Fußball mit Vielfalt. Migration im Sport
Shownotes
Entscheidend ist auf´m Platz. Beim Fußball entscheidet Können - und nicht Herkunft. Die besten Talente werden zu Superstars, egal welche Hautfarbe oder welchen Pass sie haben. Der Fußball-Historiker Dietrich Schulze-Marmeling berichtet im historycast allerdings auch, dass es in Deutschland lange anders war. Selbst Franz Beckenbauer durfte an einer Weltmeisterschaft nicht teilnehmen, weil er für einen US-amerikanischen Verein spielte. Günter Netzer ging zu Real Madrid. Solche "Vaterlandsverräter" wurden als Legionäre beschimpft, die sich für Geld verkaufen. Und wer anders war, hatte es in der Bundesrepublik schwer. Erwin Kostedde von Borussia Dortmund hatte einen deutschen Pass, aber eine dunkle Haut. Er musste sich von Kommentatoren als "schwarzer Bomber" titulieren lassen. Deutschtürken wie Mesut Özil und Ilkay Gündogan in der Nationalelf, das war nur gut, wenn es gut lief. Heute ist der Fußball international wie kein anderer Sport. Zwar nehmen Rassismus und Nationalismus dort auch wieder zu, doch Schulze-Marmeling sieht vor allem die verbindende Seite des Fußballs: "Manchmal denke ich, dass der Fußball weiter ist als unsere Gesellschaft. Ich habe Leute mit unterschiedlichem ethnischen, sozialen, religiösen Background drin, ich habe Dummies und Schlauis drin, und die sind alle auch noch Rivalen, die rivalisieren auch noch um ihren Platz auf dem Feld, und trotzdem funktioniert das alles irgendwie miteinander."
Dietrich Schulze-Marmeling ist einer der führenden Fußball-Historiker in Deutschland. Er schrieb die Geschichte des FC Bayern München und die von Borussia Dortmund. Bücher zu Judentum und Fußball, zu Taktik und Trainern, Europa- und Weltmeisterschaften.
Dr. Heiner Wember ist Radiojournalist und Historiker aus Münster.
Staffel 4, Folge 2 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.
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SCHULZE-MARMELING: Fußball ist so eine janusköpfige Angelegenheit, die sich in der einen wie der anderen Richtung instrumentalisieren lässt. Es gibt hässliche Seiten, sie kann für nationalistische Kampagnen mobilisiert werden und auch offensichtlich für rassistische. Aber Fußball kann auch verbinden, und manchmal denke ich, dass der Fußball auch weiter ist als unsere Gesellschaft. Gerade wenn ich mal die Fußballmannschaft nehme. Ich habe Leute mit unterschiedlichem ethnischen, sozialen, religiösen Background drin, ich habe Dummies und Schlauis drin, und die sind alle auch noch Rivalen, die rivalisieren ja auch noch um ihren Platz auf dem Feld, und trotzdem funktioniert das alles irgendwie miteinander.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration: Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 2: Fußball mit Vielfalt
Migration im Sport
Heiner Wember im Gespräch mit Dietrich Schulze-Marmeling
WEMBER: „Entscheidend ist auf´m Platz“. Dieser Spruch des Dortmunder Stürmers und späteren Trainers Adi Preißler gilt für die gesamte Fußballgeschichte in Deutschland. Doch wer steht eigentlich auf´m Platz? Heute in den Riesenstadien, aber auch auf den holprigen Wiesen, wo vor dem Ersten Weltkrieg gekickt wurde. Auch damals galt schon: Migration hilft. Wer Trainer aus England anwarb, Spieler aus anderen Städten auslieh, zu Spielen ins Ausland fuhr, der hatte auch Erfolg. Zum Beispiel der FC Bayern München. Was war da los in München im Jahr 1900, Herr Schulze-Marmeling? Im Weinhaus Gisela.
SCHULZE-MARMELING: Ja, da trafen sich einige Zugereiste, einer aus Berlin und einer auch aus Dortmund, darf man nicht vergessen. Die trafen sich, um einen Fußballverein zu gründen. Der Name Bayern täuscht dann auch so ein bisschen, weil, es waren vor allem Preußen, die diesen Verein ins Leben riefen, und keine Bayern.
