Wer muss raus, wer darf rein? Geschichte der deutschen Staatsbürgerschaft
Shownotes
1912 reiste der Schriftsteller Stefan Zweig in die USA und erinnerte sich später: "Niemand fragte mich nach meiner Nationalität, meiner Religion, meiner Herkunft. Und ich war ja, fantastisch für unsere heutige Welt der Fingerabdrücke, Visen und Polizeinachweise, ohne Pass gereist." Tatsächlich ist der Pass eine junge Erfindung. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Passwesen international standardisiert. Das heißt nicht, dass vorher nach Deutschland einreisen durfte, wer wollte – und bleiben schon gar nicht. Vor allem Polen und Juden waren in den vielen kleinen deutschen Staaten wenig gelitten, sagt Dieter Gosewinkel. Ein einheitliches Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht für alle Deutschen wurde 1913 verabschiedet. Es galt im Grundsatz bis zum Jahr 2000. In dieser Folge wird erklärt, was der Unterschied zwischen Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit ist, welche Rolle das „Blut“ dabei spielt und wie absurd, aber leider wirkmächtig, die rassistische Vorstellung ist, das Blut des einen Volkes könne durch Vermischung mit dem Blut von Angehörigen eines anderen „verschmutzt“ werden.
Dieter Gosewinkel ist Historiker und Jurist. Er lehrt als Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin, forscht am Hamburger Institut für Sozialforschung und ist zudem als Gast am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung tätig. Seit über 30 Jahren beschäftigt er sich mit der komplexen Geschichte der Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa. In seinen Arbeiten zeigt er eindrücklich, wie eng Staatsbürgerschaft mit Fragen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung verknüpft ist.
Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.
Staffel 4, Folge 3 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.
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TEASER:
GOSEWINKEL: Es entspricht auch den Grundsätzen der Demokratietheorie, die besagt, dass die Menschen, die im Territorium eines Landes, eines Staates leben und die an seinem Wohl und Wehe teilhaben, die vor allen Dingen dort arbeiten und die Steuern zahlen, dass diese Menschen, sofern sie langansässig sind und gesetzestreu sind, auch möglichst Staatsbürger sein sollten. Wenn sie von der Demokratie betroffen sind, so sollen sie auch die Demokratie gestalten können.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 3: Wer muss raus, wer darf rein? Geschichte der deutschen Staatsbürgerschaft
Almut Finck im Gespräch mit Dieter Gosewinkel
FINCK: Herr Gosewinkel, sind Sie Deutscher?
GOSEWINKEL: Ja.
FINCK: Können Sie das beweisen?
GOSEWINKEL: Ja.
FINCK: Wie?
GOSEWINKEL: Durch einen Staatsangehörigkeitsausweis, den ich beantragen kann und der bei jeder Behörde im In- und Ausland anerkannt wird.
FINCK: Und durch einen Pass natürlich.
GOSEWINKEL: Nein. Der Pass zählt weniger als der Staatsangehörigkeitsausweis. Der Pass folgt aus der Staatsangehörigkeit, die man durch andere Dokumente belegen muss.
FINCK: Dieser Staatsangehörigkeitsausweis. Könnte ich den auch bekommen?
GOSEWINKEL: Sind Sie Deutsche?
FINCK: Ja.
GOSEWINKEL: Dann bekommen Sie ihn.
FINCK: Warum hab‘ ich den nicht? Da hört man wenig drüber.
GOSEWINKEL: Man braucht ihn nur dann, wenn man beispielsweise in den öffentlichen Dienst eingestellt werden will. Oder wenn es Fragen der Wehrpflicht gibt. Die es aber nicht mehr gibt. Von daher ist die Bedeutung des Staatsangehörigkeitsausweises reduziert.
FINCK: Ihre Staatsangehörigkeit kennen wir jetzt schon. Ich möchte Sie aber noch etwas genauer vorstellen. Dieter Gosewinkel ist Historiker und Jurist. Er ist Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin. Er forscht auch am Hamburger Institut für Sozialforschung und ist Gast am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Gosewinkel erforscht seit über 30 Jahren die komplexe Geschichte der Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa und hat in seinen Arbeiten gezeigt, wie eng Konzepte von Staatsbürgerschaft mit Fragen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung verknüpft sind, weshalb wir ihn auch eingeladen haben zu unserer heutigen Folge, in der es ja genau darum geht, Wer muss raus, oder wer muss draußen bleiben, wer darf rein? Herr Gosewinkel, Sie haben einmal auf die Frage nach den Anfängen Ihres Forschungsinteresses mit einem ganz besonderen Erlebnis 1977 in Moskau geantwortet. Würden Sie uns diese Geschichte auch erzählen?
