieht man ganz eindeutig in den Zeitungen und Magazinen, dass ist das dominierende Thema, also die Angst vor Kriminalität, vor polnischen Grenzgängern, die zum Beispiel nach Berlin kommen, dort stehlen und wieder zurück in ihr Land gehen und nicht behelligt werden. Und Aufbau von Schwarzmärkten, von Schwarzarbeit. Diese ganzen Themen, die wirklich sehr stark auch negativ behaftet waren mit nationalen Stereotypen und Vorurteilen. Und da haben es ja andere Länder anders gemacht. England zum Beispiel war eines der ersten Länder, das zum Beispiel die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Mittel- und Osteuropäer geöffnet hat. Das ist auch ein Grund, warum es beispielsweise in England lange so viele polnische HandwerkerInnen gab oder LKW-Fahrer. Und das hat sich durch den Brexit ja auch wieder geändert.

WEMBER: Da haben die Briten aber lange von profitiert.

SIEBOLD: Ja, natürlich. Und Deutschland hat sehr lange gebraucht, das auch zuzulassen. Und es war vielleicht auch ein strategischer Fehler, wenn man auf den Fachkräftemangel beispielsweise schaut. Wenn Unsicherheit entsteht oder wenn etwas, woran man sich gewöhnt hat, wegfällt wie so eine Grenze, Grenzkontrolle. Die Grenzen sind ja immer noch da. Dann entstehen Ängste und meistens sind das, wenn man sie historisch betrachtet, keine neuen Ängste, sondern das sind Muster, die über Generationen weitergetragen werden. Und da sind bestimmte Vorstellungen von einem Ost-West-Gefälle beispielsweise oder Nord-Süd-Gefälle auch wieder reaktiviert worden in diesem Sicherheitsdiskurs.

WEMBER: 1997 wurde dann der Vertrag von Amsterdam geschlossen. Da wurde Schengen zum Besitzstand in das EU-Recht integriert. Was heißt das?

SIEBOLD: Also daran sieht man mal wieder die auch Umständlichkeit und vielleicht auch Unnahbarkeit dieses europäischen Integrationsprozesses. Und das erklärt für mich auch teilweise, warum das Thema Europa von so wenigen auch verstanden oder nachvollzogen werden kann, weil diese Sprache auch so unzugänglich ist. Als Schengen gegründet wurde oder vereinbart, unterzeichnet wurde, gab es ja noch keine Europäische Union. Das heißt, es war ein bilaterales Abkommen zwischen verschiedenen Staaten auf Regierungsebene geschlossen. Und dieser Vertrag, der daraus entstanden ist, galt dann für alle, die diesen Vertrag unterzeichnet hatten. Und um zukünftig Schengen zu einem integrierten Teil der Europäischen Union zu machen, musste dann dieses Vertragswerk in die Regelungen der Europäischen Union integriert werden. Das ist im Prinzip das, was Amsterdam 1997 gemacht hat.

WEMBER: Das hieß im Umkehrschluss auch: Jeder, der in die EU wollte, musste Schengen akzeptieren.

SIEBOLD: Das hieß im Umkehrschluss, dass dies der Regelfall ist, dass man, wenn man Mitglied der Europäischen Union wird, auch Schengenmitglied wird. Wir sehen aber jetzt oder haben in den letzten Jahren eigentlich seit 2007 gesehen, dass es dann eben doch neue Mitglieder gab, die aber dann doch noch nicht Schengenmitglied wurden.

WEMBER: Ich war ganz erstaunt bei der Vorbereitung, dass Bulgarien und Rumänien erst seit dem 1. Januar 25 aufgenommen worden sind. Die mussten so lange noch an ihrer Außengrenze basteln, oder?