WEMBER: Elf Leute waren es. Elf Männer
SCHULZE-MARMELING: Elf Leute waren`s, die sich von den Turnern getrennt hatten, sich als Fußballer eigenständig machen wollten. Die Turner sahen ja sehr skeptisch auf den Fußball, auf dieses englische Spiel, dieses fremde Spiel: interessante Figur auch noch dabei im Vorfeld dieser Gründung ist Walter Bensemann, vielleicht der deutsche Fußballpionier schlechthin, aus Berlin stammend, Sohn eines jüdischen Bankiers, der in der Schweiz eine Privatschule besucht hatte, dort von englischen Schülern mit dem englischen Spiel infiziert wurde und dann den Ball nach Deutschland brachte und auch nach München brachte. Bensemann war an vielen Klubgründungen in Deutschland beteiligt, unter anderem auch an einem Vorläufer von Eintracht Frankfurt.
WEMBER: Diese elf, die wollten richtig was starten, die wollten den Fußball nach vorne bringen und haben zum Beispiel Trainer aus England abgeworben?
SCHULZE-MARMELING: Ja, das ist richtig. Es wurde sehr schnell eine professionelle Angelegenheit bei den Bayern. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden ambitionierte Vereine häufig von englischen Trainern oder auch schottischen Trainern trainiert, wobei die Schotten den größeren Eindruck hinterließen als die Engländer. Und dann nach dem Ersten Weltkrieg vor allem Ungarn und Österreicher, und bemerkenswerter war im Falle von Bayern München: Der Club engagierte damals vier solcher Trainer, also bis 1933. Es waren alles Männer mit einem jüdischen Background.
WEMBER: Eine Frage noch zu den englischen Trainern. Wieso wollten die unbedingt da raus? Waren die zu Hause nicht gefragt?
SCHULZE-MARMELING: Genauso ist es. In England ging man davon aus, dass man keine Trainer benötigen würde, und die Mannschaftsaufstellung wurde von dem Clubsekretär gemacht, und der Trainer hatte einen niedrigen Status dort. In Deutschland war es anders, denn man sah die Engländer als Mutterland an, man sah englische Trainer als Lehrmeister an, und man hoffte durch die Verpflichtung dieser englischen Lehrmeister eben auch, seinen eigenen Fußball zu verbessern. Und da ist gerade bei den ambitionierten Clubs schon sehr früh eine internationale Orientierung bemerkenswert, dass diese Clubs sich auch dann sehr früh um Freundschaftsspiele und Testspiele mit ausländischen Teams bemühten, auch immer im Sinne der Qualitätsverbesserung, von anderen Ländern zu lernen. Der Aspekt der Völkerverständigung hat damals auch eine große Rolle gespielt.
WEMBER: Man durfte ruhig verlieren, aber man wollte was lernen…
SCHULZE-MARMELING: Exakt.
WEMBER: Jetzt will ich Sie aber erst mal vorstellen. Dietrich Schulze-Marmeling ist einer der führenden Fußball-Historiker in Deutschland. Er schrieb die Geschichte des FC Bayern München und die von Borussia Dortmund. Bücher zu Judentum und Fußball, zu Taktik und Trainern, Europa- und Weltmeisterschaften. Ich zitiere mal einen Buchanfang von Ihnen, Herr Schulze-Marmeling: „Ohne Migration wäre der Fußball nie zu dem geworden, was er heute ist: das globalste aller Sportspiele, vielleicht die Erfolgsstory des 20. Jahrhunderts schlechthin.“ Warum ist denn die Migration so wichtig für den Fußball?
SCHULZE-MARMELING: Wenn wir schauen mal auf einige andere Klubs, stellen wir fest, dass viele der heute etablierten renommierten Klubs von Migranten gegründet wurden, die sich durch den Fußball versucht haben, einen Platz in der neuen Gesellschaft in dem Land ihrer Wahl zu sichern. Also zum Beispiel der FC Barcelona, vielleicht das berühmteste Beispiel schlechthin, gegründet von einem Schweizer, das waren Kaufleute, Akademiker, Ingenieure etc.
