Der Kopftuchstreit
Shownotes
"Frauen mit Kopftuch haben sich ihre Position in der Gesellschaft erkämpft", sagt Yasemin Karakaşoğlu. Sie war im Jahr 2003 die erste und einzige Gutachterin vor dem Bundesverfassungsgericht, die empirisch zu den Gründen für das Kopftuchtragen geforscht hatte. Solange Frauen in wenig qualifizierten Positionen arbeiteten, störte sich kaum jemand an ihren Kopftüchern. Doch Lehrerinnen mit Kopftuch? Das wurde in den 1990erJahren zum Politikum. Entsprechende Verbots-Gesetze der Länder wurden am Ende von Gerichten weitgehend aufgehoben. Karakaşoğlus Forschungserkenntnis: "Die Kopftuchträgerinnen verstehen sich als ein Teil der Vielfalt in Deutschland. Und so wie die Kinder vielfältig sind, sollten Lehrerinnen auch vielfältig sein. Und bieten damit einen Einblick, was alles möglich ist in der Verschiedenheit und in der Vielheit von Orientierungen und Vorstellungen." Einen ausgeprägten Missionsgedanken konnte Karakaşoğlu bei ihren Untersuchungen nicht feststellen. Erst dann könnte ein Verbot wegen "Störung des Schulfriedens" erlassen werden. Wenn religiöse Symbole verboten werden, dann muss es heute allerdings für alle gelten. Auch für Kreuze und die Kippa. Arbeitgeber müssen nachweisen, dass Kopftuchtragen im Einzelfall zu wirtschaftlichen Einbußen führt. "Heute können Frauen mit Kopftuch selbstbewusst in Positionen hineingehen." Allerdings beschreibt Karakaşoğlu auch die heftigen Auseinandersetzungen in der feministischen Szene um die Kopftuchfrage und spricht über die Argumente von Befürwortern eines Kopftuchverbotes.
Professorin Yasemin Karakaşoğlu ist Erziehungswissenschaftlerin. Sie leitet an der Universität Bremen den Arbeitsbereich Bildung in der Migrationsgesellschaft.
Dr. Heiner Wember ist Radiojournalist und Historiker aus Münster.
Staffel 4, Folge 5 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.
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KARAKAŞOĞLU: Wir haben im Grunde mit den Frauen, die ersten, die sich diesen Zugang erkämpft haben und die für andere die Türen geöffnet haben, dazu beigetragen, dass jetzt große Gruppen von Frauen, die ein Kopftuch tragen, sehr selbstbewusst in diese Positionen hineingehen, auch einen Rückhalt haben.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration: Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 6: Der Kopftuchstreit
Heiner Wember im Gespräch mit Yasemin Karakaşoğlu
WEMBER: Der so genannte Kopftuchstreit war ein Zeichen für gelungene Integration. Diese überraschende These vertritt der Dortmunder Soziologe Aladin El-Mafaalani. Seine Argumentation: solange Putzfrauen mit Kopftüchern arbeiteten, störte sich niemand daran. Erst als Studentinnen sie trugen, Lehrerinnen und Rechtsanwältinnen, begann die Reibung. Als sich gebildete muslimische Frauen beruflich einen Platz wie alle anderen nehmen wollten. Konflikte wie der Kopftuchstreit seien deshalb ein Zeichen für Fortschritt bei der Integration. Stimmen Sie zu, Frau Karakaşoğlu?
KARAKAŞOĞLU: Sie sind auf jeden Fall ein Zeichen dafür, dass, wie er sagt, Menschen sich den Platz in der Gesellschaft nehmen wollen, einfordern, Selbstbewusstsein dafür entwickelt haben, dass sie Rechte haben, die sie gegenüber der Gesellschaft auch einfordern. Und dass sie sich nicht auf die Plätze verweisen lassen, die man ihnen sozusagen zugesteht großmütig, und zwar die in den unteren Ebenen der sozialen Leiter oder der sozialen Schichtung. So gesehen ist das ein Zeichen für Veränderung in der Gesellschaft und für ein gestiegenes Bewusstsein für die eigenen Rechte und für die Selbstverständlichkeit gesellschaftlicher Teilhabe in Vielfalt. Ich würde allerdings den Begriff der Integration nicht gerne in diesem Zusammenhang nennen, weil gerade dieser Streit ein Zeichen dafür ist, wie sehr sich die Gesellschaft eigentlich dem Anliegen der Teilhabe gegenüber sperrt.
WEMBER: Teilhabe und Integration, das werden zwei Schlüsselbegriffe sein in diesem historycast. Und wir werden berichten über die Geschichte dieses sogenannten Kopftuchstreits und wie sie dann sich bis heute entwickelt hat. Zunächst möchte ich Sie aber gerne vorstellen. Professorin Yasemin Karakaşoğlu ist Erziehungswissenschaftlerin. Sie leitet an der Universität Bremen den Arbeitsbereich Bildung in der Migrationsgesellschaft. Frau Karakaşoğlu, dürften Sie als Muslimin in Ihren Vorlesungen ein Kopftuch tragen?
KARAKAŞOĞLU: Ja, davon gehe ich aus.
WEMBER: Sie haben es nie probiert.
KARAKAŞOĞLU: Ich habe es nicht probiert, weil ich kein Kopftuch trage.
WEMBER: Warum nicht? Sie sind aber gläubige Muslimin.
KARAKAŞOĞLU: Was heißt schon gläubig? Ich bin keine praktizierende Muslimin im Sinne der Gebote des Koran im Sinne einer der Buchreligionen, sondern ich habe sehr persönliche, individuelle Auslegungen meiner religiösen Orientierung, in die übrigens, weil meine Mutter Protestantin ist, was mein Name gar nicht vermuten lässt, aber meine Mutter ist Deutsche und Protestantin, bin ich in einem christlich-muslimischen Elternhaus aufgewachsen mit überhaupt keinen starken religiösen Einflüssen. Deswegen spielt es für mich in meinem Alltag keine große Rolle.
WEMBER: Das war ein Stichwort. Wir sollten zunächst einmal sprechen über einen religiösen Hintergrund des Kopftuches. Sie sind auch Turkologin. Was ist eine Turkologin?