GOSEWINKEL: Ja. Ich war 1977 Student und hatte durch einen Onkel, der an der deutschen Botschaft in Moskau arbeitete, die Gelegenheit, an der Botschaft zu sein. Und eines Tages kam mein Onkel auf die Idee, ich könne ihm ja helfen, da er in der Konsularabteilung tätig war und die Aufgabe unter anderem hatte, Pässe auszugeben an sogenannte Volksdeutsche, die in der damaligen Sowjetunion, teilweise auch in anderen Ländern des damaligen Ostblocks lebten und die sogenannte ethnische Zugehörigkeit zum deutschen Volk nachweisen konnten. Eine Eigenschaft, die durch Artikel 116 des Grundgesetzes vorgesehen ist und der deutschen Staatsangehörigkeit gleichgestellt wird. Wer also Volksdeutscher ist und war damals, hatte grundsätzlich die Möglichkeit, sich um einen deutschen Pass zu bewerben. Viele Menschen, insbesondere in der Sowjetunion, beantragten diesen Pass, und ich hatte die Aufgabe, diese neuen, druckfrischen, damals grünen Reisepässe den Menschen zu geben, die ihn beansprucht hatten und auch das Recht darauf hatten. Ich trat in einen Raum, in dem eine Reihe von ungefähr 20 Menschen saß und mich, einen Studenten von damals 21 Jahren ungefähr, ansahen, als sei ich der Heilsbringer. Ich war in einer merkwürdigen Situation. Ich hatte einen Stapel von 20 Pässen in der Hand und nannte dann die Namen der Personen, die in dem Raum saßen und die dann der Reihe nach aufstanden und mit einer geradezu demütigen Geste, das werde ich nicht vergessen, den Pass in Empfang nahmen. Und das bedeutete, dass sie die Möglichkeit bekamen, deutsche Staatsangehörige zu sein, die Möglichkeit bekamen auszureisen. Diese Empfindung, die die Menschen an den Tag legten, diese Erleichterung und auch diese Freude und Bewegtheit, das war etwas Besonderes. Und so etwas hatte ich mit meinem eigenen Pass, den ich immer selbstverständlich irgendwie an der damals französischen Grenze oder Schweizer Grenze benutzt hatte, nie verbunden. Und ich hab‘ gemerkt, dass ein solcher Pass für andere Menschen, die ihn erst erlangen müssen und die in anderen Verhältnissen leben und hineinkommen wollen in die Bundesrepublik, eine immense Bedeutung haben kann.
FINCK: Pässe erscheinen uns heute ja selbstverständlich. Das waren sie aber nicht immer. Stefan Zweig schreibt in seinen autobiographischen Erinnerungen, Die Welt von gestern, die im Exil entstanden, 1939-1942, wie er ohne Pass 1912 nach Amerika reiste, Zitat: „Niemand fragte mich nach meiner Nationalität, meiner Religion, meiner Herkunft. Und ich war ja, fantastisch für unsere heutige Welt der Fingerabdrücke, Visen und Polizeinachweise, ohne Pass gereist. Zitat Ende. Herr Gosewinkel, seit wann gibt es denn Pässe in Deutschland und in Europa?
GOSEWINKEL: Pässe sind in systematischer Form in den Staaten Europas nach 1918, während des Krieges und in der Folge des Ersten Weltkrieges, eingeführt worden und verpflichtend gemacht worden. Davor gab es Ausweisdokumente, die anderen Zwecken dienten, die teilweise keine Lichtbilder hatten, die dazu dienten, in ganz bestimmte Länder zu ganz bestimmten Zwecken reisen zu können, mit ganz bestimmten Personen, die darauf eingetragen waren. Das waren quasi – eher das, was man heute Visa nennen würde.
FINCK: Ein Pass dokumentiert – richtig? – was? Staatsangehörigkeit? Oder Staatsbürgerschaft?
GOSEWINKEL: Ein Pass dokumentiert die Staatsangehörigkeit. Die Staatsangehörigkeit ist der juristische Begriff für die formale Zugehörigkeit zu einem Staat. Staatsbürgerschaft, wenn man es begrifflich klar auseinanderhält, bezeichnet die Rechte, die mit der Staatsangehörigkeit verbunden sind. Es ist in der heutigen, auch politischen Sprache so weit gekommen, dass der Begriff Staatsbürgerschaft für beides benutzt wird, sowohl für die formale Zugehörigkeit zu einem Staat, die durch den Pass dokumentiert wird, und die Rechte, die damit verbunden sind.
FINCK: Wie hängt die Herausbildung eines Konzepts von Staatsbürgerschaft mit der Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert zusammen?
GOSEWINKEL: Wenn wir von Deutschland reden, so hängt die Herausbildung einer Staatsangehörigkeit nicht mit dem Nationalstaat zusammen, sondern mit der Herausbildung von Staatlichkeit als solcher. Staatlichkeit in Deutschland war bis 1866 beziehungsweise 1871, also bis zur Gründung des Deutschen Reiches, eine regionale Staatlichkeit, eine Staatlichkeit von Staaten, die man heute als Bundesstaaten bezeichnet.
