Doppelt fremd: Russlanddeutsche. Kolonisten, Deportierte, Spätaussiedler
Shownotes
Eigenes Land, wertvolle Privilegien. Kein Militärdienst, keine Steuern, Religionsfreiheit. Mit solch attraktiven Versprechen lockte Zarin Katharina II. im 18. Jahrhundert arme Bauern aus den deutschen Ländern in das expandierende Russische Reich. Die deutschen Kolonisten siedelten vor allem an der Wolga und im Schwarzmeergebiet, in der heutigen Ukraine. Lange Zeit genossen die so genannten Russlanddeutschen autonome Rechte, erklärt im Podcast der Historiker Jannis Panagiotidis. Später aber wurden sie verfolgt und litten in besonderem Maße unter den Gewaltsystemen des 20. Jahrhunderts. Viele von ihnen wurden gleich zweifach umgesiedelt und deportiert, erst durch Hitler, dann durch Stalin, der sie nach Sibirien verbannte. Im Zuge von Glasnost und Perestroika und verstärkt nach dem Zerfall der Sowjetunion wanderten ab 1991 zweieinhalb Millionen Russlanddeutsche aus. In der ihnen fremden Heimat ihrer Vorfahren erhielten sie als so genannte Volksdeutsche mehr oder minder automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit. Das sorgte und sorgt unter anderen MigrantInnen für Unmut. Die Spätaussiedler blieben in der Bundesrepublik lange Zeit unter sich und weitgehend unsichtbar, obwohl sie die größte MigrantInnengruppe seit der Wiedervereinigung sind. Heute aber, so Panagiotidis, beginnen junge, bereits in Deutschland geborene Russlanddeutsche, sich auch öffentlich mit ihrer Geschichte und Kultur auseinanderzusetzen.
Jannis Panagiotidis ist Historiker und Experte für die Migrationsgeschichte der Russlanddeutschen. Er lehrt und forscht an der Universität Wien, wo er wissenschaftlicher Direktor des Forschungszentrums für die Geschichte der Transformationen ist.
Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.
Staffel 4, Folge 5 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.
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TEASER:
PANAGIOTIDIS: Auswanderung war damals nach Übersee noch schwierig, also Amerika-Auswanderung war noch nicht wirklich eine Option, und Russland war da tatsächlich ein ganz attraktives Ziel für verarmte „Deutsche“, Menschen aus deutschen Landen, weil sie eben auch Privilegien versprochen bekamen. Sie bekamen Land, sie bekamen Steuerbefreiung, Befreiung vom Wehrdienst, Religionsfreiheit. Alles durchaus wertvolle Privilegien, die eine Ansiedlung im russischen Reich, an der Wolga, am Ufer der Wolga, attraktiv erscheinen ließen.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 5: Doppelt fremd: Russlanddeutsche. Kolonisten, Deportierte, Spätaussiedler
Almut Finck im Gespräch mit Jannis Panagiotidis
FINCK: Wir sind doch keine Türken. Diesen Satz hat bei einer Tagung zu Russlanddeutschen im Vergleich vor einigen Jahren eine russlanddeutsche Zuhörerin in den Raum geworfen, und sie war ziemlich wütend. Das schildern Sie, Herr Panagiotidis, in ihrem jüngsten Buch. Recht hatte die Frau ja, Russlanddeutsche sind keine Türken, aber was wollte sie damit sagen?
PANGIOTIDIS: Was die Dame, denke ich, damit sagen wollte, war, dass Russland-Deutsche in der Bundesrepublik Deutschland nicht mit Türken oder Türkei-Stämmigen in der Bundesrepublik Deutschland auch nur vergleichbar wären. Denn der Ausgangspunkt war die Aussage eines Forschers auf dem Podium, dass man da durchaus Vergleiche anstellen könnte. Und das sorgte für Empörung vor dem Hintergrund, dass die Selbstwahrnehmung in diesem Fall diejenige ist, dass man halt als Russlanddeutscher, mit der Betonung auf deutsch, als Deutscher in Deutschland lebt und entsprechend in einer ganz anderen Situation ist, als Türken, die eben Türken sind und nach dieser Logik auch Türken bleiben.
FINCK: Sie haben jetzt schon so angetippt, Fragen, ganz zentrale Fragen, die wir auch heute im Podcast behandeln wollen. Nämlich, weshalb gibt es oft so eine Konkurrenz zwischen Russlanddeutschen und anderen MigrantInnengruppen? Und warum sehen sich viele Russland-deutsche überhaupt nicht als Migranten oder Migrantinnen? Und dann, was sind Russlanddeutsche überhaupt? Sind das deutsche Russen, Deutsche aus Russland, Russen oder Bürger der ehemaligen Sowjetunion mit deutschen Wurzeln? Aussiedler? Spätaussiedler? Und weshalb erhielten alle sogenannten Russlanddeutschen, die nach 1991 bzw. dann 1999 kamen, da wurde das Gesetz nochmal geändert, sofort einen deutschen Pass über die Staatsangehörigkeit, obwohl viele kein Deutsch sprachen und nie hier gelebt hatten? Die Einwanderer aus anderen Ländern, eben auch Türken, und sogar deren in Deutschland geborene Kinder, haben es ja viel schwerer, selbst wenn sie hier geboren sind.
Bevor wir aber jetzt weiter diese Fragen diskutieren, Herr Panagiotidis, möchte ich Sie erstmal vorstellen. Jannis Panagiotidis ist Historiker. Seine Schwerpunkte sind Migrationsforschung und die Geschichte der Russlanddeutschen. Seit 2020 ist er an der Universität Wien wissenschaftlicher Direktor des Forschungszentrums für die Geschichte der Transformationen. Von Wien aus sprechen Sie heute auch mit mir. Schön, dass das klappt, Herr Panagiotidis.
PANAGIOTIDIS: Freut mich!
FINCK: Ich würde zu Beginn unseres Gesprächs jetzt gerne in die Vergangenheit schauen. Deutsche gingen irgendwann im 18. Jahrhundert als Kolonisten nach Russland, und irgendwie spielte da Katharina die Große, die ja von Geburt eine deutsche Prinzessin war, eine Rolle. Können Sie uns Genaueres erzählen?
PANAGIOTIDIS: Da gäb‘s jetzt die Kurzfassung und die Langfassung …
FINCK: Oder die Mittelfassung.
PANAGIOTIDIS: Die Mittelfassung, okay. Die beginnt tatsächlich mit Katharina der Großen, das ist so eine Art Urknall der russlanddeutschen Geschichte, dass eben die Zarin Katharina im Jahr 1762 beziehungsweise dann noch einmal 1763 ein sogenanntes Einladungsmanifest erließ, das Kolonisten aus, damals war es ja noch nicht Deutschland, sondern aus Mitteleuropa oder eigentlich generell Kolonisten anwarb, ins Russische Reich zu kommen und dort Territorien zu besiedeln, konkret Territorien an der Wolga.
FINCK: Kolonisten, müssen wir vielleicht kurz erklären, sind Siedler, die Kolonien bilden?