KARAKAŞOĞLU: Das ist die Lehre von der Geschichte der Kultursprachen der Turkvölker. Was sich also nicht nur auf die Türkei, das heutige Kleinasien, die heutige Türkei bezieht, sondern eben die ganze Geschichte des Osmanischen Reiches, aber auch der Verbreitung der Turksprachen und Turkvölker im weiteren Gebiet von Asien.
WEMBER: Na ja, dann lassen Sie uns kurz über den Koran sprechen und eine vermeintliche Stelle, auf die sich dann viele Befürworter des Kopftuches ja auch beziehen. Ich habe das so gelesen, dass die Gattin des Propheten Mohammed beim Verlassen des Hauses einmal auf offener Straße unzüchtig belästigt worden sein soll. Heute würden wir sagen angemacht. Und dass es dann in der Sure 33, Vers 59 des Korans heißt. „O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollten etwas von ihrem Überwurf über sich herunterziehen. Das bewirkt eher, dass sie erkannt werden und dass sie nicht belästigt werden.“ Von Kopftuch spricht da niemand.
KARAKAŞOĞLU: Von Gewand war in einer anderen Übersetzung auch die Rede. Ein Stück des Gewandes über den Kopf ziehen oder über die Haare ziehen. Das ist die Unterteilung der Frauen der damaligen Zeit in die Ehrbaren, die sogenannten ehrbaren Frauen und die nicht ehrbaren Frauen, die darüber unterscheidbar gemacht werden sollten, dass die einen ihr Haupt bedecken, während die anderen das nicht tun, teilweise auch nicht tun durften. Das kennt man auch aus den mittelalterlichen christlichen Kontexten, in denen Frauen, die nicht anerkannt waren, sich gar nicht bedecken durften.
KARAKAŞOĞLU: Es ging darum, die Frauen zu unterscheiden in dem Status der Ehrbarkeit bzw der Nicht-Ehrbarkeit. Also sind sie Sklavinnen, sind sie Frauen, die frei sind? Sind es muslimische Frauen oder nichtmuslimische Frauen? Also ein Unterscheidungsmerkmal zwischen den verschiedenen Gruppen innerhalb der Gesellschaft, der Frauen innerhalb der Gesellschaft?
WEMBER: Eigentlich ein Schutz vor den Männern?
KARAKAŞOĞLU: Ja, so kann man es sehen. Also ein passiver Schutz vor Männern, also nicht von Männern belästigt zu werden auf der Straße. Was natürlich, wenn man diese Unterteilung in den Blick nimmt, zunächst einmal auch deutlich macht, dass eben nicht alle Frauen das Recht darauf haben, von Männern nicht belästigt zu werden. Das ist aber ein Mindset aus einer anderen Zeit, das man mit der heutigen Zeit natürlich nicht vergleichen kann. Es war zunächst einmal eine Verbesserung gegenüber der Situation, dass Frauen sozusagen Freiwild waren, auf der Straße von Männern angemacht zu werden, wie sie das gerade genannt haben.
WEMBER: Mohammed hatte offenbar ja auch einen Fortschritt gebracht, denn zuvor war es wahrscheinlich noch wesentlich düsterer, was die Rolle der Frauen anbetraf.
KARAKAŞOĞLU: In vielerlei Hinsicht, auch was das Erbrecht anbelangt. Die Frauen haben ein eigenes Erbrecht bekommen. Sie haben ein Mitbestimmungsrecht darüber bekommen, ob sie und wen sie heiraten wollen oder dürfen, bzw. auch das Recht, sich unter bestimmten Bedingungen scheiden zu lassen, das Recht gut versorgt zu sein, finanziell, aber auch sexuell einklagen zu dürfen, waren Verbesserungen.
WEMBER: Das heißt?
KARAKAŞOĞLU: Dass, wenn eine Frau heiratet, einen Ehemann hat, sie das Recht darauf hat, sexuelle Erfüllung in der Ehe zu erleben. Wenn der Ehemann nicht in der Lage ist, ihr das zu ermöglichen, hat sie die Begründung dafür, sich scheiden zu lassen.
WEMBER: Mohammed hat auch strikte Anweisungen für die Männer. Mohammed spricht zu den gläubigen Männern. „Sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham bewahren. Das ist lauterer für sie. Gott hat Kenntnis von dem, was sie machen.“ Gott sieht alles. Auch die Kerle, die die Frauen belästigen.
WEMBER: Schauen wir einmal nach Europa. Bei den Germanen war es so, dass Mädchen und jungen Frauen das Haar offen trugen, häufig Zöpfe hatten. Und verheiratete Germaninnen, die trugen dann ein Stofftuch oder einen langen Schleier über ihrem Haar. Das althochdeutsche Wort Wiba heißt so viel wie Verhüllung. Weib ist daraus entstanden, Weib in der ursprünglichen Bedeutung als vermählte Frau.
KARAKAŞOĞLU: Genau das sieht man ja auch heute noch in vielen Trachten. Dass da verschiedene Kopfbedeckungen im europäischen Raum und damit eben auch in Deutschland, verschiedene Kopfbedeckungen auf unterschiedlichen Status der Frauen, auch der Männer in der Gesellschaft hinweisen. Dann eine Haube, da kommt ja auch dieses unter die Haube kommen.
WEMBER: Das waren dann die Frauen, die verheiratet waren. Die waren unter der Haube.
KARAKAŞOĞLU: Genau, genau.
WEMBER: Kommen wir zum eigentlichen so genannten Kopftuchstreit. Der begann vor allen Dingen mit Fereshta Ludin, Deutschlehrerin mit afghanischen Wurzeln. Die hatte ein super Examen gemacht. 1998 wollte sie in Baden-Württemberg in den Schuldienst. Durfte sie nicht, weil sie ein Kopftuch tragen wollte und darauf bestand. Damit wollte sie, so sagte sie, ihre Aura bedecken. Es kam zu einem Gerichtsprozess. Sie zog vor Gericht. Ganz mutig. Das endete vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahr 2003. Und das Bundesverfassungsgericht zeigte eigentlich seine eigene Zerrissenheit. Das war so eine Art Alles-ist-möglich-Urteil. Danach durften Kopftücher in Schulen erlaubt werden, aber auch verboten werden. Ganz so, wie die einzelnen Bundesländer es wollten. Da aber eine gesetzliche Grundlage fehlte zu dem Zeitpunkt, musste Frau Ludin eingestellt werden. Und daraufhin gab es dann ganz viele sogenannte Kopftuchverbote in: Baden-Württemberg, Niedersachsen, Bayern, Berlin, Hessen und im Saarland. Für die öffentlichen Schulen und teilweise auch für den gesamten öffentlichen Dienst.