FINCK: Also man war Preuße und Bayer …
GOSEWINKEL: Man war Preuße, wie Sie sagen, preußischer Untertan, im Übrigen. Der juristische Begriff war nicht Staatsangehöriger oder Staatsbürger in Preußen, sondern Untertan. Es gab das preußische Untertanengesetz von 1842, das bis 1918 galt. Bayern hatte interessanterweise – fortschrittlich – bereits den Begriff des Staatsbürgers in seiner Verfassung. Im Grunde bedeutete das alles das gleiche, dass man nämlich in Bayern oder in Preußen oder in Hessen-Kassel oder in Sachsen die Staatsangehörigkeit hatte, das heißt, Angehöriger dieses Staates war. Dann kam der Übergang zum Nationalstaat durch die Gründung des Deutschen Reiches 1871, und damit bezog sich die Staatsangehörigkeit eben nicht mehr nur auf die Länder, die in diesem Nationalstaat vereinigt waren, sondern auch auf das Reich als Ganzes. Daher stammt der Begriff des berühmten „Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes“. Das ist ein komplizierter juristischer Name für ein Gesetz, das 1913 erlassen wurde, vom Reichstag verabschiedet wurde, und dieses Gesetz spiegelt die Zweiteiligkeit der deutschen Staatsangehörigkeit, einerseits Staatsangehörigkeiten der Länder, andererseits eine Staatsangehörigkeit des Reiches.
FINCK: Dieses Gesetz von 1913 – Hat das auch geregelt, wer Deutscher werden durfte?
GOSEWINKEL: Ja. Das Gesetz von 1913 hat genau das regeln wollen und für alle im Deutschen Reich vereinigten Staaten verpflichtend. Hat gemeinsame Regeln aufgestellt, reichsweite Regeln aufgestellt, und die Grundsätze der Staatsangehörigkeit, das heißt auch des Staatsangehörigkeitserwerbs und des -verlusts, maßgeblich für alle Staaten des Reiches geregelt.
FINCK: Wie war das denn vor 1913 im Kaiserreich? Wer durfte dort rein, wer durfte nicht rein? Wer durfte sogar eventuell Deutscher werden? Und wer nicht?
GOSEWINKEL: Es gab zwei Gruppen, die in besonderer Weise von Ausschlusskriterien und von Restriktionen betroffen waren. Das waren Menschen polnischer Nationalität, das heißt polnischer Sprache und Tradition, einerseits und jüdischer Religion andererseits. Übrigens gab es häufig eine Überschneidung zwischen diesen beiden Gruppen. Gegen beide Gruppen insbesondere richtete sich die Einwanderungs-, aber vor allen Dingen Einbürgerungspolitik des preußischen Innenministeriums. Es gab klare Vorbehalte gegenüber Juden. Juden waren als Neubürger nur begrenzt gern gesehen. Sie waren dann gelitten, wenn die Kinder der Einwandernden sich dem preußischen Militärdienst zur Verfügung stellten. Das heißt, die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion war kein absolutes Ausschlusskriterium. Sie war allerdings eine Erschwernis. Man muss sagen, wenn man bei den Juden einmal bleibt, dass diese Politik der Beschränkung jüdischer Einwanderung nicht nur von religiösen, sondern auch von sogenannten Rasseargumenten zunehmend mitgetragen wurde. Ich habe das einmal so genannt, dass die Statistik des preußischen Staates, die sehr präzise darüber wachte, wie sich die Bevölkerung im preußischen Staat zusammensetzte und veränderte, dass diese Statistik, die in den 1860, 70er Jahren entstand, aus dem Geist des Antisemitismus entstanden ist, also um Juden weitgehend fernzuhalten.
Musikakzent
FINCK: Herr Gosewinkel, erklären Sie uns doch mal, was ist das sogenannte Abstammungsprinzip und was das Bodenprinzip?
GOSEWINKEL: Das Abstammungsprinzip besagt, dass man die Staatsangehörigkeit durch die Abstammung von staatsangehörigen Eltern erwirbt, das Bodenprinzip, dass man die Staatsangehörigkeit durch Geburt auf dem Territorium eines Landes erwirbt. Zwei unterschiedliche Prinzipien, die mit den lateinischen, römisch-rechtlichen, muss man sagen, Begriffen des ius sanguinis und des ius soli belegt werden. Diese beiden Prinzipien sind im Übrigen nicht vollkommen unvereinbar. Sie sind teilweise auch gemischt in manchen Ländern, sie sind eigentlich in fast allen Ländern gemischt, mit Ausnahme derjenigen, die ein reines Abstammungsprinzip haben. Und das Deutsche Reich von 1871 hat sich mit dem Gesetz von 1913, dem bereits erwähnten Reichs und Staatsangehörigkeitsgesetz, ein reines Abstammungsprinzip gegeben, das heißt durch Geburt konnte die deutsche Staatsangehörigkeit, nur durch Geburt, von staatsangehörigen Eltern erworben werden.
FINCK: Was besagt der Begriff der Volkszugehörigkeit?