PANAGIOTIDIS: Genau, das sind im Prinzip Bauern, die das Land besiedeln sollten. Und besiedeln bedeutet eben, das Land sichern sollten für das Russische Reich, das damals nach Süden expandierte, also in die heutige Ukraine, und das nach Osten expandierte. Und Besiedlung bedeutet halt auch immer Landnahme. Die Idee dahinter ist, dass man ein leeres Land, das niemandem gehört, besiedelt, was natürlich nie der Wahrheit entspricht. So wie man das ja auch aus der Besiedlung Amerikas kennt, wo dann halt indigene Bevölkerungen verdrängt werden. Das ist ein Thema, das in dem Zusammenhang hier weniger diskutiert wird. Und das werden wir heute auch eher, im Interesse der Zeit, beiseitelassen. Aber es sollte zumindest erwähnt werden. Jedenfalls – diese Kolonisten, diese Siedler wurden damals überwiegend im deutschsprachigen Zentraleuropa angeworben, wo ja gerade der Siebenjährige Krieg zu Ende gegangen war, wo es viele verwüstete Gegenden gab und entsprechend Menschen, die ein Interesse daran hatten, wegzukommen, ja? Und Auswanderung war damals nach Übersee noch schwierig, also Amerika-Auswanderung war noch nicht wirklich eine Option, und Russland war da tatsächlich ein ganz attraktives Ziel für verarmte „Deutsche“, Menschen aus deutschen Landen, weil sie eben auch Privilegien versprochen bekamen. Sie bekamen Land, sie bekamen Steuerbefreiung, Befreiung vom Wehrdienst, Religionsfreiheit. Also, alles durchaus wertvolle Privilegien, die eine Ansiedlung im russischen Reich, an der Wolga, am Ufer der Wolga, attraktiv erscheinen ließen.
FINCK: Sie sagten eben, es waren schon dort Menschen, es lebten natürlich dort Menschen. Wie war denn das Verhältnis der jetzt ankommenden Deutschen zu anderen Minderheiten? Juden zum Beispiel.
PANAGIOTIDIS: Dazu muss man in die Siedlungsgeschichte der Deutschen im Russischen Reich genauer schauen. Es gab zwei Siedlungsschwerpunkte ursprünglich, nämlich einen, wie gesagt, an der Wolga. Dort gab es jüdische Bevölkerung tatsächlich nicht oder kaum, weil die im Russische Reich dort gar nicht siedeln durften. Dafür gab es umso mehr Juden in der heutigen Ukraine, oder was damals als Südrussland bezeichnet wurden, im Gebiet am Schwarzen Meer, Odessa, das heutige Moldawien, also Gebiete der Ukraine, wo es eben eine starke jüdische Bevölkerung gab und wo dann auch deutsche Siedlungen sich bildeten, und nicht nur deutsche übrigens, sondern in Südrussland, oder wie es auch damals genannt wurde, Neurussland, da gab es auch Siedler vom Balkan, da gab es griechische Siedlern da gab‘s es serbische Siedler, bulgarische Siedler und so weiter, das heißt, das war durchaus ein multikulturelles Gemisch, wo sich eben die deutschen Siedler, die, wie gesagt, in einem nationalen Sinne noch nicht wirklich angemessen als deutsch damals beschrieben sind, aber die halt deutsch sprachen.
FINCK: Das waren ja dann eher Pfälzer oder Westfalen.
PANAGIOTIDIS: Genau, es waren Pfälzer, Westfalen, Hessen, vor allem waren sie aber auch über ihre Religion definiert. Das waren Katholiken, und das waren Protestanten, überwiegend Protestanten, die eben aufgrund dieser angesprochenen Privilegien und der Möglichkeit ihre eigenen Kolonien zu bilden, sich nicht mit der Umwelt zunächst mal sehr stark einlassen mussten. Also die waren nicht jetzt Teil einer Gesellschaft, in die sie sich integrieren mussten oder so, sondern die hatten erst einmal ihre eigenen Strukturen, eigene Schulen, Kirchen und so weiter.
FINCK: Also, sie hatten wirklich autonome Rechte.
PANAGIOTIDIS: Genau, sie hatten autonome Rechte, sie durften das, in gewissem Sinne mussten sie das, weil die Gesellschaft des russischen Zarenreiches sehr stark nach Konfessionen, nach Ständen und so weiter organisiert war. Das heißt, das war einfach ein anderes Gesellschaftsmodell, in das eben diese Kolonisten hineinkamen, aber, wie gesagt, mit einer privilegierten Stellung. Denn was man ja nicht vergessen darf, ist, Bauern damals, also orthodoxe Bauern, russische, ukrainische und so weiter, waren ja Leibeigene. Die hatten selber kein Land, die hatten selber keine Freiheit. Und diese Kolonisten, die hatten diese Freiheit. Und Kolonist war eben auch ein rechtlicher Status. Das war nicht nur eine Bezeichnung, sondern das war wirklich ein Status, der den Menschen besondere Rechte gab und der dafür sorgte, dass sie sich auch in diesen Kolonien recht gut entwickeln konnten. Zumindest über die Zeit. Wenn man sich diese Geschichten anschaut von damals, dann gibt es so dieses Sprichwort, die erste Generation hat den Tod, die zweite die Not und erst die dritte das Brot. So hieß es immer. Also, dieser Siedlungsprozess war auch schwierig, der brauchte Zeit, aber so spätestens im 19. Jahrhundert hatten sich dann viele dieser Kolonien doch ziemlich gut etabliert und waren ein wichtiger Bestandteil des wirtschaftlichen Geschehens innerhalb des Russischen Reiches auch.
FINCK: Sie haben gerade schon die Religion erwähnt, Katholiken, mehr evangelische Deutsche, aber wir wissen von den Deutschstämmigen, die dann als Spätaussiedler kamen, dass darunter viele Mennoniten waren. Wann kamen denn mennonitische Deutsche nach Russland? Auch schon im 18. Jahrhundert?
PANAGIOTIDIS: Diese mennonitische Siedlung, die begann so ab Ende des 18. Jahrhunderts und verstärkte sich dann noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so zwischen 1790 und 1810 ungefähr. Das ist eine ganz spannende Geschichte, weil diese Mennoniten, die waren sozusagen in einem Prozess der Wanderung nach Osten, über Jahrzehnte und Jahrhunderte eigentlich. Ursprünglich kamen viele Mennoniten aus Friesland, also aus Nordwestdeutschland und aus dem nördlichen Holland. Was man übrigens bis heute an ihren Namen erkennen kann. Also typische mennonitische Namen sind sowas wie Friesen und Claassen, alles sehr typische friesische Namen. Auch der Religionsstifter, Menno Simons, war halt ein Friese. Die hatten sich schon zu früheren Zeiten in Westpreußen niedergelassen, also im Bereich der Wartemündung, und sind von dort dann verstärkt ins Russische Reich gegangen, weil durch die polnischen Teilungen diese Gebiete unter preußische Herrschaft kamen und Preußen die Mennoniten zum Militärdienst verpflichten wollte. Was für Mennoniten als strenge Pazifisten überhaupt nicht zur Debatte stand. Deswegen sind dann viele ins Russische Reich, wo ihnen versprochen wurde, dass sie vom Militärdienst ausgenommen wären.
FINCK: Deutsche mussten nie in der Armee des Zaren dienen?
PANAGIOTIDIS: Deutsche mussten bis 1871 nicht in der Armee des Zaren dienen, und das war dann auch ein wichtiger Wendepunkt in dieser Geschichte der deutschen Besiedlung oder generell der Besiedelung des Zarenreiches. Im Zuge der damaligen Reformen, schon Anfang der 1860er Jahre, wurden die russischen Bauern aus der Leibeigenschaft befreit, und 1871 wurde dann dieser privilegierte Kolonistenstatus aufgehoben. Nicht komplett, aber viele der Privilegien waren hinfällig. Und eines dieser Privilegien, das abgeschafft wurde, war die Befreiung vom Wehrdienst, was gerade für die Mennoniten, die sich zu dem Zeitpunkt schon recht zahlreich im Russischen Reich niedergelassen hatten, ein Problem war. Und damals sind dann aus diesem Grund, ab den 1870er-Jahren, sukzessive Mennoniten, nicht nur, aber zum großen Teil, auch nach Amerika abgewandert und nach Kanada, wo damals eben, da wären wir wieder beim Thema Besiedlung und Kolonisierung, der Westen geöffnet wurde, wie es damals hieß, viel Land verfügbar wurde durch die Verdrängung der indigenen Bevölkerung dort, und entsprechend diese Kolonisten, die erfahren waren in der Besiedlung von Land, der Urbarmachung von Land, sehr gefragt waren und zum Teil ziemlich gute Bedingungen aushandeln konnten für ihre Ansiedlung dann in den verschiedenen US-Bundesstaaten oder eben auch in Kanada.