KARAKAŞOĞLU: Das kommt auf das Bundesland an, das stimmt. Damals gab es kaum oder so gut wie niemanden, der tatsächlich mit Kopftuch in der Schule schon als Lehrerin tätig gewesen wäre. Aber es gab einige junge Frauen, die schon an den Universitäten sichtbar wurden als kopftuchtragende Lehramtsstudentin. Das ist mir damals aufgefallen, als ich nach einem Thema für meine Dissertation gesucht habe. Und ich fand das sehr interessant, weil ich vorhergesehen habe, dass das zu einem Thema werden würde, zu einem Thema, das problematisiert werden würde. Ob die Neutralität damit gewährleistet sein könnte, wenn man so sichtbar sich als Angehörige einer Religion auch präsentiert in der Schule und vor allen Dingen einer Religion, die ja mit sehr vielen Stereotypen, mit sehr vielen Vorannahmen verbunden ist und damals noch oder genauso stark wie heute, da hat sich nicht sehr viel geändert in der Vorstellung, dass der Islam eigentlich eine Religion sei, die sich nicht mit dem Grundgesetz per se würde vereinbaren lassen, mit der Würde der Frau und der Gleichberechtigung und dergleichen.
WEMBER: Was war denn damals das Ergebnis Ihrer Dissertation?
KARAKAŞOĞLU: Ja, das Ergebnis dieser Dissertation war, dass es sehr unterschiedliche Gründe dafür gab, warum junge Frauen sich entscheiden, ein Kopftuch zu tragen. Dass es, anders als die damalig sehr weit verbreitete Annahme, nicht so war, dass die, vor allem Väter, ihnen das aufoktroyiert würden, sie zwingen würden, das Kopftuch zu tragen, Sondern da waren viele junge Frauen, ein Teil sagte, dass sie darüber zum Ausdruck bringen möchten, dass sie sich dem Islam in positiver Weise zugehörig fühlen, dass das für sie ein großer Wert ist, dem Islam anzugehören und das nach außen nicht verstecken zu wollen, sondern sichtbar sein zu wollen mit ihrer Religionszugehörigkeit, um damit zum Beispiel auch ein lebendiges Beispiel dafür zu sein, dass man es als muslimische Frau, das wurde oft so formuliert, in dieser Gesellschaft auch zu etwas bringen kann, dass man gesellschaftlich in prestigereichen Positionen landen kann. Dass man als Studentin zunächst einmal auf Lehramt studieren kann und da erfolgreich sein kann, als muslimische Frau erfolgreich zu sein und das auch nach außen sichtbar zu dokumentieren.
WEMBER: Die Konrad Adenauer Stiftung, hatte ja auch eine Untersuchung gestartet unter über 300 muslimischen jungen Frauen, die eigentlich zu demselben Ergebnis kamen, das fast alles freiwillig trugen und nicht dazu gezwungen wurden.
KARAKAŞOĞLU: Das andere waren tatsächlich auch in der Familie Aufgewachsene, mit der Selbstverständlichkeit des Kopftuchtragens und sahen überhaupt keine Veranlassung darin, diese Sozialisation, dieses Bekenntnis und auch diese Selbstverständlichkeit jetzt aufgeben zu müssen, weil sie in eine Sphäre vordringen mit dem Studium und dann auch mit der Position der Lehrerin in der Schule, an der bislang diese Erscheinungsform nicht selbstverständlich war.
WEMBER: Wir haben vorhin schon gesprochen über die Verschleierung, die Geschichte der Verschleierung. Lassen Sie uns noch mal kurz sprechen über die Geschichte der Entschleierung. Die gab es nämlich auch, zum Beispiel unter Atatürk. Die türkische Republik, die junge. Ein ausgesprochener Laizismus, wo jede Art von Verschleierung als reaktionär betrachtet wurde. In den muslimischen Teilrepubliken der Sowjetunion war es auch so, dass das Kopftuch dann verboten wurde. Auch in Algerien, als es noch unter französischer Herrschaft stand, gab es dort sogar regelrechte Zwangsentschleierungen. Das kam für gläubige Musliminnen einer Art symbolischer Vergewaltigung nahe, oder?
KARAKAŞOĞLU: Genau. Genau deswegen ist in Algerien auch der Schleier zum Symbol des Widerstands geworden. Gerade weil er durch die Kolonialmacht verboten war und weil damit ein Unterdrückungsinstrument geschaffen wurde.
WEMBER: Jetzt könnte man meinen, das war Schnee von gestern. Aber in China gab es 2017 ein Gesetz, das seitdem den Uiguren in der Provinz Xinjiang per Gesetz das Tragen von Kopftüchern im Land verbietet.
KARAKAŞOĞLU: Auch da wieder. Da geht es darum, Dominanz zum Ausdruck zu bringen, die Übermacht sozusagen deutlich werden zu lassen darin, dass man der Minderheit verbietet etwas, womit sie sich kulturell, womit sie sich religiös identifiziert, auch weiter praktizieren zu können, sich identifizieren zu können und damit auch das Recht auf Selbstbestimmung über den Körper, über die eigene religiöse Orientierung, über die kulturelle Geschichte und auch die Werte, die damit verbunden werden, den Menschen zu entreißen. Symbolisch, indem das Kopftuch zu einem Werkzeug der Mächtigen gemacht wird. In der Türkei übrigens unter Atatürk ist das Kopftuch tatsächlich genauso, wie Sie es vorhin formuliert haben, als Zeichen des Rückschritts oder des der fehlenden Zivilisation, der fehlenden Westorientierung gebrandmarkt worden, aber nicht, wie es häufig kolportiert wird, verboten worden. Zugleich ist aber trotzdem auch da die Macht, die Übermacht des Staates wirksam geworden darin, dass Frauen, die ein Kopftuch trugen, bis in die Achtzigerjahre hinein nicht in Schulen, Universitäten oder auch gehobene Positionen in der Gesellschaft einen Platz finden konnten, weil ihnen das verwehrt worden ist durch das Verbot des Kopftuches an bestimmten Orten.