GOSEWINKEL: Die Volkszugehörigkeit ist als Begriff in den 20er Jahren entstanden, um Menschen zu bezeichnen, die außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches mit einer deutschen Kultur und Tradition lebten. Das heißt, es handelte sich überwiegend um Menschen, große Gruppen von Menschen, die in den abgetrennten Gebieten des Deutschen Reiches, die aufgrund des Versailler Vertrages abgetrennt worden waren, sich als deutsch empfanden, deutsch waren, aber nicht mehr die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, weil sie sich in anderen Staaten befanden, deren Staatsangehörigkeit sie hatten annehmen müssen. Das ist die Entstehung des Begriffs des Volksdeutschen, er bezeichnet keine staatliche Zugehörigkeit, sondern eine ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit. Und dieser Begriff des Volksdeutschen jenseits der formalen Staatsangehörigkeit wurde zu einem Kampfbegriff, mit dem man versucht hat – Revisionsforderungen – diese Gebiete wieder zurückzubekommen ins Deutsche Reich, und die Hitler, das nationalsozialistische Deutschland, zugespitzt hat mit der Parole „Heim ins Reich“. Das heißt, die Menschen deutscher Volkszugehörigkeit, die eben nicht Deutsche waren, wieder ins Reich zurückzubringen, sei es, indem man sie zurückholte oder indem man als Reich sich die Territorien zurückholte. Insofern ist die Volkszugehörigkeit etwas anderes als die Staatsangehörigkeit. Aber sie ist dann im Verlauf der nationalsozialistischen Eroberungs- und Staatsangehörigkeitspolitik zu einem juristischen Begriff gemacht worden. Das heißt, die Volkszugehörigen, die das NS-Reich im Verlauf des Eroberungsfeldzugs in Osteuropa antraf, wurden mithilfe sogenannter Volkslistenverfahren – komplizierte bürokratische Verfahren – zu deutschen Staatsangehörigen, genauer zu Reichsangehörigen gemacht. Und damit hat die Volkszugehörigkeit, ein ursprünglich politischer Begriff, eine juristische Bedeutung bekommen und ist eine Voraussetzung für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit geworden.
FINCK: Oder eben des Ausschlusses.
GOSEWINKEL: Na ja, wer eben nicht die Volkszugehörigkeit besaß, hatte nur unter äußerst restriktiven Bedingungen eine Chance, Staatsangehöriger zu werden im Verlauf dieses nationalsozialistischen Eroberungsfeldzugs.
FINCK: Die Nazis waren bemüht, die Volkszugehörigkeit, die Volksgemeinschaft, so homogen wie möglich und so sauber, so rein wie möglich zu halten. Welche Rolle spielte das Blut und diese absurde Vorstellung, dass man Blut entweder reinhält oder verschmutzen kann?
GOSEWINKEL: Eine große Rolle. Eine zunehmende Rolle. Wir haben ja eben darüber gesprochen, dass das Abstammungsprinzip mit dem römisch-rechtlichen Begriff des ius sanguinis auch bezeichnet wird. Darin steckt das lateinische Wort sanguis, also Blut. Diese Gleichsetzung von Blut und Abstammung ist aber keine, die von Anfang an bestand. Das Abstammungsprinzip war seiner ursprünglichen Bedeutung nach ein administratives, ein verwaltungstechnisches Instrument, um Menschen einem bestimmten Staat zuzuordnen. Es erschien dem preußischen Gesetzgeber von 1842, der das Untertanengesetz gemacht hat, beispielsweise leichter, nach dem Abstammungsprinzip Menschen sich selbst zuzuordnen. Aber im Verlauf der Nationalisierung der deutschen Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese Abstammung zunehmend mit Blut in Verbindung gebracht. Und Blut war dann das Instrument, ein Zeichen dafür, dass man von bestimmten Eltern abstammte. Man hatte das gleiche Blut wie sie, hieß es, obwohl man natürlich ein anderes Blut hatte, aber … Diese an sich technische und funktionale Bestimmung von Abstammung wurde im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend, ich würde sagen substanziell, mit einer Substanz aufgeladen. Das heißt, das Blut wurde als Substanz entscheidend in seiner Zusammensetzung. Und die sozialdarwinistische und biologistische Vorstellung, so sagt man, von Blut als Träger ganz bestimmter Rassemerkmale, die in der damaligen Zeit enormen Aufschwung bekam und bis tief ins 20. Jahrhundert im rassistischen Denken eine Rolle gespielt hat, die führte dazu, dass Abstammung mit Blut gleichgesetzt wurde und dass das ernst genommen wurde in dem Sinne, dass nur ein ganz bestimmtes Blut die Voraussetzung für den Erwerb der Staatsangehörigkeit bedeuten konnte.
FINCK: Sie mussten selber gerade lachen. Und ich auch. Es ist einfach lächerlich, sich vorzustellen, dass man Blut in irgendeiner Weise beschmutzen könnte. Verschmutzen. Wie soll das gehen?