FINCK: Wir sind jetzt Mitte, Ende des 19. Jahrhunderts Wissen wir etwas darüber, wie assimiliert Deutsche damals waren? Hatte sich da etwas geändert gegenüber dem 18. Jahrhundert?
PANAGIOTIDIS: Assimilation ist ein schwieriger Begriff, weil gar nicht klar wäre, in was sie sich hätten assimilieren können. Es gab in dem Sinne keine Gesellschaft mit einer dominanten Leitkultur. Das heißt für viele Kolonisten war eben das Erlernen beispielsweise des Russischen überhaupt nicht notwendig, weil es nicht die Sprache der Gesellschaft war. Im Zuge dieser modernisierenden Reformen der 1860er, 1870er Jahre änderte sich das schon. Der Versuch war ja, aus dieser russländischen Ständegesellschaft eine moderne Gesellschaft zu machen, in der eben das russische als Sprache auch eine stärkere Rolle spielen sollte. Entsprechend musste dann auch mehr russisch gelernt werden, aber dieser autonome Status wurde andererseits auch nie komplett aufgehoben. Sie hatten nach wie vor das Eigentum an ihrem Land, und sie hatten nach wie vor einen herausgehobenen Status, der, und das muss man auch dazu sagen, zunehmend zu einem Problem wurde, weil sie eben verstärkt mit Deutschland identifiziert wurden, mit dem deutschen Reich. Das zu dem Zeitpunkt ein Konkurrent des russischen Reiches wurde und im Ersten Weltkrieg dann der Feind war. Weswegen dann im Ersten Weltkrieg tatsächlich dann eben auch deutschsprachige Bevölkerung in Russland zum Teil interniert wurde, zum Teil enteignet wurde, zum Teil umgesiedelt wurde. Nicht in dem Maße, wie das später der Fall sein würde, da kommen wir ja sicher noch zu, aber schon zum Teil wirklich als feindliche Bevölkerung wahrgenommen wurde.
Musikakzent
FINCK: Sprechen wir mal über die frühe Sowjetunion, nach der Revolution, die verstand sich als ein Vielvölkerreich mit ganz vielen Ethnien – was ist eigentlich richtig? Ethnien oder Ethnien?
PANAGIOTIDIS Ich kenne beides. Ich weiß nicht, was der Duden dazu sagt, ehrlich gesagt.
FINCK: Jede Ethnie oder Ethnie erhielt einen eigenen Eintrag im sowjetischen Pass. Wie sah das für die Deutschen aus?
PANAGIOTIDIS: In ihre Personenstandsdokumente, in ihren Pass, in die Geburtsurkunden, da wurde dann halt reingeschrieben, Deutscher, so wie bei anderen hineingeschrien wurde, Russe, Ukrainer, Belarusse, Tartare und so weiter.
FINCK: Oder Jude.
PANAGIOTIDIS: Oder Jude, genau. Also das war ein System, das keine Nationalität von vornherein stigmatisierte. Manchmal wurde, also im Nachhinein, dieses sowjetische System verglichen – und man sagt, naja, die hatten halt diesen Eintrag, beispielsweise Jude, so wie die Nazis Jude bei den Juden in den Pass schrieben. Aber das war nicht das Gleiche, zumindest von der Intention her war es nicht das gleiche. Die Absicht war, die Bevölkerung dieses Vielvölkerreiches, das ja die Bolschewiki nach der Revolution im Grunde erbten, für den Sozialismus zu gewinnen. Und es gab diese Formel, die da hieß, national in der Form, sozialistisch im Inhalt. Also es sollte der Sozialismus in den Sprachen der verschiedenen Nationalitäten vermittelt werden. Daher gab es dann beispielsweise ab 1918 bzw. 1924 eine deutsche Autonomie, ein deutsches autonomes Gebiet an der Wolga, wo eben so dieser große Siedlungsschwerpunkt war.
FINCK: Das hieß auch Autonome Wolga-Republik, oder?
PANAGIOTIDIS: Genau. Autonome Sozialistische Republik der Wolgadeutschen. Ursprünglich hieß es noch anders. Arbeiterkommune, war so die Bezeichnung. Der erste Vorsitzende dieser Arbeiterkommune war interessanterweise Ernst Reuter, der spätere Oberbürgermeister von Berlin, der als Sozialdemokrat in russischer Gefangenschaft gewesen war und dann dort quasi diese Kommune aufbaute. Später sich dann aber anders orientierte politisch, also weg vom Kommunismus. Das ist eine interessante Fußnote, die ein bisschen darauf auch verweist, dass die Russlanddeutschen, die dort lebten, die Wolgadeutschen, jetzt nicht von sich aus so begeistert vom Kommunismus waren, sagen wir es mal so. Das waren dann halt eher deutsche Kommunisten aus Deutschland, die da diese Kommune, diese Republik aus der Taufe hoben. Aber ab 1924, als sie dann diesen Status als autonome Republik bekamen – was in diesem sowjetischen Territorialsystem die zweite Liga der Territorien war sozusagen. Es gab die Republiken, so wie die Ukraine, die russische Föderation, Georgien, Armenien und so weiter, das waren die vollwertigen Republiken, und diese Wolga-Republik war eins darunter sozusagen. Die hatte nicht vollen Republikstatus, aber hatte eben eine Autonomie. Das heißt, die deutsche Sprache war dort Amtssprache, Unterrichtssprache, und das hat für die Deutschen in der Sowjetunion schon eine identitätsstiftende Wirkung gehabt.
FINCK: Wir wissen von den fürchterlichen Zwangsmaßnahmen gegen reiche Bauern, gegen die sogenannten Kulaken. Wir wissen von dem Terror, dem Aushungern vor allem in der Ukraine, und reiche Bauern, muss man dazu sagen, das war man, wenn man schon ungefähr mehr als zwei Kühe hatte. Waren Deutsche auch davon betroffen, die ja Land besaßen, auch Eigentümer waren?
PANAGIOTIDIS: Deutsche waren sehr stark von dieser klassenbasierten Verfolgung betroffen.
FINCK: Sagen Sie mal ungefähr eine Jahreszahl, für unsere Hörer, wann das war?
PANAGIOTIDIS: Im Prinzip begann das eigentlich schon unmittelbar mit der Revolution, dass die sogenannten reichen Bauern, die Kulaken, verfolgt wurden. Aber verstärkt dann mit der Etablierung des Stalinismus so ab Ende der 20er Jahre. Es gab ja in den 20er Jahren so eine Phase der sogenannten neuen ökonomischen Politik, wo die Bolschewiki merkten, dass sie nicht alles sofort revolutionär umgestalten können, weil ihnen sonst die Bevölkerung buchstäblich verhungert, was ja gerade an der Wolga durch den Bürgerkrieg und dann zu Beginn der 20er Jahre sehr stark passierte. Da gab es eine riesige Hungersnot, von der auch die deutsche Bevölkerung betroffen war. Da gab es erst mal so eine etwas liberalere Phase und dann aber eine verstärkte Verfolgung der Kulaken ab Ende der 20er Jahre. Und, wie Sie richtig gesagt haben, diese Kolonisten hatten ja von früher schon das Land und waren eben vergleichsweise wohlhabend und waren entsprechend stark von dieser Verfolgung betroffen. Und das ist insofern interessant, die wurden damals noch nicht als Deutsche verfolgt. Das kam dann noch.