WEMBER: Die türkische Soziologin Meyda Yegenoglu sagt dazu, dass auf die einst erzwungene Entschleierung nun eine bewusste, „Abschirmung gegen westliche Penetrationsfantasien“ stattfinde. Das ist aber ein harter Vorwurf. Westliche Penetrationsfantasien?
KARAKAŞOĞLU: Ja, das finde ich auch. Als Formulierung finde ich das sehr stark. Man kann sagen, dass mit der Bedeckung in unterschiedlicher Form, dass der Kopf bedeckt wird oder auch der ganze Körper bedeckt wird oder auch sogar das Gesicht oder Teile des Gesichts bedeckt werden, Frauen durchaus auch sich entziehen wollen, einer Perspektive des vollständigen Zugriffs auf den weiblichen Körper, wie er sich medial in westlichen Journalen, im Fernsehen, aber auch in den sozialen Medien präsentiert, in der Musik, in der Popkultur, wo der weibliche Körper ja sehr exponiert gemacht wird und auch Frauen auf das Sexuelle, auf die Reize ihres Körpers reduziert werden. Und da nun also das als Gegenmodell auch zu präsentieren, zu sagen: Diesem Übergriff auf den weiblichen Körper entziehen wir uns bewusst, indem wir ihn nicht mehr sichtbar machen.
WEMBER: Wir hatten schon über die erste Phase des sogenannten Kopftuchstreits gesprochen bis 2003. Dann fing das aber erst mal so richtig an, als nämlich die Ländergesetze kamen und in der politischen Diskussion stand, da kochte die Diskussion hoch. Da war die Rede von „Ein Quadratmeter Islam“ im Zusammenhang mit dem Kopftuch. Dann „Ein Stellvertreterstreit auf dem Kopf der Frauen“. Noch ein Zitat: „Entscheidend ist nicht, was auf dem Kopf, sondern was im Kopf ist“. 2004 gab es sogar eine regelrechte Kopftuchdemonstration in Berlin, so eine Art Kulturkampf. Interessant wurde es dann, als es einen neuen Fall gab: Eine Lehrerin und eine Sozialpädagogin in Nordrhein-Westfalen, die auch vor Gericht zogen. Und 2015 gab es ein neues Bundesverfassungsgerichtsurteil. Das sah etwas anders aus. Dort wurde nämlich das pauschale Kopftuchverbot verworfen, weil nicht mit der Religionsfreiheit vereinbar.
KARAKAŞOĞLU: Nun muss man sagen, ich komme noch mal zurück auf 2003. Weil Sie das vorhin so formuliert haben, dass das Gericht da unklar war. Es gab meine Studie. Darüber hinaus gab es nichts damals, was Einblicke gegeben hätte. Das Gericht hat sich solche Fragen gestellt wie: Welchen Einfluss haben offensichtlich am Körper getragene Symbole von Religiosität auf die Religionsfreiheit von Schülerinnen? Man spricht da ja von der aktiven und der passiven oder der positiven oder negativen Religionsfreiheit, die hier abgewogen werden muss. Dann wusste man nichts tatsächlich darüber, über die religiösen Orientierungen, die mit diesem Kopftuch verbunden sein könnten. Es gab so eine gesellschaftlich weit verbreitete Vorstellung, dass das per se ein Zeichen für Fundamentalismus ist. Immerhin haben sich die Bundesverfassungsrichter erst einmal die Frage gestellt, ob das denn so sein muss und haben sich dann anhand des Gutachtens, was ich damals verfassen durfte, dahingehend überzeugen lassen, dass es sehr unterschiedliche Gründe dafür geben kann, dass man ein Kopftuch trägt bzw. frau ein Kopftuch trägt und dass das vom Einzelfall abhängt, ob das mit dem Wunsch zu missionieren verbunden ist oder ob es sich um eine individuelle Haltung handelt, die losgelöst ist von der professionellen Orientierung als Pädagogin, als Lehrerin, die eben Unterricht vermittelt in Fächern und die erzieherisch tätig ist, ohne dass sie ihre religiösen Grundsätze zu ihren erzieherischen Grundsätzen machen würde. Und das konnte ich mit meiner Studie tatsächlich nachweisen, denn ich habe gezielt auch in die Richtung hin bei den Interviews nachgefragt: Was sind die erzieherischen Hintergründe, Vorstellungen, Orientierungen dieser jungen Frauen und welches Ziel haben sie, wenn Sie als Lehrerin in einer Klasse stehen, wo Kinder unterschiedlicher religiöser Orientierung sind? Und es ging Ihnen immer darum zu sagen: Wir sind ein Teil der Vielfalt in Deutschland. Und so wie die Kinder so vielfältig sind, sollten wir Lehrerinnen auch vielfältig sein. Und wir wären ja nicht alle im Kollegium mit einem Kopftuch, sondern wir wären eine oder mehrere von vielen anderen und bieten damit einen Einblick, was alles möglich ist in der Verschiedenheit und in der Vielheit von Orientierungen und Vorstellungen. Das haben sich die Richter damals in der Mehrheitsmeinung zu eigen gemacht. Es gab eine Minderheitsmeinung, die sehr dagegen war. Aber durchgesetzt hat sich in dieser Perspektive auf die individuelle Orientierung der Frau. Wo man nicht pauschal sagen kann, es ist das eine, oder das andere hat sich durchgesetzt. Und dann ist gesagt worden: Wenn Länder das nicht zulassen wollen, müssen sie Gesetze erlassen, die quasi sehr deutlich machen, dass alles, was mit religiösen Bekenntnissen zu tun hat, aus der Schule herausgehalten werden muss.
WEMBER: Gleiches Recht für alle: kein Kreuz, kein Kopftuch.