WEMBER: Das war ein Akademikersport.
SCHULZE-MARMELING: Richtig, richtig, mit Arbeitersport beginnt es in Deutschland ohnehin erst so richtig in den Weimarer Jahren im Zuge der Einführung des Achtstunden-Tages und Unterstützung, der öffentlichen Unterstützung des Ausbaus von Sportstätten etc. Vorher ist das ein ziemlich elitärer Sport. Auch beim FC Bayern durfte man ja in den Anfangsjahren nur mitkicken, wenn man das Abitur besaß.
WEMBER: Ach, tatsächlich?
SCHULZE-MARMELING: Ja.
WEMBER: Das ist heute aber vorbei!
SCHULZE-MARMELING: Naja, wobei die Zahl der Abiturienten in Deutschland unter den Profifußballern auch ziemlich hoch ist. Ich weiß, dass Marko Bode mal gesagt hat, weil – also der ehemalige Nationalspieler – als er die Zahlen gesehen hat: Wir sind intelligenter als unser Publikum.
WEMBER: Man migriert beim Fußball von Klasse zu Klasse, dass der Fußball auch verschiedene Gesellschaftsschichten miteinander verbindet.
SCHULZE-MARMELING: Exakt, exakt, das ist so. Aber das beginnt erst so im Zuge des Ersten Weltkriegs, nach dem Ersten Weltkrieg dann ganz stark. Wir haben dann eine zweite soziale Ausbreitung nochmal nach der WM in den 90ern, wo wieder neue Schichten erobert werden für den Fußball. Aber in Deutschland ist das relativ spät, im Vergleich mit England eigentlich relativ spät ein Arbeitersport geworden. In England war es viel früher der Arbeitersport, schon in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, und in Deutschland eben so richtig erst in der Weimarer Zeit, wo sich dann diese Arbeiterclubs wie Schalke 04 etablieren, auch in Konkurrenz zu den bürgerlichen Clubs wie FC Bayern München und so weiter treten.
WEMBER: Wieso gelang das denn nicht mit anderen Sportarten? Tennis, Golf, Völkerball? Warum ist Fußball ausgerechnet, hat der das Potenzial? Ist es so ein billiger Sport? Oder woran liegt´s?
SCHULZE-MARMELING: Ja, es ist ein billiger Sport, ohne große Hilfsmittel kann man spielen und überall spielen. Dann hat die Migration sicherlich dabei eine Rolle gespielt, dass Leute, wenn sie ihr Land verließen, diesen Sport, der bei ihnen schon populär war, den Ball quasi mitnahmen und dann in den anderen Ländern etablierten. Diese Schweizer Privatschulen waren sehr attraktiv, und die brachten das Spiel mit in die Schweiz, und die Schweiz fungierte dann als Drehscheibe zur Verbreitung des Spiels vor allem im südeuropäischen Raum bis hoch nach Paris. Inter Mailand, der Name sagt es ja schon: Internationale Mailand war auch eine Gründung von Ausländern, als sie erstmals italienischer Meister wurden, 1909, standen neun Schweizer in der Elf drin.
Musikakzent
WEMBER: Sport ist Sport. Oder war das damals in der Gründungsphase auch noch mehr? Was schwebte den Pionieren damals vor? War dieses Weinhaus Gisela in München auch so eine Art Ort der Demokratiegeschichte? Oder war das einfach nur: Sport ist Sport?
SCHULZE-MARMELING: Nein, das Weinhaus Gisela lag ja in der Nähe von der Universität, der FC Bayern ist ja so eine Geburt aus Schwabing und der Maxvorstadt, das war so die Heimat des FC Bayern, das war einfach eine Gastronomie, wo man sich abends zum Trinken fand. Das war einfach ein Treffpunkt von Leuten, die während des Studiums nach München kamen, und man kann sich das vorstellen, da gab es eben dann verschiedene Gastronomien, die besonders von Studenten aufgesucht wurden. Dazu gehört eben dieses Weinhaus Gisela auch.