FINCK: Russlanddeutsche haben in besonderer Weise unter den Gewaltsystemen des 20. Jahrhunderts gelitten, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Die russlanddeutsche Journalistin Inna Hartwich hat vor etwa anderthalb Jahren unter dem Titel „Friedas Enkel, meine Familie und das Erbe der Gewalt in Russland,“ ein Buch veröffentlicht. Und sie schreibt darin über ihre Großmutter Frieda, die wurde 1910 geboren in Wolhynien, damals Russland, später Sowjetunion, heute gehört es zur westlichen Ukraine, diese Großmutter wurde wie sehr viele Deutsche in Russland in ihrem Leben gleich zweimal deportiert. Erst von den Nazis, dann unter Stalin. Wie geschah das? Was waren da die Hintergründe?
PANAGIOTIDIS: Die Hintergründe waren die, dass sich ja das Deutsche Reich, unter Hitler, das Dritte Reich, und die stalinistische Sowjetunion im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts vom August 1939 das östliche Europa aufteilten. Es gab eben diese Absteckung der Einflusssphären, und dazu gehörte eben auch ein Austausch der Bevölkerung, oder wie es damals auch hieß, eine völkische Flurbereinigung, das war so dieser sehr zynische, sehr technokratische Begriff. Das bedeutete konkret, dass Deutsche, oder als deutsch identifizierte Personen, ins Deutsche Reich umgesiedelt wurden. Beispielsweise die Deutschen aus Wolhynien, wurden dann ins Großdeutsche Reich umgesiedelt, also eigentlich effektiv auch ins okkupierte Polen.
FINCK: In den so genannten Warthegau.
PANAGIOTIDIS: Genau. In studentischen Arbeiten sah ich den manchmal einfach nur mit „t“ geschrieben, als Warte-Gau, wo die Leute gewartet haben, was mit ihnen passiert. Es geht natürlich um den Fluss Warthe, an dem sich diese Region befand. Aber dieses Missverständnis ist insofern nachvollziehbar, weil dort ganz viele Siedler, Umsiedler, untergebracht wurden und tatsächlich eigentlich erst mal gewartet haben, was passiert. Viele haben dort viel Zeit in Lagern verbracht, wurden dann zum Teil dort auch angesiedelt auf Höfen, wo dann die polnische Bevölkerung vertrieben wurde, oder in Wohnungen in den Städten, wo die jüdische Bevölkerung vertrieben wurde, in die Ghettos.
FINCK: Das heißt, diese Verschleppung, Vertreibung, Umsiedlung in den Warthegau ist auch mit dem Holocaust verzahnt. Denn viele der Menschen, die dort vorher lebten, waren Juden, und die waren deportiert worden, ermordet worden. Und jetzt kamen die Deutschen dorthin, in die leeren Häuser, Dörfer oder auch Lager.
PANAGIOTIDIS: Genau. Diesen Zusammenhang hat der Historiker Götz Ali schon in den 90er-Jahren in einem sehr wichtigen Buch aufgezeigt, dass in der NS-Logik die Umsiedlung und Ansiedlung von Deutschen mit der Vertreibung von Juden und auch von Polen eng miteinander zusammenhing. Es waren benachbarte Institutionen, nämlich einmal die Einwandererzentralstelle und die Umwandererzentralstelle, die sich um diese Dinge kümmerten, konzentriert im damals sogenannten Litzmannstadt, also in Lodz oder Łódź. Das heißt, das war ein Zusammenhang von Bevölkerungspolitik. Wir schmeißen die einen raus, um für die anderen, für die Unseren, Platz zu machen. Und davon waren jetzt, wenn wir über die Deutschen aus der Sowjetunion reden, zunächst einmal diejenigen aus den westlichen Randgebieten betroffen, Wolhynien, Bessarabien, die heutige Republik Moldau. Und dann aber später im Krieg auch die aus dem Schwarzmeergebiet, also so aus der Region Odessa. Zunächst mal wurden die von den Nazis nicht umgesiedelt, weil durch den Deutsch-Sowjetischen Krieg ab 1941 ihre Siedlungsgebiete unter deutsche Besatzung kamen. Als dann die Wehrmacht sich zurückzog, ab 1943, 44, wurden diese Menschen dann auch umgesiedelt in den Warthegau. Und waren dann im Prinzip erst mal unter dieser NS-Herrschaft, kamen dann aber später, als der Krieg verloren ging, als die rote Armee nach Westen zog, wieder unter sowjetische Herrschaft, wenn man so will.
FINCK: Und dann begann im Grunde die zweite Deportation.
PANAGIOTIDIS: Dann begann die zweite Deportation, die wurden dann nämlich in vielen Fällen – die offizielle Bezeichnung war – „repatriiert“, weil sie halt zurück in das Land ihrer Staatsangehörigkeit gebracht wurden, nämlich in die Sowjetunion. Dort wurden sie dann aber nicht in ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten wieder angesiedelt, sondern sie wurden nach Sibirien verfrachtet, in die Verbannung, wo sich ja zu dem Zeitpunkt, Ende des Krieges, die wolgadeutsche Bevölkerung schon befand, denn die wurden 1941, gleich zu Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, konkret Ende August 1941, wurden die kollektiv auch nach Sibirien und zum Teil nach Kasachstan eben umgesiedelt. Der Vorwurf war der Kollaboration. Da hieß es eben auch, da befänden sich Spione und Saboteure unter dieser Bevölkerung. Deswegen müsste man sie aus Sicherheitsgründen nach Osten bringen, also weg von der Front sozusagen. Und das war eine Kollektivbestrafung, bei der dann tatsächlich diese ursprünglich, wie wir ja vorher gesagt haben, diese ursprünglich gar nicht stigmatisierend gemeinte Klassifikation als Deutsche zum Problem wurde, zur Grundlage für diese Deportation.
FINCK: Die Deutschen lebten dort in diesen sogenannten Sondersiedlungen, so wurde das, glaube ich, genannt, ungefähr zehn Jahre, also auch noch zwei Jahre nach Stalins Tod, Stalin starb 1953, zehn Jahre lang in der Verbannung. Es gibt ein sehr interessantes, sehr lesenswertes Buch. Wir werden das auch in die Show Notes aufnehmen, von der Autorin Sabrina Janisch, das heißt „Sibir,“ dort beschreibt sie die Kindheit ihres Vaters, der eben als Kind dorthin verschleppt wurde, und das müssen wirklich horrende Zustände gewesen sein. Es gab keinerlei Infrastruktur, es war bitter, bitter kalt, es gab nichts, und die Menschen sind reihenweise erfroren, verhungert, waren vollkommen auf sich selbst gestellt. Das ist ein Roman, aber sah das ungefähr so aus?
PANAGIOTIDIS: Das entspricht der Erfahrung einer ganzen Generation von Russlanddeutschen. Und das Interessante ist ja, wenn man sich nur den Deportationserlass anschaut, vom 28. August 1941, das liest sich alles sehr ordentlich. Da heißt es, die werden umgesiedelt, sie bekommen Entschädigung für ihr Eigentum, sie bekommen Gutscheine für Essen. Aber die Realität sah halt anders aus. Die Realität bestand darin, dass die Leute dann dort letztlich abgeladen wurden und erst mal zurechtkommen mussten.
FINCK: Ungefähr wie viele Deutsche wurden unter Stalin, in Anführungsstrichen, „repatriiert“? Also dorthin „verfrachtet“, muss man ja sagen.
PANAGIOTIDIS: Diese Deportation von 1941, von der Wolga, da reden wir von 900.000 Menschen ungefähr. Und diejenigen, die dann später dorthin geschickt wurden, die eben aus diesen westlichen Gebieten kamen, nochmal gut 350.000. Deutlich über eine Million Menschen, die sich dann 1945 zu Kriegsende in der Verbannung befanden.
FINCK: Zehn Jahre später wurde diese Verbannung aufgehoben, und sie durften theoretisch zurückkehren. Aber sehr, sehr viele taten das nicht.