SIEBOLD: Genau. Und da gibt es einen ganz wichtigen Unterschied beim Schengener Abkommen zwischen dem Unterzeichnen des Abkommens oder des Beitritts zum Abkommen und dem Inkraftsetzen des Abkommens. Und das ist nämlich an Bedingungen geknüpft. Dass die Grenzkontrollen wirklich wegfallen, dafür muss ein Land nachweisen, dass es in der Lage ist, beispielsweise die Außengrenzen zu sichern. Und solange andere daran Zweifel haben, wird dann auch die Grenze zum eigenen Land oder zum näherliegenden Land, zum Schengenraum der Europäischen Union, die Grenzkontrolle wird dann noch nicht abgebaut.

WEMBER: Je weniger Grenzen in Europa, je stärker die Grenze außen in Europa.

SIEBOLD: Je weniger Grenzkontrollen in Europa, desto mehr Kontrollmaßnahmen insgesamt. Es gibt sogar Stimmen, die sagen, Schengen oder der Abbau der stationären Grenzkontrollen habe auch zur Rechtfertigung eines Aufbaus eines Kontrollsystems gedient, das man sonst hätte nicht umsetzen können. Also zum Beispiel Digitalisierungsprozesse. Der Austausch von Informationen zwischen den Staaten, diese grenzübergreifenden überschreitenden Verfolgungsmaßnahmen. Solche Maßnahmen wären vielleicht nicht durchsetzungsfähig gewesen, wenn man nicht diese stationären Grenzkontrollen abgebaut hätte. Und deswegen kann man auf jeden Fall schon mal sagen, das ist ja auch eine Sichtweise, die im Rechtspopulismus sehr stark vertreten ist, dass Europa unsicherer geworden sei aufgrund dieser wegfallenden Grenzkontrollen. Meine Einschätzung wäre eher: Die Kontrolle hat zugenommen, sie ist nur vielfältiger geworden auf verschiedenen Ebenen. Und keinesfalls kann man davon sprechen, dass in Europa nicht mehr kontrolliert wird.

WEMBER: Die Europäische Union hat heute 27 Mitglieder. Es gibt aber 29 Länder, die zum Schengenraum gehören, neben den EU-Ländern auch die Schweiz, Island und Norwegen. Irland ist nicht im Schengenraum. Wieso ist denn der Schengenraum so attraktiv für Länder, die selbst nicht mal Mitglied in der EU sind?

SIEBOLD: Ja, das hat verschiedene Gründe. Im Falle von Island und Norwegen ist der Grund der, dass es in Skandinavien schon vor dem Schengener Abkommen eine sogenannte Nordische Passunion gab. Das heißt, es gab schon verbindende Maßnahmen, die den Grenzübertritt innerhalb Skandinaviens einfacher gemacht haben. Und das sollte nicht aufgegeben werden. Bei Irland ist es so, dass Irland eben eine solche Common Travel Area mit Großbritannien hatte oder hat. Im Prinzip haben die sich dann für den anderen Weg entschieden, gemeinsam draußen zu bleiben, anstatt wie Skandinavien gemeinsam rein zu gehen, obwohl Norwegen nicht Teil der Europäischen Union ist. Ja, und die Schweiz? Die hat dann vielleicht auch irgendwann gemerkt, dass es von Nachteil ist, als einziges Land nicht am Binnenmarkt teilzunehmen, wenn man umringt ist von einem gemeinsamen Binnenmarkt.

WEMBER: Ab und zu werden die Grenzen wieder geschlossen. Wann ist das denn vorgesehen nach dem Schengener Abkommen.

SIEBOLD: Ich spreche mal nicht so gerne von Öffnung der Grenze oder Schließung der Grenze, oder Wegfall der Grenzen, weil ja die Grenzen da sind und auch weiterhin Gültigkeit haben, aber eben die Art der Kontrolle sich verändert, je nachdem welcher Zeitraum oder welcher Zeitpunkt da relevant ist. Und das ist eben bei diesen beim Schengener Abkommen die Möglichkeit. Eine Möglichkeit, die sich die Staaten vorbehalten haben, ist, dass sie in besonderen Situationen, in denen ich habe nicht mehr die genaue wörtliche Formulierung im Kopf, aber in denen.

WEMBER: Die eine schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit, dann darf 30 Tage lang geschlossen werden.