KARAKAŞOĞLU: Dann haben aber Länder, unter anderem auch Berlin, Gesetze erlassen, die sich sehr klar auf die islamische Kopfbedeckung konzentriert haben, also das Verbot einer bestimmten Form des religiösen Bekenntnisses und nicht allgemein. Und deswegen sind diese Urteile nachher noch mal wieder vorgenommen worden. Man musste sie noch mal auf Verfassungsrechtlichkeit prüfen und hat festgestellt: Diese unterschiedliche Bewertung eines christlichen Religionsbekenntnisses etwa durch ein Kreuz um den Hals oder einer Kippa auf dem Kopf eines jüdischen Lehrers und eines Kopftuches auf dem Kopf einer muslimischen Lehrerin ist nicht rechtens.
WEMBER: 2015 ging es aber noch einen Schritt weiter, weil doch auch dort daran festgehalten wurde, dass man nicht allgemein Kopftücher zum Beispiel und Kreuze verbieten darf, sondern nur, wenn eine hinreichend konkrete Gefahr gegeben sei.
KARAKAŞOĞLU: Das ist richtig. Ja, gut, dass Sie daran erinnern. Da ging es dann auch darum, dass es nicht jemanden unterstellt werden kann, dass er durch sein pures Erscheinungsbild den sogenannten Schulfrieden, ist auch ein ganz wichtiges Wort in diesem Zusammenhang, stören würde. Kein pauschaler Verdacht, sondern dass zunächst einmal ein Sachverhalt vorliegen müsse, der darauf hinweist, dass da tatsächlich der Schulfrieden bedroht ist. Und das muss man erst mal nachweisen. Oder frau oder Schule.
WEMBER: Was dazu führt, dass wir so gut wie keine Kopftuchverbote heute haben.
KARAKAŞOĞLU: Ja, die Schule hat die Nachweispflicht der Gefahr dieses Schulfriedensbruchs. Wir haben trotzdem recht wenige Lehrkräfte mit Kopftuch, weil erstens die Schulpraxis nicht immer dem folgt, was Gesetzeslage ist, weil es dann auch viele andere Begründungen gibt, die bei Einstellungsverfahren vorgebracht werden, um zu verhindern, dass Lehrerinnen mit Kopftuch eingestellt werden. So dass das generelle gesellschaftliche Klima in der Breite nicht da ist, um einen unaufgeregten Umgang mit dem Kopftuch auf dem Kopf der Lehrerin zu pflegen.
WEMBER: Das heißt, das Recht ist da, ein Kopftuch zu tragen, aber die Umsetzung ist praktisch gar nicht so einfach.
KARAKAŞOĞLU: Genau, weil, das kann ich aus Schulfortbildungen für Schulleiterinnen oder auch für ganze Kollegien sagen, die Sorge geäußert wird, dass durch ein Kopftuch der Lehrerinnen die Kopftücher bei den Schülerinnen zunehmen könnten. Und damit wird immer noch auch verbunden die Vorstellung, dass ein frauenfeindliches Gesellschaftsbild vermittelt wird, das die Mädchen nicht zu höherer Bildung angestiftet werden und zur Selbstständigkeit, zur Ausübung eines Berufes, was in einem Widerspruch zu der Tatsache steht, dass ja vor ihnen eine studierte, ausgebildete und kenntnisreiche Wissensvermittlerin steht. Diese Vorurteile, diese Stereotypen, die wir heute auch mit dem Begriff des antimuslimischen Rassismus fassen, das ist weiterhin sehr verbreitet und sorgt dafür, dass wir nach wie vor wenig Lehrkräfte, Frauen in Schulen haben, die ein Kopftuch tragen. Meine Beobachtung ist, es nimmt jetzt zu, weil der Lehrkräfte-Mangel quasi eklatant ist überall in Deutschland, in manchen Regionen noch stärker als in anderen, Aber überall macht er sich bemerkbar. Jetzt öffnen sich die Türen auch für diejenigen, die man früher nicht haben wollte, weil man schlicht und einfach in großer Not ist, qualifizierte Kräfte in den Klassen vor den Schülerinnen zu haben.
WEMBER: Dann gab es noch ein Gerichtsurteil, diesmal vom Europäischen Gerichtshof 2021. Da ging es um die Privatwirtschaft. Das war eine Verkaufsberaterin einer Drogeriemarktkette in Ansbach, die schon lange in dem Betrieb war und irgendwann sich entschlossen hat, Kopftuch zu tragen, gekündigt wurde und dann Recht bekam. Und zwar ähnlich wie dann im öffentlichen Dienst, dass zwar betriebliche Neutralitätspolitik verfolgt werden darf von den Unternehmen, dass aber dort auch ein „wirkliches Bedürfnis“ des Arbeitgebers nötig sei, zum Beispiel die Vermeidung von wirtschaftlichen Einbußen. Das ist ja heute auch schwer nachzuweisen, dass ein Kopftuch den Umsatz schmälert, also faktisch auch erlaubt.
KARAKAŞOĞLU: Inzwischen haben wir eine sehr viel aktivere Antidiskriminierungspolitik auch in Deutschland und eine gesetzliche Grundlage.