GOSEWINKEL: Weiß ich auch nicht. Man kann die Verschmutzung natürlich politisch definieren. Man kann behaupten, so machen es Rassisten allgemein, dass Menschen einer bestimmten Rasse, die sie einer Rasse zuschreiben, ein bestimmtes Blut hätten. Und dieses Blut, das bestimmte Merkmale trägt, sei nach Vorstellung eines bestimmten Staates oder Regimes einfach nicht tauglich für das eigene Staatsvolk. Das ist eine politische Setzung, auch eine durchaus willkürliche Setzung, mit der man entscheidet, dass man bestimmte Menschen, die so oder so aussehen oder diese und jene Kriterien haben, einfach nicht haben will. Und also legt man die Kriterien ins Blut, weil es so schön einfach ist. Man stellt sich einfach vor, das steckt alles im Blut. Man stellt sich das vor, man behauptet es, es wird politisch Mehrheit, und es wird durchgesetzt.
Musikakzent
FINCK: 1933. Das Gesetz, ich zitiere: Das „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung von Staatsbürgerschaft“, das war ein sehr drastischer Einschnitt. Was besagte dieses Gesetz?
GOSEWINKEL: Nach meiner Auffassung zerstörte es das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, indem es den Rechtsstatus, Staatsangehöriger zu sein, unsicher machte. Unsicher machte, in zweierlei Weise. Diejenigen deutschen Staatsangehörigen, die dem neuen Staat oder neuem Regime missliebig waren, konnten aus dieser Staatsangehörigkeit ausgestoßen werden, obwohl sie seit Generationen diese besaßen. Sie galten als Staatsfeinde, als Volksverräter oder sonst irgend etwas, womit sie im Verlauf der politischen Auseinandersetzungen belegt wurde. Und es gab zweitens die Möglichkeit, diejenigen, die eingebürgert worden waren, ein, zwei Jahrzehnte zuvor, diese Staatsangehörigkeiten wieder zu wegzunehmen.
FINCK: Können Sie mal ein paar Namen nennen? Wer da ziemlich am Anfang schon betroffen war?
GOSEWINKEL: Es war betroffen: Heinrich Mann. Rudolf Breitscheid, der sozialdemokratische Fraktionschef im Reichstag. Es war betroffen: Otto Wels, der die berühmte Rede gegen das Ermächtigungsgesetz, von Seiten der SPD, gehalten hatte, Lion Feuchtwanger und Kurt Tucholsky. Das sind nur einige der bekanntesten Namen.
FINCK: Dieses Gesetz hat ja nicht nur dazu geführt, dass man keinen Pass mehr hatte und auch das Land verlassen musste. Es ging einher mit einer wirklichen Entehrung.
GOSEWINKEL: Ja, ich habe einen Brief gelesen, den ein preußischer Staatssekretär namens Weiß, jüdischer Herkunft, Sozialdemokrat, dem neuen Regime missliebig, nach seiner Ausstoßung aus der deutschen Staatsangehörigkeit an das Reichsinnenministerium, das preußische Innenministerium, geschrieben hat. Also ein verdienter, hochrangiger preußischer Beamter, der dargelegt hat, dass ihn diese Ausstoßung aus einem Staat, dem er zeitlebens mit voller Kraft und Überzeugung gedient hatte, dass ihn diese Ausstoßung in seiner Ehre zutiefst gekränkt habe. Und das sei schlimmer noch als die materiellen Nachteile, die er damit erleide, und die Notwendigkeit, das Land zu verlassen. Weiß ist ein bedeutendes Beispiel, finde ich, um diese Ehrverletzung, die für viele mit dieser Ausstoßung auch verbunden waren, zu demonstrieren. Und es ist auch so erwünscht gewesen. Die Quellen zeigen, dass diese Ehrverletzung auch als zusätzliche Sanktion, als eine besonders persönliche Sanktion, auch erwünscht war. Thomas Mann, den es etwas später als seinen Bruder Heinrich erwischte, muss man sagen, die Ausweisung, bezeichnete die interessanterweise als eine Exkommunikation. Das heißt, in der Thomas Mann‘schen Begriffswelt rückt diese Ausstoßung aus der Staatsangehörigkeit in die Nähe einer Ausstoßung aus einer Kirchengemeinde, aus der kirchlichen Gemeinschaft. Auch das zeigt, wie symbolisch und emotional aufgeladen für die Betroffenen diese Ausstoßung war.
FINCK: Insgesamt wurden schätzungsweise 30.000 bis 40.000 Menschen durch dieses Gesetz ausgebürgert, ausgeschlossen. Ganz zynisch formuliert sind das ja nicht so viele, wenn man sich überlegt, wie viele die Nazis ermordet haben. Die Juden brauchte man gar nicht auszubürgern, da ging man ganz anders vor.