PANAGIOTIDIS: Der Hintergrund ist, dass man sich halt generell in der Sowjetunion nicht einfach frei bewegen konnte, sondern, wenn man sich irgendwo ansiedeln wollte, brauchte man im Prinzip eine Erlaubnis. Insbesondere in Städte konnte man nicht so ohne weiteres ziehen. Deswegen sind tatsächlich die meisten nicht zurückgegangen, konnten nicht ohne weiteres zurück, hätten dort auch nichts gehabt. Das ist ja das Nächste, dass man nicht in das eigene Haus zurückkann, wenn dort schon jemand anders lebt. Und was dann passierte, ist, dass viele sich eher so in den zentralasiatischen Republiken niedergelassen haben. Also in Kasachstan vor allem. Aber auch in Kirgisien, Usbekistan, Tadschikistan. Im Ural, oder auch in Steppegebieten, wo es ja auch schon vor der Deportation Deutsche gegeben hatte. Das heißt, da gab es schon deutsche Dörfer, deutsche Netzwerke, wo dann eben die Menschen, als sie aus der Verbannung rauskamen, auch Anknüpfungspunkte hatten. Und das Ergebnis war, dass dann tatsächlich die meisten Russlanddeutschen, als sie dann Ende der 80er Jahre, Anfang der 90er nach Deutschland aussiedelten, das dann vor allem aus Kasachstan oder eben aus dem asiatischen Teil Russlands taten.
FINCK: Bevor wir jetzt im letzten Teil unseres Gesprächs über die Russlanddeutschen reden, die dann nach Deutschland kamen, möchte ich Ihnen eine Zwischenfrage stellen, eine persönliche Frage. „Panagiotidis“, das ist weder ein deutscher noch ein russischer Nachname. Sie schreiben in ihrem jüngsten Buch aber trotzdem, dass die Art und Weise, wie Sie aufgewachsen sind als Kind, auch damit zu tun hat, dass Sie sich heute mit Russlanddeutschen und mit Migration beschäftigen. Erzählen Sie doch mal.
PANAGIOTIDIS: Der Name ist griechisch tatsächlich, das ist von meiner Vaterseite so. Aber aufgewachsen bin ich in Deutschland, in einer kleinen Stadt im nördlichen Hessen, in Korbach. Und dort in einer Siedlung, in der nach 1990 viele Russlanddeutsche sich niederließen. Ursprünglich war das mal eine Militärsiedlung gewesen, mit belgischen NATO-Soldaten. Das ist so ähnlich in ganz vielen, vor allem in kleinen deutschen Städten passiert. Sobald die Besatzungssoldaten rausgingen, hat man diesen Wohnraum genutzt und die in großer Zahl damals ankommenden Russlanddeutschen dort untergebracht. Und in dem Sinne war das eigentlich meine Kindheit, meine Jugend, in der ich mit diesen Phänomenen schon konfrontiert war, um es sehr unpersönlich auszudrücken. Persönlicher gesagt, das waren so die Kinder in der Nachbarschaft. Im Nachhinein ist es ganz interessant, das jetzt mit dem Blick des Migrationsforschers zu analysieren, wer mit wem gespielt hat. Wir waren auch eine sehr multikulturelle Truppe, mit auch Kindern mit verschiedenen Migrationshintergründen oder auch ohne Migrationshintergrund. Und manche Russlanddeutsche haben mit uns gespielt, manche aber auch nicht. Das ist ganz interessant, auch im Hinblick auf das, was wir ganz am Anfang hatten mit der Konkurrenzsituation. Und im Endeffekt ist es zwar so, dass man sozusagen politisch sagt, ja, Russlanddeutsche sind keine Türken und haben nichts miteinander zu tun, aber in der Realität haben sie natürlich miteinander zu tun. Und da gab es dann eben auch später, in Anführungszeichen, Mischehen oder halt gemischte Beziehungen von Russlanddeutschen und Angehörigen anderer Zuwanderungsgruppen, denen man dann interessanterweise doch näher war als den Einheimischen sozusagen. Da gab es dann doch so eine gemeinsame Erfahrungsebene von Fremdsein, auf der man sich dann eben doch irgendwo treffen konnte.
Musikakzent
FINCK: Herr Panagiotidis, können Sie uns Zahlen nennen, wie viele Russlanddeutsche, Aussiedler, sagte man erst, dann Spätaussiedler, kamen nach Deutschland?
PANAGIOTIDIS: Wir reden von circa zweieinhalb Millionen Menschen, die zum Teil schon in den 70er Jahren nach Deutschland kamen, als die Sowjetunion zum ersten Mal Leute ausreisen ließ, in größerem Umfang. Aber da reden wir von einigen Zehntausend. Die meisten kamen dann erst im Zuge von Glasnost und Perestroika, also der Öffnung unter Gorbatschow, ab Mitte der 80er Jahre. Und da kamen in ziemlich kurzer Zeit über zwei Millionen Menschen innerhalb von einem Zeitraum von gut zehn Jahren.
FINCK: Warum kamen sie? Sie kamen ja in eine Heimat in Anführungsstrichen, in der sie nie gewesen waren, in ein Land, dessen Sprache sie in den allermeisten Fällen nicht sprachen. Was zog sie?
PANAGIOTIDIS: Das ist eine politisch gar nicht so unheikle Frage. Da muss man differenzieren. Wenn wir auf diejenigen schauen, die früher gekommen sind, in den 70er-Jahren, in den 80er- Jahren, die noch nicht ohne weiteres ausreisen konnten aus der Sowjetunion, die Anträge stellen mussten, die zum Teil ihren Job verloren haben, weil sie einen Antrag auf Ausreise stellten, bei denen gab es eine sehr starke Motivation, nach Deutschland zu gehen. Als Deutsche. Zum Teil aus religiösen Gründen. Damals – viele von diesen frühen Ausländern waren Mennoniten tatsächlich. Für die eben auch eine Motivation war, der religiösen Verfolgung zu entkommen. Mit der Zeit änderten sich die Motivationen. Da spielte der Zerfall der Sowjetunion eine große Rolle, das heißt, es gab eine existenzielle Unsicherheit. Und da war Deutschland ein durchaus attraktives Ziel, um nicht zuletzt dem wirtschaftlichen Verfall zu entkommen. Ich sage deswegen, das ist politisch nicht unheikel, weil das politische Framing war: Diese Menschen kommen, um als Deutsche unter Deutschen zu leben. Das war der politische Slogan. Ich möchte das auch niemandem absprechen, die das für sich sagen, dass das ihre Hauptmotivation war. Es gibt aber eben auch viele andere, grade die, die später gekommen sind, die die deutsche Sprache kaum beherrschten oder gar nicht beherrschten. Die ganz klar in Interviews sagen, na, wenn die Wirtschaftslage besser gewesen wäre, dann wären wir nie weggegangen, wir wollten nicht unbedingt weg. Aber wenn du monatelang kein Gehalt kriegst, was tust du dann? Dann gehst du dahin, wo dir ein besseres Leben winkt. Und das war dann im Lauf der 90er-Jahre, als mehr und mehr Leute kamen, in stärkerem Maße die Motivation für die Menschen zu kommen. Woran, das möchte ich auch immer wieder betonen, woran auch absolut nichts verkehrt ist. Aber weil es im politischen Framing oft sehr negativ gesehen wird.