WEMBER: Spannend ist auch bei diesem ganzen sogenannten Kopftuchstreit, wie zerrissen die feministische Szene auch in Deutschland ist. Ich habe noch ein Zitat der deutschtürkischen Rechtsanwältin Seyran Ateş: „Es ist leicht, aus der Ferne und ohne eigene Betroffenheit das Kopftuch zu tolerieren. Für mich ist das jedoch keine Toleranz, sondern Ignoranz. Das Kopftuch und der Tschador symbolisieren in meinen Augen die Unterwerfung der Frau. Aber solange das Kopftuch fremdbestimmt, also vom Mann bestimmt ist, werde ich mich mit den Frauen solidarisieren, die endlich das Kopftuch oder den Tschador ablegen wollen.“
KARAKAŞOĞLU: Ja, das ist eine Perspektive von Seyran Ateş. Ich hatte ja 2005/2006 durchaus auch Dispute mit der Kollegin und mit anderen, die diese Positionen vertreten haben, auch mit Alice Schwarzer sehr öffentlich sogar in großen Zeitungen, weil mir unterstellt wurde, dass ich den Islamisten/ Islamistinnen, den islamischen Fundamentalisten dieser Welt nach dem Mund reden würde und die darin unterstützen, sozusagen die Gesellschaft zu unterwandern, während sie selber die Befreiung der Frau propagieren und unterstützen. Und das ist in diesem Zitat ja auch noch mal deutlich geworden. Ich hingegen sage, dass es - ich bleibe dabei - sehr viele unterschiedliche Gründe gibt, warum Frauen ein Kopftuch tragen und ich nicht von vornherein mit einer einzigen Perspektive an sie herantreten kann und ihnen auf den Kopf sozusagen zusagen muss, was meiner Meinung nach der Grund ist, warum sie sich so kleiden und nicht anders. Das ist nicht an mir, das zu beurteilen, und ich habe eben die Kenntnis darüber, dass diese vielfältigen Perspektiven und Gründe und eben auch die empirische Realität, dass Frauen, die Kopftücher tragen, sehr selbstbewusst, sehr für sich selbst einstehend in unterschiedlichsten Berufen als Unternehmerinnen, als Lehrerinnen, als Rechtsanwältinnen tätig sind in Deutschland in dieser Gesellschaft und nichts dafür spricht, dass dieses Kopftuch ein Hinderungsgrund für sie wäre, all diese Positionen und Rollen einzunehmen. Im Gegenteil: für sie selbst ist sehr, sehr normal und wichtig gleichzeitig, dass anerkannt wird, dass andere gesellschaftliche Strukturen vor allen Dingen den Aufstieg oder auch das Weiterkommen in Berufen erschweren, die für alle Frauen letzten Endes auch in Deutschland gelten. Es ist ja nicht so, als wenn jede Frau, die nicht Muslimin ist, in der Gesellschaft auf offene Türen und ohne Barrieren trifft, sondern wir haben nach wie vor den Gender Pay Gap in Deutschland. Wir haben nach wie vor das Problem, dass Frauen in bestimmten Positionen der Gesellschaft, sei es in der Wirtschaft oder in der Politik, in den Vorständen unterrepräsentiert sind. Und was hier aufgemacht wird, ist, so zu tun, als wenn auf der einen Seite die befreite Frau und die vollständig gleichberechtigte Frau stünde und auf der anderen Seite, dem Islam, die unterdrückte Frau. Und das ist eine Schwarz-Weiß-Zeichnung, die keinesfalls angemessen ist, nicht zutrifft und die auch verdecken hilft, was wir für Problematiken in dieser Gesellschaft mit der Gleichberechtigung der Frau insgesamt haben.
WEMBER: Da trifft ja das, was Cigdem Toprak sagt, wahrscheinlich auch Ihre Meinung. Die sagt nämlich die Journalistin Cigdem Toprak: Ein Minirock oder ein Kopftuch zu tragen bedeutet in beiden Fällen noch nicht frei zu sein. „ Aber die Entscheidung darüber zu haben, ob Minirock oder Kopftuch, das ist die wahre Freiheit.“
KARAKAŞOĞLU: So ist es. Da kann ich nur. Das kann ich nur unterschreiben. Mit Cigdem Toprak.
WEMBER: 2017 hat die Bertelsmann Stiftung einen sogenannten Religionsmonitor veröffentlicht. Da sind interessante Zahlen drin, dass nämlich 96 % der Muslime in Deutschland sich integrieren wollen. Mit dem Begriff haben Sie auch ein Problem, da sprechen wir noch drüber. Und dass im Durchschnitt der untersuchten Länder 94 % sich mit dem jeweiligen Land sehr oder eher verbunden fühlen. Und dass, spätestens seit der zweiten Generation, die Zuwanderinnen und Zuwanderer mehrheitlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen seien. Können Sie das so unterschreiben?
KARAKAŞOĞLU: Im Selbstverständnis auf jeden Fall. Das ist ja eine Befragung, wo es darum geht: Wie verorte ich mich, wie fühle ich mich, wozu fühle ich mich zugehörig. Und umso dramatischer, wenn ich das betonen darf an dieser Stelle, ist die aktuelle Diskussion zu Migration, die wir haben in Deutschland, wo nämlich so getan wird, als wenn Migrantinnen andere Teile der Gesellschaft wären, die, die draußen sind, die man besser draußen halten sollte. Mitglieder der Gesellschaft mit unterschiedlichen Biografien, sei es, dass sie selbst zugewandert sind, dass Eltern oder Großeltern zugewandert sind und sie nach wie vor über Mehrsprachigkeit, über transnationale Beziehungen zu Herkunftsländern eine Beziehung pflegen, aber sich in Deutschland zu Hause fühlen, selbstverständlich hier auch beheimatet fühlen und auch in einer Weise agieren können, in einem Umfeld, das ihnen bekannt ist. Ich weiß, mit was für alltäglichen Normen und Umgangsweisen ich es hier zu tun habe und wie ich mich darin völlig selbstverständlich bewege. Das ist damit gemeint. Also Deutschland ist der Ort, an dem ich geboren bin, in dem ich aufgewachsen bin. Und wenn ich die Schule kenne, wo ich auch das Arbeitsumfeld kenne, wo meine Freundschaften verortet sind und wo ich mich im Prinzip wohlfühle, weil es mein Land ist. Aber umso dramatischer ist es, wenn ich erlebe, dass ich Signale bekomme aus der Politik, die mir sagen: Nein, so ist es nicht. Du bist weniger in diesem Land beheimatet als die, die schon seit mehr als drei oder vier Generationen in Deutschland leben. Die echten, die wahren, die guten Deutschen. Also umso dramatischer ist dann auch das Empfinden, damit umgehen zu müssen, dass man nicht selbstverständlich als Bestandteil dieser Gesellschaft betrachtet wird. Und wenn Sie Kopftuch tragende Frauen fragen, werden Sie auch sehen: Auch diese Frauen, die ich auch hier in meinem Umfeld an der Universität natürlich als Studentin habe oder auch Kolleginnen. Dass das völlig normal ist, sich hier zu verorten und man sich selber nicht als die anderen sieht, aber zum anderen gemacht wird.
WEMBER: Noch ein Wort zu den Schulen, zur Bildung. In der ersten Generation hatten 15% der zugewanderten Menschen Hochschulreife, in der zweiten Generation waren es schon 25%. Immer noch die Hälfte, wie es bei den nicht nichtmuslimischen Schülerinnen und Schülern ist, aber immerhin ein Trend. Allerdings ein Trend, bei dem absehbar ist, dass vor allen Dingen die Mädchen davonziehen und die Jungs nicht so mitkommen.