GOSEWINKEL: Wie Sie es sagen, ja. Das Gesetz vom Juli ‘33 fällt eben in die frühe Zeit des nationalsozialistischen Regimes. Es diente dazu, sich möglichst schnell der stimmmächtigen deutschen Intellektuellen, Künstler usw. zu entledigen, die eine besondere Wirkung im Land und teilweise auch im Ausland hatten. Das war eine schnelle Maßnahme. Abgesehen davon hat man dieses Gesetz auch später benutzt, um Kriminelle und andere missliebige Bevölkerungsgruppen außer Landes zu bringen bzw. aus der sogenannten Volksgemeinschaft auszustoßen. Aber nach diesen ersten Maßnahmen im Jahre 1933 gab es ja dann die Nürnberger Rassegesetze, zwei Jahre später, und die haben in sehr viel gründlicherer und grundsätzlicher Weise dazu geführt, dass die jüdische Bevölkerung, des Deutschen Reiches zunehmend schweren Restriktionen unterworfen wurde, die gar keine Ausstoßung aus der Staatsangehörigkeit benötigten, sondern die Menschen dermaßen als deutsche Staatsbürger, die sie waren, in ihren staatsbürgerlichen Rechten einschränkte, dass sie verkümmerten, dass sie ihr Eigentum aufgeben mussten, dass sie das Land verließen, auch ohne dass ihnen die Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Es gibt andere Mittel, Menschen so unter Druck zu setzen, dass sie das Land verlassen, obwohl ihnen nicht einmal der Pass entzogen wurde. Das wurde dann häufig auch noch später gemacht, aber sie wurden als Bürger, in ihren bürgerlichen Rechten, entgegen jeder Vorstellung von Gleichheit aus der Gemeinschaft der gleichberechtigten Staatsbürger ausgeschlossen, ohne sie ihrer Staatsangehörigkeit zu berauben.
FINCK: Und im schlimmsten Fall deportiert und getötet.
GOSEWINKEL: Ja, aber das geschah erst während des Krieges.
FINCK: Nach 1945, welche Antworten auf diese schreckliche Volkstumspolitik der Nazis mit den rigiden Ausschlussmechanismen, welche Antwort gibt unser Grundgesetz darauf?
GOSEWINKEL: Das Grundgesetz verbietet in Artikel 16, dass die deutsche Staatsangehörigkeit. entzogen werden darf, und gibt in Artikel 116 des Grundgesetzes die Möglichkeit, denjenigen, denen im Verlauf der nationalsozialistischen Regierungszeit die Staatsangehörigkeit gegen ihren Willen entzogen wurde, diese Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen. Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Das ist eine direkte Reaktion auf das Gesetz von 1933 und die gesamte nationalsozialistische Rasse- und Staatsangehörigkeitspolitik.
FINCK: Darf denn eine Einbürgerung rückgängig gemacht werden?
GOSEWINKEL: Einbürgerungen können und konnten immer dann rückgängig gemacht werden, wenn sie zum Beispiel unter Vortäuschung sogenannter falscher Tatsachen, also nicht zutreffender Tatsachen erlangt worden waren. In jedem Staatsangehörigkeitsgesetz der Welt gab und gibt es diese Gründe, die Einbürgerung rückgängig zu machen. Aber diese Gründe sind in Rechtsstaaten äußerst eng begrenzt. Es gibt inzwischen – und so verändert sich auch Staatsangehörigkeitsrecht – um nur ein Beispiel zu nennen, die Möglichkeit, die deutsche Staatsangehörigkeit, dann zu entziehen, wenn jemand sich einer terroristischen Vereinigung zur Verfügung gestellt hat und aktiv gekämpft hat, vorausgesetzt, er besitzt eine andere Staatsangehörigkeit und wird durch den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit nicht staatenlos. Also es gibt Möglichkeiten des Entzugs der Staatsangehörigkeit unter sehr engen und rechtsstaatlich kontrollierten und schließlich auch vom Bundesverfassungsgericht kontrollierten Voraussetzungen.
Musikakzent
FINCK: Machen wir mal einen zeitlichen Sprung in die 60er und 70er Jahre. „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Das hat Max Frisch gesagt, 1965, der Schweizer Schriftsteller. Wann begann man denn bei uns einen Schritt weiter zu denken, dass die Arbeitskräfte, die kamen, nicht nur Menschen wären, sondern möglicherweise auch irgendwann Deutsche, deutsche Staatsbürger würden werden wollen, werden sollen?
GOSEWINKEL: Das wurde deutlich in den 70er Jahren. Dass Menschen. die ihre Arbeitskraft hier zur Verfügung gestellt hatten, die viel für das Land getan hatten, sich halbwegs oder auch sehr wohlfühlten, in besseren Lebensbedingungen lebten, im Land bleiben. Das führte dazu, dass viele dieser sogenannten Gastarbeiter ihre Familien nachholten. Und der Familiennachzug, der nach meiner Kenntnis seit den 70er Jahren sehr stark wurde und auch vom Grundgesetz gefördert wurde und nicht einfach unterbunden werden konnte, dass dieser Familiennachzug ein ganz wichtiges Argument ist, um zu sagen, diese Familien bleiben im Land, wollen im Land bleiben, haben ihrerseits wiederum Kinder. Das heißt, es entsteht eine wachsende Bevölkerung, die für das Land viel tut, hier lebt, Steuern zahlt, sich weitgehend, natürlich nie durchweg, an die Regeln hält – aber nicht die Staatsangehörigkeit hat und auch nicht wählen darf. Und diese Diskrepanz zwischen dem Nutzen und dem Bleibewillen dieser Bevölkerung und ihrem staatsangehörigkeitsrechtlichen Status, diese Diskrepanz wurde immer deutlicher und hat dann zu verschiedenen politischen Initiativen geführt, die Einbürgerungsrichtlinien zu mildern, Voraussetzungen zu senken und die Möglichkeit der Einbürgerung zu erleichtern.