FINCK: Sie konnten, oder sagen wir vielleicht besser, sie durften kommen, weil sie als Deutsche, als in Anführungsstrichen, „Volksdeutsche“ galten. Wir haben in der dritten Folge dieser jetzigen Migrationsstaffel des historycast mit Dieter Gosewinkel gesprochen. Das ist ein Historiker und Experte für Staatsbürgerschaft. Der hat erklärt, was der Unterschied ist zwischen dem Ius Soli, dem Bodenprinzip, und dem Ius Sanguinis, dem Abstammungsprinzip. Etwas zugespitzt formuliert der Idee, dass das deutsche Blut entscheidet darüber, also die Eltern, ob man in Deutschland leben darf, ob man ein deutscher Staatsangehöriger ist. Das ist etwas, was ja in den letzten Jahren und Jahrzehnten sehr problematisiert ist, im Ansatz auch geändert worden ist. Aber immer noch ist es so, dass die meisten Migranten aus Ländern, sagen wir, der Türkei, weil wir damit angefangen haben, und sie und ihre Kinder nicht automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen. Sie müssen jetzt fünf Jahre warten, mindestens ein Elternteil muss dauerhaft aufenthaltsberechtigt sein. Das ist bei den Russlanddeutschen anders. Die Russlanddeutschen dürfen kommen und erhalten mehr oder minder automatisch den deutschen Pass, die deutsche Staatsangehörigkeit. Ist das etwas aus der Zeit Gefallenes?
PANAGIOTIDIS: Also da muss da muss ich ein bisschen ausholen
FINCK: Bedenken Sie, wir machen die Mittelfassung, nicht die Langfassung.
PANAGIOTIDIS: Deswegen sag ich auch nur „ein bisschen“ ausholen. Erstens hat die Aufnahme der Russlanddeutschen mit diesem Ius Sanguinis, mit diesem Blutsrecht, erst mal nichts zu tun, weil sie nämlich nicht über das reguläre Staatsbürgerschaftsrecht eingebürgert wurden. Bei diesem Abstammungsprinzip geht es eigentlich darum, dass man dann deutscher Staatsbürger ist, wenn man von einem deutschen Staatsbürger abstammt. Was aber bei den Russlanddeutschen in den meisten Fällen gar nicht der Fall war, die waren nie deutsche Staatsbürger gewesen, da gab es dann einen anderen Zugang. Und dieser Zugang erfolgt eben über Artikel 116, Absatz 1 des Grundgesetzes und über das Bundesvertriebenen-Gesetz von 1953, das eben sagte, Menschen deutscher Volkszugehörigkeit werden auch als Deutsche betrachtet, wenn sie als Vertriebene kommen, wie es dort heißt.
FINCK: Aber bei Volkszugehörigkeit lande ich doch wieder beim „Blut“, in Anführungsstrichen. Oder wo lande ich? Lande ich dabei, dass die Weihnachtskekse essen und Weihnachtslieder singen? Wie will man das testen?
PANAGIOTIDIS: Damit habe ich mich in meinem ersten Buch tatsächlich beschäftigt. Wie wird das getestet? Wie wird das definiert? Und der Wortlaut in diesem Bundesvertriebenen-Gesetz heißt, deutscher Volkszugehöriger ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, und sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Sprache, Abstammung, Kultur bestätigt wird. Das heißt, es ist eigentlich eine doppelte Definition. An erster Stelle steht das Bekenntnis. Das heißt, ich muss irgendwie zu erkennen gegeben haben, dass ich Deutscher bin. Und da kam dann wieder dieser Passeintrag ins Spiel, über den wir ja schon gesprochen haben. Also wenn ich ein sowjetisches Ausweispapier hatte, in dem steht: Nationalität, und damit ist gemeint: ethnische Zugehörigkeit „deutsch“, dann galt das als ein Bekenntnis sozusagen.
FINCK: Naja, Sie mussten diesen Eintrag ja haben, das war ja nicht ein freiwilliges Bekenntnis, Ihnen blieb nichts anderes übrig.
PANAGIOTIDIS: Das ist richtig, aber … Da könnten wir jetzt wirklich in die Langfassung gehen, wie das im Einzelnen ausgehandelt wurde, was denn als Bekenntnis gilt und was nicht als Bekenntnis gilt und wie man mit der logischen Schwierigkeit umgeht, dass man einerseits im Gesetz verlangte, dass die Menschen sich bekannt haben mussten, als Deutsche, und andererseits sie deswegen aufnahm, weil man eben davon ausging, dass sie sich gerade nicht als Deutsche bekennen konnten und nicht sich als Deutsche ausleben konnten. Und da hieß der Schlüsselbegriff: Kriegsfolgenschicksal, also die Annahme, dass Deutsche im östlichen Europa, einschließlich der Sowjetunion, nach wie vor unter den Folgen des Krieges leiden, benachteiligt sind, weil sie verfolgt wurden als Deutsche, und dass sie deswegen heutzutage in Deutschland, quasi als Wiedergutmachung, aufgenommen werden müssen. Ich bezeichne das in einem anderen Buch als Wiedergutmachung durch Migration. Wo die Motivation der Aufnahme nicht diejenige war, dass sie Deutsche sind, sondern: Sie sind verfolgt, und sie sind benachteiligt, weil sie Deutsche sind. Das ist deswegen wichtig zu unterscheiden, weil beispielsweise jemand aus den USA, der deutscher Abstammung ist, deutsches „Blut“ hat, in Anführungszeichen, German-American, der kann nicht ohne weiteres nach Deutschland kommen. Das war nämlich ein Gesetz, diese Regelung mit dem Bundesvertriebene Gesetz und Artikel 116.1 Grundgesetz, speziell für Deutsche aus dem östlichen Europa, die nach 1945 verfolgt wurden, vertrieben wurden, und dann insbesondere als Opfer des Kommunismus gesehen wurden. Das ist ganz wichtig in dem Zusammenhang festzuhalten.
FINCK: Dieser Begriff „Wiedergutmachung durch Migration“, trifft das auch auf die jüdischen Kontingentflüchtlinge zu, die ja auch nach 1991 kommen? In ihrem jüngsten Buch untersuchen sie beide Gruppen gemeinsam und sprechen deshalb nicht über Russlanddeutsche oder über Juden, sondern über postsowjetische Migration. Was sind da Gemeinsamkeiten und Unterschiede?
PANAGIOTIDIS: Eine Gemeinsamkeit ist tatsächlich diese Wiedergutmachung durch Migration. Also bei den Juden, denen bot man die Aufnahme in Deutschland an, quasi als Wiedergutmachungen für die Shoah, für den Holocaust. Das war ein anderer Status. Die mussten nicht nachweisen, dass sie Deutsche sind, sondern dass sie Juden sind. Die bekamen dann nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, aber einen unbefristeten Aufenthaltsstatus. Sie bekam auch bestimmte Integrationshilfen. Das heißt, wir haben es im Grunde mit zwei Zuwanderungsgruppen aus der ehemaligen Sowjetunion zu tun, die einen relativ privilegierten Status bekamen, im Vergleich zu anderen Zugewanderten, im Vergleich zu anderen Geflüchteten, die beide überwiegend russischsprachig waren, und die beide eine interessante, also interessante im Sinne von durchaus unerfreuliche Erfahrung machten, nämlich, dass sie im Fall der Russlanddeutschen, das ist ein Satz, den Ihnen jeder Russlanddeutsche dieser Aussiedlergeneration sagen wird: Dort waren wir die Deutschen, und hier sind wir die Russen.
FINCK: Dort waren wir die deutschen Faschisten, hier sind wir die Russen.
PANAGIOTIDIS: Genau, und diese Erfahrungen haben jüdische Kontingentflüchtlinge ganz ähnlich gemacht. Dort waren sie ganz klar als Juden stigmatisiert, hier wurden sie als Russen wahrgenommen, weil sie halt Russisch sprachen undder Kurzschluss in der Logik ist, wer Russisch spricht, ist auch Russe. Und diesen Begriff, der wird in der Forschung gefasst so unter dem Begriff „doppelte Fremdheit“. Man war dort fremd, man ist hier fremd, und man muss irgendwie damit umgehen.
FINCK: Sind die jüdischen Kontingentflüchtlinge und die Spätaussiedler sich denn untereinander nahe? Sie haben ja viele Interviews geführt. Wie ist das Verhältnis?