KARAKAŞOĞLU: Das ist ähnlich wie in der nicht migrantischen Bevölkerung. Ja, also mit der sogenannten Bevölkerung, die eben nicht über familiäre Migrationserfahrungen verfügt oder nicht in diesem Maße, dass die jungen Frauen, die Mädchen in den Schulen stärker positive Ergebnisse erzielen als die jungen Männer, immer noch unterhalb derjenigen, die keine familiären Migrationserfahrungen haben. Die Startbedingungen waren für die Familien sehr schlecht, und es dauert mehrere Generationen, bis man die sozusagen kompensiert hat. Und das in einem System, das ist ja mein Arbeitsgebiet auch an der Uni Bremen, zu schauen, dass dieses Bildungssystem, dass das Schulsystem sich sicher nicht als ein Schulsystem der Migrationsgesellschaft gewandelt hat. Es geht ja nach wie vor davon aus, dass das Übliche ist, dass man zu Hause mit Deutsch als Hauptsprache aufwächst. Es benachteiligt ja auch Kinder, die einsprachig deutsch aufwachsen. Da kommen Kinder zu unterschiedlichen Zeiten ihres schulischen Lebens aus dem Ausland dazu, müssen aufgenommen werden. Andere sind hier aufgewachsen, haben unterschiedliche soziale Bedingungen, brauchen eine Schule, die kompensiert, was das Elternhaus nicht kompensieren kann. All das sind sehr, sehr hohe Anforderungen an Schule. Und Schule müsste sich als den Ort begreifen, an dem die Migrationsgesellschaft sich entwickeln kann. Positive Impulse auch aufgenommen werden durch die Vielsprachigkeit, durch auch religiöse Pluralität. Stattdessen treffen wir immer noch auf Vorstellungen davon, dass es nicht die Schule ist, dies es mal früher war, dass nichts mehr so ist wie früher und dass das alles Beschwernisse sind und Problematiken sind und dass man vielfach mit Überforderung seitens der Lehrkräfte und der Schulleitung konfrontiert ist. Was aber auch damit zu tun hat, dass die Ressourcen nicht wirklich da sind, um diese große Heterogenität im positiven Sinne aufzugreifen und alle in die Lage zu versetzen, gesellschaftlich teilhaben zu können mit ihren vielen Ressourcen, die sie ja mitbringen. Das sind ja nicht alles Menschen, die nur Defizite in die Schule mit reinbringen, sondern die haben ganz, ganz viel an Potenzial. Die haben auch viel an Wissen, an Erfahrung, an Sprachen, die sie mit reinbringen. Nur in dem Moment, wo sie die Schule betreten, spielt das keine Rolle mehr, weil das nicht widergespiegelt ist in den Inhalten und in dem, was dann letzten Endes bewertet wird.
WEMBER: Wir sprachen vorhin über Teilhabe und Integration. Wir sind auch gestartet mit dem Soziologen Aladin El-Mafaalani. Dessen Buch heißt Das Integrationsparadox. Der sagt: Bis in die 80er Jahre gab es bei uns zwei extreme Positionen. Die eine erklärte: Wir sind kein Einwanderungsland, die andere: Multikulti ist per se toll. Er sagt: Aus beiden Haltungen kam als Quintessenz heraus: Alles ist gut so wie es ist. Wir brauchen auch keine aktive Integrationspolitik. Das hat sich heute ja ein bisschen geändert. Und er sagt: Wir brauchen keine Leitkultur, sondern wir brauchen eine Streitkultur. Entscheidend ist Teilhabe.
KARAKAŞOĞLU: Also im Rückblick erscheint mir das sehr schachbrettartig, was Aladin El-Mafaalani da sagt oder wie Sie es jetzt auch zusammengefasst haben, aus dem, was er formuliert hat.
WEMBER: Was sagen Sie dazu.
KARAKAŞOĞLU: Denn erst mal: Deutschland hat sich 2000 erst zum Einwanderungsland erklärt. Davor gab es keine aktive Einwanderungspolitik und auch die Gesetzgebung, die sich danach entwickelt hat, war in erster Linie ausgerichtet auf so etwas wie Begrenzung. Es hieß ja Zuwanderungsbegrenzungs-Gesetz. Und es wurden aber erstmalig Integrations- und Deutschkurse Kurse eingeführt, die regelhaft besucht werden mussten von neu Zugewanderten. In der Zeit davor war alles in die Hände der Zugewanderten übergeben worden, die sich irgendwie in das System einfädeln sollten, das ihnen aber gar nicht die Botschaft gegeben hat: Wir möchten, dass ihr bleibt. Wir möchten, dass ihr dazugehört.
WEMBER: Die Gastarbeiter.
KARAKAŞOĞLU: Die Gastarbeiter, aber auch später die Geflüchteten in den 90er Jahren, die dann auch geblieben sind, teilweise. Und nachgezogene Familienangehörige, Studierende, die gerne bleiben wollten in Deutschland. Das alles hat sich mit dem demografischen Wandel, mit der Problematik, dass man eben Menschen braucht, um auch die Zukunft des Landes zu sichern und dass man das aus den Geburten derjenigen, die schon da sind und die sich auf eine deutsche Herkunft berufen, nicht leisten kann, hat sich ja gewandelt. Mir ist aber erstmal wichtig zu sagen: Dieses Multikulti ist positiv der Zivilgesellschaft, die sich um die Zugewanderten gekümmert hat, die ganz viele Angebote gemacht hat, was der Staat nicht geleistet hat. Sprachkurse, heute würde man es Integrationskurse nennen. Aber Orientierungskurse, Freizeitaktivitäten, interkulturelle Öffnung war ein großes Thema damals für soziale Einrichtungen und kulturelle Einrichtungen. Da war der Blick auf kulturelle Unterschiede und kulturelle Gemeinsamkeiten. Und Vielfalt war der Versuch, das positiv zu wenden, was in der Gesellschaft in der Regel negativ konnotiert war und was auch damals mit rassistischen Übergriffen schon verbunden war in den 70er und 80er Jahren. Das ist nicht erst ein Zeichen der 90er und Zweitausender. Vor diesem Hintergrund lassen sich diese Phasen nicht so schachbrettartig hintereinander weg durchdeklinieren. Was allerdings sich dann eben auch durch die offizielle Erklärung Deutschlands als Einwanderungsland verändert hat, ist ein Staatsbürgerschaftsrecht und Staatsangehörigkeitsrecht, das überhaupt erst mal ermöglicht hat, dass man hier auch tatsächlich sowohl aktiv wie auch passiv mitwählen kann. Dass man tatsächlich seine Zukunft langfristig für Deutschland auch planen kann, sich zugehörig fühlen kann, weil man eben voll anerkannter Staatsbürger/ Staatsbürgerin ist.