SIEBOLD: Wenn die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit gefährdet sind. Gesagt wurde: punktuell. Es gibt ein Ereignis, da ist eine besondere Gefährdungslage, wie zum Beispiel bei einem internationalen Fußballturnier, das vielleicht sogar grenzübergreifend organisiert wird, oder bei wichtigen G7, G8 Gipfeln oder anderen internationalen Veranstaltungen, die auch eine sicherheitsrelevante Bedeutung haben. Und danach müssen aber diese stationären Grenzkontrollen wieder abgebaut werden, um zu dem Normalzustand des gemeinsamen Schengenraums zu kommen. Und das ist eben etwas, was jetzt gerade im Laufe des letzten Jahres vor allem oder in den letzten zwei Jahren sehr stark auf den Prüfstand gestellt wird. Die Frage: ab wann existiert so eine Notlage oder besondere Gefährdung und wie lange darf man eigentlich dann diese Grenzkontrollen aufrechterhalten? Ich habe den Eindruck, dass aktuell also das Gesamtsystem Schengen in Frage gestellt wird. Also ich könnte jetzt nicht eine Prognose abgeben und sagen, das wird auf jeden Fall Bestand haben, sondern ich denke, es wird sich einiges ändern in den nächsten Jahren.

WEMBER: Geschichte ist ja nie vorherbestimmt.

SIEBOLD: Ja, und das zeigt auch für mich wieder mal, wie schwierig das ist als Zeitgenosse, Dinge, an die man sich gewöhnt hat, eben nicht als selbstverständlich wahrzunehmen und zu sehen. Die europäische Integration ist eine historische Leistung, die wirklich sehr ungewöhnlich ist, weil sie so eine starke friedensschaffende Leistung vor allem darstellt. Und sie ist nicht von Bestand, wenn man sich dafür nicht einsetzt.

WEMBER: Angela Merkel sprach im Jahr 2018 in Davos. Sie sagte dort wörtlich Wir waren unglaublich stolz, Freizügigkeit zu haben. Aber wir haben uns keine Gedanken darüber gemacht, wie wir unsere Außengrenzen schützen. Können Sie da was mit anfangen?

SIEBOLD: Meinte sie das in Bezug auf die damalige DDR noch?

WEMBER: Nein, das meinte sie in Bezug auf die sogenannte Flüchtlingskrise 2015/ 2016.

SIEBOLD: Also Angela Merkel hat ja eine sehr klare Position gehabt, was ihre Haltung zu Schengen und dem Schengenraum betrifft. Und sie hat ja zahlreiche Verhandlungen dann nach 2015 auch mit in die Wege geleitet, das System zu reformieren. Ich denke, dass eine Kooperationsnotwendigkeit besteht, auch mit den Staaten, Gesellschaften, Gruppen, Akteuren, die hinter dieser Außengrenze existieren. Die sogenannten Drittstaaten. sind eben auch Akteure und haben auch Einfluss. Und es wurde zu oft im Rahmen des Schengener Prozesses gemacht, intern Beschlüsse zu fassen und die nicht abzuwägen, abzustimmen mit den Anrainerstaaten des Schengenraums. Das betrifft sowohl die östlichen Regionen. Wenn wir uns Weißrussland, die Ukraine anschauen als auch die nordafrikanischen maghrebinischen Staaten beispielsweise. Und da werden ja dann immer wieder Systeme versucht zu etablieren, die das regeln können. Eines davon ist zum Beispiel das System der sogenannten Rückübernahmeabkommen, das mit solchen Staaten vereinbart wird. Migrantinnen, die aus diesem Staat einreisen, müssen zurückgenommen werden. Und dafür stellt die Europäische Union Leistungen, Unterstützung in Aussicht. Diese Systeme stoßen alle irgendwie an ihre Grenzen. Grenzen der Humanität teilweise, Grenzen der Handhabbarkeit und der Übersichtlichkeit und auch unterschiedlicher Interessen und Einflusssphären. Die Welt verändert sich, die Migrationsbewegungen verändern sich auf der Welt, und wir werden immer wieder als europäischer Raum definieren müssen: Wo endet unser Raum? Was macht dieses Ende aus und welche Grenzen setzen wir dort und welche Maßnahmen ergreifen wir?