PANAGIOTIDIS: Meine Beobachtung war eigentlich immer, es gibt gewisse Berührungspunkte, aber es gibt irgendwie auch klare Abgrenzung. Dazu kann ich ein Beispiel anführen von einer Tagung vor etlichen Jahren in Berlin, wo’s auch um postsowjetische Migration, Russlanddeutsche, Kontingentflüchtlinge und politische Fragen ging. Und da ging es um die Frage der Renten, was ein Thema ist, das beide Gruppen betrifft, dass viele alte Menschen, die bei diesen Migrationen mitgekommen sind, keine auskömmlichen Renten haben. Weil ihre Arbeitsjahre in der Sowjetunion gar nicht oder nicht vollständig anerkannt werden. Das betrifft beide Gruppen, diese jüdischen Kontingentpflichtlinge noch stärker. Damals ging es darum, zu sagen, will man da nicht was gemeinsam gegen tun. Eine Allianz bilden. Von Spätaussiedlern und Kontingentflüchtlingen. Und der damalige Vorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland erteilte dem eine klare Absage. Nein, das ist kein gemeinsames Anliegen, das wollen wir nicht.
FINCK: Also überspitzt formuliert, nicht nur: Wir sind doch keine Türken, sondern auch: Wir sind doch keine Juden.
PANAGIOTIDIS: Ja, wobei, ich würde gar nicht da unbedingt Antisemitismus unterstellen wollen, sondern es ging vor allem um eine Abgrenzung des Eigenen. Eine Abgrenzung der eigenen Gruppe von anderen. Diese Abgrenzung, die passiert übrigens auch in beide Richtungen, so ist es nicht. Also, wenn man mit jüdischen Kontingentflüchtlingen spricht, dass die zum Teil auch auf die Russlanddeutschen herabschauen, weil die jüdische Bevölkerung vor allem aus den Städten kam, aus großen Städten, aus Leningrad beziehungsweise St. Petersburg, aus Moskau, Kiew, Odessa,
FINCK: sehr gebildet waren,
PANAGIOTIDIS: … genau, und letztlich mit diesen, in Anführungszeichen, Landeiern aus Kasachstan überhaupt nichts anfangen können. Das heißt, da gibt es ein starkes Element von Klassismus. Und auch so von, ja, Stadt-Land-Gefälle eigentlich. Das heißt, es gibt schon, es gab zumindest traditionell relativ starke Abgrenzungen. Was sich aber in der jüngeren Generation auch relativiert zum Teil. Weil die zweite Generation, zum Teil ja schon die dritte Generation, durchaus auch anders auf die Dinge blickt und stärker tatsächlich in Richtung Allianzen auch denkt, die man bilden kann.
Musikakzent
FINCK: In Ihrem jüngsten Buch lautet gleich der erste Satz, die Russlanddeutschen, die Spätaussiedler, seien die größte Migrationsgruppe seit 1991. Ich habe in der Vorbereitung unseres Gesprächs mal rumgefragt unter Kollegen, Freunden, in der Familie. Was glaubt ihr, wer ist die größte Gruppe? Keiner hat das erraten. Das hat jetzt natürlich nur anekdotische Evidenz, ist keine repräsentative Umfrage. Trotzdem denke ich, dass das sehr typisch ist. Russlanddeutsche werden von der deutschen Mehrheitsgesellschaft wenig bis gar nicht wahrgenommen. Man weiß über sie nichts. Warum ist das so?
PANAGIOTIDIS: Ja, das ist eine Frage, die mich und andere länger umtreibt. Wieso ist das eigentlich so, dass diese Wahrnehmung so verzerrt ist? Zunächst einmal tatsächlich, was die Größenverhältnisse betrifft, dass nicht „die Türken“ die größte Zuwanderungsgruppe sind, sondern die postsowjetischen MigrantInnen …
FINCK: Jetzt seit 1991,
PANAGIOTIDIS: Seit 1991, aber auch von denen, die aktuell im Land leben, sind es einfach die meisten. Zum Teil hat es damit zu tun, dass halt die, ja, „die Türken“, in Anführungszeichen, oder ab/nach 9/11 ja auch verstärkt, „die Muslime“, viel mehr negative Publicity bekommen haben. Und in dem Sinne diese Wahrnehmung verstärk wird: Migration, das sind halt Muslime. Das sind die problematischen Gruppen, das sind die, über die wir reden. Jetzt ist es so, dass wenn über Spätaussiedler geredet wurde, dann eigentlich meistens auch nur in Problemkontexten. Also in den 90er Jahren, da waren die tatsächlich gar nicht so unsichtbar. Da galten die auch als extrem problematische Gruppe. Jedes Stadtviertel, in dem viele Russlanddeutsche lebten, einschließlich der Siedlung, in der ich aufgewachsen bin, hieß dann wahlweise Stalinallee oder Klein-Kasachstan oder was weiß ich. Das wurde auch alles in hohem Maße stigmatisiert, und die galten als extrem problematische Gruppe. Dann wurde es irgendwie ruhiger, dann haben sich auch viele reale Probleme mit der Zeit ein bisschen aufgelöst.
FINCK: Was waren denn reale Probleme?
PANAGIOTIDIS: Reale Probleme waren zum Beispiel: die sogenannte mitgenommene Generation, Jugendliche, die im Teenageralter nach Deutschland kamen und kein Deutsch konnten und sich nicht gut zurechtfanden. Ich meine, da muss man immer so ein bisschen vorsichtig sein, weil das auch ein mediales Klischee war, diese problematischen jungen Russlanddeutschen. Aber das gab es schon, das ist auch ein normaler Teil von so einer Migration, ich muss das nochmal wirklich betonen, wie viele Menschen, zwei Millionen Menschen innerhalb von zehn Jahren ungefähr. Das ist wirklich eine enorme Bewegung, da sind viele Menschen betroffen, und entsprechend gab es da schon auch Probleme mit Gewalt, mit Kriminalität, mit Drogen. Das gab es alles, und das hat sich dann in dem Maße beruhigt, dass zum Teil die auch einfach erwachsen wurden. Und diejenigen, die halt wirklich auf die schiefe Bahn geraten sind, waren dann auch einfach im Gefängnis. Aber ich denke, bei den meisten hat sich die Lage beruhigt. Und dann sind sie im Prinzip in diese Unsichtbarkeit gegangen. Viele haben sich dann ihre Häuschen gebaut, das war ja auch so ein Klischee, aber auch, das der Wirklichkeit in vielen Fällen entsprach, dass die halt sehr schnell Wohneigentum geschaffen haben, weil sie sich einfach selber Häuser gebaut haben. Und zwar in großen Familienverbänden oder Dorfverbänden, die einander halfen damit. Und so entstanden ganze Neubausiedlungen mit Russlanddeutschen Familien. So eigentlich entstand so ein bisschen so eine kleinbürgerliche Idylle, wenn man so will, eine kleinbügerliche Unsichtbarkeit, die dann aber gestört wurde, sagen wir mal, ab 2015, 16, in dem Zusammenhang mit erstens dem Aufstieg der AfD, die sehr stark medial geframt wurde als Partei der Russlanddeutschen, oder die Russlanddeutschen als treue Parteigänger der AfD, und im Zusammenhang mit der zunehmenden Aggressivität von Putins Russland und vermeintlichen Sympathien innerhalb der Gruppe dafür. Da haben wir auch wieder dieses Muster: Wenn nichts passiert, dann sind sie unsichtbar, aber sobald Sichtbarkeit entsteht, ist es meistens negative Sichtbarkeit. Das ist generell ein Problem bei vielen Migrationen. So auch bei Spätaussiedlern.