WEMBER: Das ist ein großer Fortschritt Ihres Erachtens
KARAKAŞOĞLU: Definitiv ein großer Fortschritt. 2004 und später dann die Akzeptanz der doppelten Staatsangehörigkeit. Das war ein hart errungenes Recht, um eben auch der Tatsache in Rechnung zu stellen, dass Menschen eben, die migriert sind, durchaus transnationale Lebensbezüge haben, an verschiedenen Orten beheimatet sind und nicht einfach Brücken abbrechen können oder wollen und auch für die Zukunft nicht klar ist, ob ich für alle Zeiten hierbleibe oder ob ich anderswo hingehe. Die Biografien haben sich ja globalisiert, transnationalisiert, und dem Rechnung zu tragen, diesen vielfältigen Biographien, das ist natürlich ein großer Fortschritt. Aber kommen wir noch mal zurück zu dem Begriff der Integration und der Teilhabe. Integration, da ist etwas Bestehendes und es kommen Menschen und sie sollen sich in diesem Bestehenden etwas suchen. Eine Nische, eine Lücke, einen Ort, einen Zugang, um sich dort hineinzupassen, einzupassen, hineinzupassen und passend gemacht zu werden.
WEMBER: Die deutsche, DIN-Norm.
KARAKAŞOĞLU: Gerne auch als Leitkultur formuliert. Wobei sich viele Deutsche, wenn man sie darauf anspricht was ist denn eigentlich die deutsche Leitkultur? Auch schwer daran tun würden, das jetzt genau definieren zu können. Von daher ist dieses Integrationsthema ein schwieriges, weil Integration auch häufig mit Assimilation gleichgesetzt wird als komplette Anpassung an das, was da ist.
WEMBER: Was wollen Sie denn stattdessen?
KARAKAŞOĞLU: Teilhabe? Partizipation? Es geht darum, dass man gemeinsam in dieser Gesellschaft diese Gesellschaft auch voranbringt. Dass man seinen Teil dazu beiträgt, dass man gesehen wird als derjenige oder diejenige, die ihren Teil zu dieser Gesellschaft beiträgt, und zwar mit auch Impulsen, die aus anderen Erfahrungen herrühren können, die ja bereichernd sein können. Und damit meine ich nicht einen naiven Multikulturalismus. Alles ist gut, wenn es nur von irgendwo anders herkommt. Und es ist schön bunt. Nina Hagen hatte einen Song, da hieß es dann: Alles so schön bunt hier. Ich würde das eher ironisierend verstehen. Es geht nicht darum, dass alles wunderschön bunt ist, aber dass ich Vielfalt erstmal als Fakt und gesellschaftliche Realität anerkenne und dass ich Chancen habe und eröffne, mich einbringen zu können mit dem, was ich mitbringe, was ich habe in diese Gesellschaft und dann auszuhandeln. Da gebe ich Aladin El-Mafaalani recht. Was ist unser neues Gemeinsames? Ein neues Wir? Das geht aber nur, wenn die Machtverhältnisse nicht unterschiedlich sind. Ja, es ist ja schön zu sagen: Mach doch mit und bring dich ein. Aber welche Möglichkeit habe ich politisch? Welche Möglichkeit habe ich rechtlich? Welche Möglichkeit habe ich ökonomisch? Mit anderen Worten: das Ganze hat auch sehr viel zu tun mit der Frage von Hierarchien, von Macht und von Prestige. Wenn Türkisch als Sprache oder Arabisch weniger prestigereich ist als Französisch oder Englisch, dann hat das was mit der geschichtlichen und den historischen Erfahrungen und mit den historischen Machtverhältnissen zu tun, die in Europa wirken. Und dahinein kann ich mich nicht gut einbringen, wenn ich von vornherein als minderwertig betrachtet werde, weil ich muslimisch bin, weil ich ein Kopftuch trage, weil ich Türkisch oder Arabisch oder Persisch spreche.
WEMBER: Also als Schlussbemerkung: der langanhaltende sogenannte Kopftuchstreit hat dazu geführt, dass es in einer Streitkultur am Ende auch eine Lösung gab, nämlich dass jeder, jede nach ihrer Fasson glücklich werden darf.
KARAKAŞOĞLU: Ja. Dank der Vehemenz und Beharrlichkeit der Frauen, die ein Kopftuch tragen und den Zugang zu den Positionen eingefordert haben, die dann auch Jura studiert haben und sich in Selbstorganisation in empowernden Gruppen zusammengeschlossen haben und eingefordert haben, dass sie Zugang bekommen müssen auf Basis von Menschenrechten, auf Basis der deutschen Verfassung, in Kenntnis der Verfassung. Das waren ganz andere Voraussetzungen in den letzten Jahren als noch vor 20, 30, 40 Jahren. Das heißt, wir haben im Grunde mit den Frauen, den ersten, die sich diesen Zugang erkämpft haben und die für andere die Türen geöffnet haben, dazu beigetragen, dass jetzt große Gruppen von Frauen, die ein Kopftuch tragen, sehr selbstbewusst in diese Positionen hineingehen, auch einen Rückhalt haben.
WEMBER: Frau Karakaşoğlu, vielen Dank.
KARAKAŞOĞLU: Ja, ich danke Ihnen, Herr Wember.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration: Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 6: Der Kopftuchstreit
Heiner Wember im Gespräch mit Yasemin Karakaşoğlu
Eine Kooperation mit der Stiftung Orte der Deutschen Demokratiegeschichte.
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