WEMBER: Das Gift wirkt ja auch sehr stark innerhalb Europas, zwischen den Ländern. Die erste Krise war im Arabischen Frühling, als 20.000 Menschen über das Mittelmeer nach Italien kamen. Die Italiener wollten, dass andere EU-Staaten einen Teil dieser Geflüchteten übernehmen sollten, die sich aber geweigert haben. Das war so eine Politik von: Ich tue einfach so, als wenn es mich nichts angehen würde. Und sollen die anderen die Kastanien aus dem Feuer holen?

SIEBOLD: Diese Haltung, die spiegelt sich sehr stark in der deutschen Politik wieder in Bezug auf die, hauptsächlich Asylfrage. Diese Dublin-Regelung oder Dublin-Verordnung, so wie das eben heute immer wieder genannt wird als europäisches Asylsystem, hat ja seinen Ursprung auch im Schengener Abkommen, dass das Land, in das ein Drittstaatler einreist, zuständig ist für die Bearbeitung des Asylprozesses und eventuell auch zuständig ist für die Aufnahme dieser Personen, Und dieser Grundgedanke ist natürlich einer, der sehr stark von deutschen Interessen geleitet ist. Denn wir sehen heute, Deutschland ist umringt von EU-Staaten. Und wenn die Regelung immer so definiert ist, dass die Zuständigkeit für einen Geflüchteten oder für jemanden, der Asyl beantragt, bei dem Land liegt, in das diese als erstes einreist, dann ist das in Deutschland nie der Fall. Es sei denn, diese Person reist mit dem Flugzeug an und oder vielleicht noch mit dem Schiff, in Ausnahmefällen. Aber über die Landesgrenzen ist Deutschland quasi nie zuständig. Und das war natürlich ganz angenehm für die deutsche Politik, das so zu definieren. Und das überrascht nicht, dass einem das irgendwann vor die Füße fällt als auch ein Konflikt. Nämlich sobald die Staaten, die natürlich davon massiv betroffen sind, also vor allem Spanien, Italien, Griechenland, aber auch teilweise die osteuropäischen Grenzstaaten, wenn die sagen, wir machen das nicht mehr mit und das hat ja fast noch nie richtig funktioniert, dieses System, weil diese Staaten auch eben Gruppen dann durchgelassen haben, haben weiterreisen lassen, auch nach Deutschland, weil sie auch diese alleinige Zuständigkeit entweder nicht akzeptiert haben oder nicht stemmen konnten. Das ist jetzt wenig überraschend, dass dieses System zum Problem wird.

WEMBER: Das neue Dublin-Abkommen sieht vor, dass es ein gemeinsames Rückkehrsystem gibt, dass Asylverfahren an den Außengrenzen geben soll. Dass Frontex gestärkt wird, die der europäische Grenzschutz, und dass es ein Migrationsabkommen mit sogenannten Drittstaaten geben soll. Halten Sie das für die geeigneten Maßnahmen, um den Schengenraum zu schützen oder auch nicht?