FINCK: Aber es hat trotzdem bis zum Jahr 2000 gedauert, bis wir eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts bekamen. Und diese Reform war sehr umstritten. Was waren damals die Hauptstreitpunkte?
GOSEWINKEL: Man muss sagen, dass die Erleichterung der Einbürgerung von Kindern, die von ausländischen Eltern auf deutschem Boden geboren wurden, dass diese Erleichterung ansatzweise bereits unter der letzten Regierung Kohl begann. Schon da war der Druck der Situation auch für die CDU/CSU geführte Bundesregierung groß genug, um eine gesetzliche Erleichterung zu schaffen. Systematisch tat das aber erst das neue Staatsangehörigkeitsgesetz der ersten rot-grünen Regierung im Jahre 1999, bzw. 2000 trat es in Kraft, 2000. Dieses Gesetz sah vor allem zwei Neuerungen vor. Es hob die Dominanz, oder besser gesagt die Exklusivität des Abstammungsprinzips auf, des Abstammungsprinzips von 1913. Erstmals wieder wurde im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht es möglich, dass man durch Geburt im Land die Staatsangehörigkeit erwerben konnte. Etwas, was knapp 100 Jahre nicht möglich gewesen war. Und das gab Familien, die schon etwas länger im Land ansässig waren, gesetzestreu gewesen waren, einen Arbeitsplatz hatten usw., die Möglichkeit, dass ihre Kinder qua Geburt, durch Geburt auf deutschem Boden, Staatsangehörige der Bundesrepublik werden konnten. Das ist die erste große Regelung. Die zweite Absicht dieses Gesetzes war, die Möglichkeit einer mehrfachen Staatsangehörigkeit, einer doppelten, hieß es damals, der doppelten Staatsangehörigkeit deutlich zu erleichtern. Und die große politische Diskussion und auch Gegnerschaft richtete sich vor allem gegen diese Ermöglichung der doppelten Staatsbürgerschaft – der sogenannte Doppelpass, der von prominenten Politikern der CDU, insbesondere von Roland Koch und von damals Wolfgang Schäuble, sehr stark kritisiert wurde.
FINCK: Weil man sagte, die können nicht loyal sein, wenn sie noch einen …
GOSEWINKEL: So ist es. Ja, das war das Argument. Ein doppelter Pass führt dazu, dass diese Menschen zwischen ihrem Heimatland und ihrem nunmehr Einbürgerungsland oder neuem Aufenthaltsland sich nicht entscheiden können.
FINCK: Wie ist die Situation heute? Haben wir den Doppelpass, oder haben wir nicht?
GOSEWINKEL: Weitgehend ja. Also die nun abgetretene Ampelkoalition hat eine wesentliche Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts eingebracht und die Möglichkeit der Beibehaltung von Mehrfachstaatsangehörigkeit bei Einbürgerung in Deutschland sehr gestärkt.
FINCK: Halten Sie diese Reform von 2000 auch angesichts der massenhaften Zuwanderung, die wir haben, seit 2015, für angemessen, oder müsste man da – und an welchen Stellen – nachbessern?
GOSEWINKEL: Ich persönlich, und das ist jetzt weniger eine wissenschaftliche als eine politische Aussage, halte sie für angemessen, weil sie eine kontrollierte Möglichkeit des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt auf deutschem Boden bietet. Es entsprach der Situation der Bundesrepublik mit einem immer stärker wachsenden Anteil von langansässigen Ausländern, die in die Staatsangehörigkeit hineinwollten. Es entspricht auch den Grundsätzen der Demokratietheorie, die besagt, dass die Menschen, die im Territorium eines Landes, eines Staates, leben und die an seinem Wohl und Wehe teilhaben, die vor allen Dingen dort arbeiten und die Steuern zahlen, dass diese Menschen, sofern sie langansässig sind und gesetzestreu sind, auch möglichst Staatsbürger sein sollten. Wenn sie von der Demokratie betroffen sind, so sollen sie auch die Demokratie gestalten können. Es geht hier nicht um Kriminelle. Wer permanent irgendwelche Gesetze bricht und wer sich gegen die Grundsätze der Bundesrepublik Deutschland stellt, der soll nicht eingebürgert werden. Das ist übrigens meine feste Überzeugung. Aber wer sich insgesamt an die Regeln gehalten hat, wer sich sozial integriert hat, soll selbstverständlich die Möglichkeit haben, in diesem Land, dem er seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt, auch politisch leben zu können.
Musikakzent
FINCK: Herr Gosewinkel, vor dem Hintergrund Ihrer jahrzehntelangen Forschung, was ist Ihre Meinung? Wie viel Zuwanderung verträgt eine stabile Demokratie? Wie viel bedroht sie, und wie viel braucht sie vielleicht, um überhaupt demokratisch genannt werden zu können?