FINCK: Lassen Sie uns mal über diese beiden Punkte reden, die AfD und eine vermeintliche Nähe zwischen Russlanddeutschen und AfD, und über Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Punkt eins, ich habe kürzlich den Film der Journalistin Kira Funk gesehen, von 2024. „Russlanddeutsche, die AFD und ich“ heißt er, sehr sehenswert. Dort macht sie klar, dass die AfD tatsächlich die einzige Partei war, die sich ganz gezielt an Russlanddeute gewandt hat, unter anderem mit russischsprachigen Broschüren, und immer wieder hineingegangen ist, in die Familien, in Gruppierungen, und mit ihnen geredet hat. Gibt es inhaltlich vielleicht doch eine Nähe?
PANAGIOTIDIS: Wie bei so vielen Klischees – Es gibt einen wahren Kern. Es gibt empirische Daten, die zeigen, dass es innerhalb der russlanddeutschen Wählerschaft einen überdurchschnittlichen Zuspruch zur AfD gibt. Das ist Fakt. Das lässt sich mit Zahlen belegen. Das ist nicht die Mehrheit der Russlanddeutschen. Das muss man auch immer wieder betonen. Aber es ist eine signifikante Minderheit. Es gibt zum Teil eine gewisse Nähe. Das ist eine Tatsache. Das hat damit zu tun, dass es einen Teil der russlanddeutschen Wählerschaft gibt, der stark konservativ ist, auf konservative Werte besteht, die früher in der CDU gut aufgehoben fand. Und viele sahen halt diese konservativen Werte nicht mehr in der CDU gut aufgehoben und haben dann woanders ihre politische Heimat gefunden. Der Faktor Russland spielt da sicher auch eine Rolle, für manche. Der Ukraine-Krieg, also der russische Krieg gegen die Ukraine, hat die Community definitiv gespalten. Wobei – die Spaltung begann schon 2014 mit der Annexion der Krim, wo sich die Geister dran geschieden haben. Und manche sagten, toll, Russland ist wieder wer, und andere sagten, um Gottes Willen, das ist ganz schlimm. Und diese Spaltung, die durch die Familien zum Teil läuft, oft entlang von Generationsgrenzen, aber auch nicht nur, die ist mit der Vollinvasion ab Februar 2022 noch stärker geworden. Und da hört man immer wieder, dass dann wirklich Familien drunter leiden, dran zerbrechen beziehungsweise sie dann den Ausweg wählen, lieber gar nicht drüber zu reden, bevor man sich in die Haare kriegt darum. Aber grundsätzlich haben diese Ereignisse in Russland, in der Ukraine, einen starken Einfluss auf die Community, auf jeden Fall.
PANAGIOTIDIS: Herr Panagiotidis, ich würde zum Schluss gerne über so etwas wie russlanddeutsche Erinnerungskultur sprechen. Die bereits erwähnte Autorin Inna Hartwig hat geschrieben, ihre Großmutter Frieda, nochmal: 1910 geboren, zweimal deportiert, sei wie eine verschlossene Tür gewesen, hart und undurchdringlich. Sie habe nie etwas über ihre Vergangenheit erzählt, nie von dem Leid und den Schmerz geredet, sondern das weggeschlossen. Ist das typisch für die ältere Generation der hierher Gekommenen?
PANAGIOTIDIS: Für diese Erlebnisgeneration, diese Menschen, die die Deportation oder Deportationen, im Plural, sogar erlebt haben, ist es ein wiederkehrendes Motiv, dass sie eigentlich über ihre Erfahrungen nicht reden konnten, zum Teil wegen dem politischen Kontext in der Sowjetunion, weil das nicht opportun war, darüber zu reden. Aber auch, weil die Kinder das nicht hören wollten oder weil man die Kinder auch nicht damit belasten wollte. Das sind ja auch traumatische Erlebnisse, die die Menschen mit sich rumschleppten. Und – auch eine Anekdote, die ich in der Hinsicht sehr erhellend finde. Vor Jahren hatten wir mal eine Tagung am Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, der Referent war Psychotherapeut, und der sprach über seine russlanddeutschen Patientinnen und Patienten und deren Traumata. Und ich war mir nicht sicher, wie das beim Publikum ankommen würde. Ich habe mir gedacht, vielleicht wird das eher negativ aufgefasst, weil man nicht pathologisiert werden will. Aber das Gegenteil war der Fall. Das Publikum, das überwiegend russlanddeutsch war, war total aufgeschlossen. Das hat bei denen wirklich was ausgelöst, weil sie, glaube ich, zum Teil ihre eigenen, aber zum Teil auch die Erfahrung ihrer Eltern und Großeltern begannen zu verstehen. Und irgendwie begannen sie zu verstehen, warum über Dinge nicht geredet wurden, warum diese Türen verschlossen waren. Da steckt unheimlich viel unter der Oberfläche.
FINCK: Würden Sie meinen Eindruck bestätigen, dass es in der jüngeren Generation, also zum einen bei den sogenannten Mitgebrachten oder Mitgenommenen, die als Kinder hergekommen sind, als auch den noch Jüngeren, die hier geboren wurden, dass sich das hier sehr ändert? Es gibt jedes Jahr mehr und mehr Bücher, Veröffentlichungen, es gibt Podcasts, zum Beispiel den Podcast „Steppenkinder“, die sich ganz gezielt mit dieser Thematik, mit der Erinnerung, mit der Verdrängung, dem Wiederhervorholen, mit dem Gespräch zwischen Generationen, befassen.
PANAGIOTIDIS: Das ist etwas, was jetzt einsetzt, ganz definitiv. Und was in gewisser Hinsicht vielleicht auch jetzt erst einsetzen konnte. Als ich 2014 meine damalige Stelle in Osnabrück antrat als Junior-Professor für Migration und Integration der Russlanddeutschen, da gab es sehr, sehr wenig an solcher Memoirenliteratur. Es gab schon Erlebnisberichte, aber relativ wenig, was wirklich sichtlich war in der Öffentlichkeit. Es gab kaum Journalistinnen und Journalisten mit russlanddeutschem Hintergrund. Das hat sich seitdem sehr, sehr verändert. Es gibt viel mehr hörbare Stimmen. Jetzt aktuell ist publiziert das Buch von Ira Peter, „Deutsch genug?“, Fragezeichen, über ihre Herkunft und die russlanddeutsche Geschichte. Ira Peter ist auch eine der Macherinnen dieses Podcasts „Steppenkinder“, zusammen mit Edwin Warkentin, vom Kulturreferat der Russlanddeutschen. Das ist wirklich so ein Aushängeschild für diese neue Generation, die über ihre Herkunft spricht, sprechen möchte. Das gefühlte Stigma, das es vielleicht auch bei der früheren Generation gab, das ist weg. Man möchte darüber reden, aber man möchte selber darüber reden, und man möchte nicht reduziert werden auf irgendwas, auf Russland insbesondere. Deswegen ist dieser Begriff „Steppenkinder“ auch sehr interessant, weil er auf diese Landschaft, auf die Steppe, die eben vor allem für Kasachstan charakteristisch ist, aber auch für diese Teile Russlands, dass man darauf zurückgreift, auf diese Herkunft aus einer bestimmten Region, auf geteilte Erfahrungen. Das passiert jetzt verstärkt in den letzten fünf bis zehn Jahren, und das ist vielleicht auch ein Stück weit typisch, dass erst die zweite Generation in so einer Migration, also die Generation, die hier aufgewachsen ist, dass die eigentlich erst die Sprache findet, um über die eigenen Erfahrungen, aber auch die Erfahrungen der Eltern und Großeltern zu sprechen und sie sichtbar zu machen. Das passiert, und das ist auch gut, dass das passiert.
FINCK: Herr Panagiotidis, ganz herzlichen Dank für das Gespräch heute.
PANAGIOTIDIS: Sehr gerne.
Musik
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 5: Doppelt fremd: Russlanddeutsche. Kolonisten, Deportierte, Spätaussiedler
Almut Finck im Gespräch mit Jannis Panagiotidis
Eine Kooperation mit der Stiftung Orte der Deutschen Demokratiegeschichte
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