WEMBER: Die Haltung dahinter, die war bei Bensemann ja meines Erachtens wohl mehr. Ich zitiere ihn: „Wird erst das gegenseitige Verständnis besser, die gegenseitige Achtung tiefer, dann wird auch der kleine Lederball im Rate der Völker als Friedenssymbol vorschweben.“ Das heißt, er wollte Spiele, international, gegen Frankreich.
SCHULZE-MARMELING: Richtig, genau zu einem Zeitpunkt, wo es ja noch relativ verpönt war, der alte Erzfeind. Bensemann, der überzeugter Kosmopolit war, hat immer mit dem Fußball auch diesen Aspekt der Völkerfreundschaft verstanden, weshalb er im DFB ja, wo es auch ne sehr starke deutsch-nationale Fraktion gab, sehr konservative Fraktion gab, immer auf Widerspruch stieß, und man hat dann auch mehr oder weniger verklausuliert ihm sein Judentum vorgehalten, Juden sind bodenlos und nicht patriotisch und Vaterlandsverräter, Kosmopoliten und diese Geschichten. Bensemann ist sicherlich jemand, der damit auch eine politische und kulturelle Mission verbunden hat, mit dem Fußball. Ob das für alle, die sich damals im Weinhaus Gisela getroffen haben, gilt, weiß ich jetzt nicht, aber für Bensemann, Walter Bensemann, galt das ganz bestimmt.
WEMBER: Auch wenn man nicht Fußballfan ist: Die Zeitschrift „Kicker“, die gibt's ja heute noch. Die wurde von Bensemann in der Weimarer Republik begründet.
SCHULZE-MARMELING: Die wurde von ihm gegründet, wurde dann auch zum Organ des süddeutschen Verbandes. Es gab einen Gegenspieler im westdeutschen Raum mit „Fußball und Leichtathletik“, von einem Menschen regiert namens Guido von Mengden, der später auch noch Karriere im Nationalsozialismus machte, der politisch komplett anderer Ansicht war als Bensemann, der ein sehr nationalistisches Verständnis von Fußball hatte.
WEMBER: „Treu, teutsch und tüchtig“ die drei T!
SCHULZE-MARMELING: Genau, die drei T, das war aber, glaube ich, nicht von von Mengden, sondern von seinem Kollegen Josef Klein, Funktionär im westdeutschen Fußballverband. Das waren zwei Leute, die schon sehr früh der nationalsozialistischen Bewegung anhingen, noch weit vor dem Datum ihrer Machtergreifung. Und insofern war dieser publizistische Streit, diese publizistische Konkurrenz zwischen „Kicker“ und „Fußball und Leichtathletik“ auch eine stark politisch unterlegte.
WEMBER: Der Führer hat es nicht so mit dem Fußball gehabt. Ich habe jetzt gelesen bei Ihnen, dass er ein Spiel besucht hat, auch als erster Kanzler in der Kabine war.
SCHULZE-MARMELING: Richtig, ja.
WEMBER: 1936 während der Olympiade, da galt es, Norwegen wegzuputzen. Die hat keiner ernst genommen, und der Führer sah dann den Untergang Germaniens.
SCHULZE-MARMELING: Ja, es ist in Deutschland ja so gewesen, dass der Profifußball erst sehr spät legalisiert wurde. Man hat auch diesen Profi-Fußball als fremd betrachtet, und der Fußball sollte reingehalten werden von kommerziellen Einflüssen. Man macht nicht Sport des Geldes wegen. Es gab sehr starke Amateur-Bestimmungen, und 1934 war man bei der WM im Mussolini-Italien ja überraschend Dritter geworden. Man dachte jetzt, Olympia 36, Profis sind nicht zugelassen, da kommt man groß raus, und dann spielt man gegen Norwegen, verliert mit 2:0 im Berliner Poststadion, und ich glaube, Goebbels hat ja später notiert, dass der Führer sehr verärgert das Stadion verlassen hat, vorzeitig verlassen!