GOSEWINKEL: Das ist eine schwierige Frage und eine politisch höchst umstrittene. Ich würde unterscheiden zwischen einer Vision, der Vision, dass es irgendwann auf dieser Welt keine Grenzen mehr geben muss, weil die Staaten nicht nur miteinander in Frieden leben, sondern es vorziehen, die Grenzen abzubauen, vielleicht sogar sich bereit erklären, eine Weltregierung einzusetzen. Das ist eine Vision, die immer wieder gehegt wurde und die, ich glaube, in den Herzen vieler Menschen steckt. In einer solchen Welt gibt es keine Grenzen mehr, und damit auch nicht die Notwendigkeit, Menschen abzuweisen, zu sortieren, zu selektionieren oder was auch immer an schlimmen, diskriminierenden Dingen in der Weltgeschichte passiert ist. Eine solche Weltgesellschaft wäre dann eine Weltdemokratie. Und in einer solchen Weltdemokratie braucht man keine Staatsangehörigkeit mehr. Da sind dann Staatsangehörigkeit und Demokratie vollkommen voneinander getrennt. In einer Welt, wie wir sie heute haben und wahrscheinlich auch auf längere Sicht haben werden, ist die Unterscheidung in Staaten immer noch elementar. Und Staaten unterscheiden sich dadurch, dass sie Grenzen ziehen. Wenn sie Grenzen ziehen, bedeutet das, dass sie den Eingang zu Ihrem Gebiet regeln wollen, dass sie nicht jeden hineinlassen wollen. Und wenn sie nicht jeden hineinlassen wollen, wollen sie auch nicht jeden einbürgern. Diese Entscheidung über die Grenzkontrolle und über die Einbürgerungskontrolle wird in jedem Staat der Welt getroffen, in autoritären Diktaturen ebenso wie in demokratischen Staaten. In autoritären Staaten auf willkürliche Weise, in demokratischen Staaten meistens, hoffentlich, glücklicherweise, durch demokratische Gesetze. Aber diese demokratischen Gesetze, in einem territorial umgrenzten Staat, treffen eine Entscheidung, wen man hineinnehmen will und wen nicht, wer mitbestimmen soll, und wer nicht. Eine Demokratie kann diese Entscheidung sehr großzügig treffen, sie kann sie auch restriktiv treffen. Das ist die Entscheidung eines demokratischen Volkes. Und diese Entscheidung ist nicht per se gut oder schlecht, sondern sie wird nach politischen Maßstäben getroffen. Solange also wir demokratische Staaten haben, die territorial begrenzt sind, glaube ich, dass offene Grenzen gegen die Demokratie verstoßen.
FINCK: Noch mal zugespitzt gefragt: Tut es einem territorial begrenzten demokratischen Staat gut, wenn sein Staatsvolk sehr heterogen ist? Wenn es immer wieder herausgefordert wird, weil eine Heterogenität, eine Vielfalt, erfordert, dass demokratische Prozesse wie Integration, wie miteinander Leben, letztlich immer wieder ein erneutes Einüben von Demokratie bedeutet?
GOSEWINKEL: Da stimme ich Ihnen zu. Wenn die Bevölkerung eines Landes sehr heterogen ist, das heißt Ausländer plus Staatsangehörige, wenn die insgesamt sehr heterogen ist, dann ist dieses Land von sehr viel mehr verschiedenen, möglicherweise auch divergierenden Interessen gekennzeichnet, die sich schwerer ausgleichen lassen und ständig ausgemittelt werden müssen, verglichen mit Ländern, in denen Konsens herrscht über politische, religiöse, traditionelle kulturelle Vorstellungen. Das bedeutet, dass in einer solchen relativ homogenen Gesellschaft das Regieren leichter ist, in einer relativ inhomogenen Demokratie das Regieren tendenziell schwerer wird. Es ist eine Entscheidung des demokratischen Staates, auch in einer sehr heterogenen Bevölkerung, sich dieser höheren und schwereren Aufgaben zu stellen. Ich halte das für eine größere Anforderung an einen demokratischen Staat, als Homogenität zu erzeugen. Es ist eine Herausforderung, die man politisch wollen muss, die man auch politisch mit großem Aufwand betreiben muss. Das kann eine Demokratie wollen. Ich will aber nicht sagen, dass es von der Demokratie gefordert ist, das zu tun.
FINCK: Herzlichen Dank, Her Gosewinkel, für das Gespräch
GOSEWINKEL: Gerne.
Musik
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 3: Wer muss raus, wer darf rein? Geschichte der deutschen Staatsbürgerschaft
Almut Finck im Gespräch mit Dieter Gosewinkel
Eine Kooperation mit der Stiftung Ort der Deutschen Demokratiegeschichte
FINCK: Wenn Sie sich mit dem Thema der gerade gehörten historycast-Folge noch weiter auseinandersetzen wollen: Hören Sie doch mal beim WDR-Zeitzeichen rein. Dort finden Sie eine Reihe von spannenden Sendungen zu ähnlichen Themen. Die Links dazu haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt.
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