SIEBOLD: Es ist schwierig, so ein komplexes System mit geeignet oder ungeeignet zu bewerten. Aktuell habe ich den Eindruck, dass diese Maßnahmen, die vorgeschlagen werden, etwas hilflos wirken. Denn das sind eigentlich alles keine neuen Maßnahmen, sondern Versuche, das, was nicht funktioniert hat, noch mal etwas umzulenken oder zu verstärken oder die Zuständigkeit noch mal neu zu definieren. Ich würde mir wünschen, dass der Aspekt der gemeinsamen Aushandlung gestärkt wird, also dass alle, die mitzuentscheiden haben, auch mit am Tisch sitzen und ihre Interessen äußern dürfen. Und das sind eben im Schengenraum die Staaten, die viel bereitstellen. Das sind aber auch die Staaten, die viele Außengrenzen haben. Es sind auch die Staaten, die an diesen Außengrenzen von außen auf Europa oder auf den Schengenraum schauen und dass dabei eben natürlich die Grundlagen der Humanität nicht außer Acht gelassen werden. Und mein letzter Wunsch wäre, um ein geeignetes Grenzregime in Europa zu definieren oder zu erhalten, dass eben auch der Abbau der Grenzkontrollen als Kernelement, als wichtigster wichtigstes Moment des Zusammenhalts auch von europäischen Bürgerinnen und dieses Gedankens der Freizügigkeit und der europäischen Freiheit, dass der aufrechterhalten und verteidigt wird. Und das ist ja leider aktuell nicht der Fall, sondern es ist eher so, dass eben diese Versuche, die eigenen Grenzen, die eigenen nationalen Grenzen wieder zu sichern, auch ein Ausdruck sind des Misstrauens gegenüber den europäischen Nachbarn, dass diese eben diese Sicherung der Außengrenzen nicht maßgeblich oder ausreichend hinbekämen. Und da würde ich mir wieder mehr inneren Zusammenhalt wünschen, weil ohne den geht das auch nicht, nach außen ein gutes System zu etablieren.

WEMBER: Und an Migrationsströme müssen wir uns auch gewöhnen.

SIEBOLD: Die Migrationsströme in der Welt werden auf jeden Fall nicht mehr abnehmen. Und es ist auch ein Trugschluss zu glauben, dass man Migration in irgendeiner Form beenden kann. Migration ist ein Kontinuum der Menschheitsgeschichte. Es gab immer Migration. Und jetzt ist es eben so, dass wir immer mehr sehen, dass Gewaltregime, klimatische Veränderungen, der Zuwachs der Weltbevölkerung eben auch immer mehr dazu führen, dass sich mehr Menschen auf den Weg machen werden. Und die Abschottung ist nie der beste Weg, sondern wünschenswert wäre natürlich eine programmatische gemeinsame Definition, welche Art von Migration wir eigentlich zulassen wollen und welche Möglichkeiten es gibt, die auch humanitär zu gestalten. Und man sieht eben in diesen ganzen Schengen-Prozess seit den 80er Jahren sehr stark, dass im Migrationsdiskurs eine sehr starke Kriminalisierung von Migration selbst stattgefunden hat. Also 2009 glaube ich, ist das Wort Flüchtlingsbekämpfung noch zum Unwort des Jahres gewählt worden. Heutzutage findet das kaum noch Erwähnung, wenn dieses Wort fällt oder kaum noch Kritik. Es wird ganz oft von illegaler Migration gesprochen. Dabei ist Migration zu großen Teilen auch legal. Es existiert dieser Trugschluss, der Versuch oder die Idee. Wenn man an den Grenzen kontrolliert und niemanden mehr reinlässt, ist niemand mehr illegal im Land. Das ist natürlich nicht der Fall, denn der Großteil der sogenannten illegalen Migrantinnen kommt legal in ein Land und reist aber nicht wieder aus, wenn die Person ausreisepflichtig wird. Das heißt, ein stationärer Grenzschutz würde nur sehr bedingt überhaupt verhindern, dass es sogenannte illegale Migrantinnen in einem Land gibt oder Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung. Also da wird sehr vieles vereinfacht dargestellt und etwas mehr Akzeptanz, dass eben Migration weiterhin ein globales Thema sein wird, wäre hilfreich.

WEMBER: Frau Siebold, vielen Dank.

SIEBOLD: Sehr gerne.

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 4: Demokratie und Migration: Wege und Stationen in der deutschen Geschichte

Folge 07: Heimat Europa. Das Ringen um Freizügigkeit in der EU

Heiner Wember im Gespräch mit Angela Siebold

Eine Kooperation mit der Stiftung Orte der Deutschen Demokratiegeschichte.

WEMBER: Wenn Sie sich mit dem Thema der gerade gehörten historycast-Folge noch weiter auseinandersetzen wollen: Hören Sie doch mal beim WDR-Zeitzeichen rein. Dort finden Sie eine Reihe von spannenden Sendungen zu ähnlichen Themen. Die Links dazu haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt.

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