WEMBER: Er hat das Ende nicht miterlebt.
SCHULZE-MARMELING: Ja, es ist ein Problem, gerade mit dem Fußball. Deswegen setzen auch totalitäre Regime immer eher auf diese Individualsportarten, wo sich der Erfolg besser planen lässt als das im Fußball der Fall ist. Beim Fußball spielen so viele Aspekte eine Rolle, die den Erfolg bedingen.
WEMBER: Der Sieg ist nicht sicher.
SCHULZE-MARMELING: Der Sieg ist nicht sicher, es gibt unheimlich viel Zufälle in diesem Spiel. Er wird wieder, gerade heute, kann man sagen, sehr stark strapaziert von Autokraten, von Diktatoren, aber im Prinzip ist es ein Spiel, das doch relativ widerspenstig ist.
WEMBER: Diese Haltung, dieses Amateur-Bewusstsein, das zog sich auch in die Nachkriegszeit ganz extrem lange hinein. Die Vorstellung: Da darf man kein Geld mit verdienen, das ist alles nur Kommerz. Dass es verpönt war, dass man mit Sport Geld verdient.
SCHULZE-MARMELING: Ja, absolut, das war unsauber, das beschmutzte den Sport, und im DFB gab es ja auch in den 20er Jahren ganz skurrile Positionen auch, die das Zuschauen schon als unsportlich betrachtet haben, weil die Leute, die da hinkommen, nur um ein Event zu erleben, die bewegen sich ja nicht, die tun ja nix, machen ja nichts im Sinne der Körperertüchtigung. Clubs wie Bayern München, bei denen gab es schon eine Form von Professionalismus in den 20er Jahren oder bei Schalke 04 natürlich auch in den 30er Jahren. Ich denke, dass Schalke 04 so erfolgreich war, hing einfach damit zusammen. die hatten das Backing der lokalen Schwerindustrie, und dann gab's Schein-Arbeitsplätze, offiziell arbeiteten die bei Küppersbusch oder einer Zeche, aber in Wirklichkeit trainierten sie. Es gab hier so einen Amateurismus, der sehr stark ideologisch belegt war. Das war nach 1945 noch nicht zu Ende, sondern es hat auch bis zur Einführung der Bundesliga gedauert.
WEMBER: Das war erst 63, das waren fast 20 Jahre nach dem Krieg.
SCHULZE-MARMELING: Und auch da natürlich begrenzt, Obergrenzen. 1200 D-Mark durften die damals verdienen, weswegen viele auch damals im ersten Jahr der Bundesliga gar nicht für einen Professionalismus optiert haben, sondern sich offiziell haben weiter als Amateure führen lassen. Da hatte Deutschland eine ziemlich verschrobene Haltung dazu in Europa, hatte sich damit auch ziemlich isoliert.
WEMBER: Es war auch nicht erfolgreich, außer 54.
SCHULZE-MARMELING: Außer in der WM 54. Elf Freunde, sie haben damals in den 30er Jahren so ein System entwickelt, das die Nationalmannschaft über die Vereinsmannschaften stellte. Diese Rivalität, die wir heute haben: Verein - Nationalmannschaft, die hat immer schon existiert, schon in den 20er Jahren existiert. Das heißt, die Nationalspieler genossen schon gewisse Privilegien, wurden schon von der Arbeit freigestellt. Es gab unheimlich viel Kurse, Lehrgänge für die Nationalspieler, das war so ein Modell. Man suchte einen deutschen Sonderweg, der Ermöglichte, an der Weltspitze festzuhalten, ohne diesen Professionalismus zu legalisieren. In Wirklichkeit war das auch eine Form von Professionalismus. Nur, die galt eben halt ausschließlich für die Nationalspieler, und das letzte Mal, dass das Modell Erfolg zeitigte, oder das einzige Mal, das war 1954, aber danach war schon klar, nach dem Wunder von Bern, das eben auch ein Wunder war, dass …
WEMBER: Wunder heißt: viel Glück in dem Fall.
SCHULZE-MARMELING: Viel Glück auch bei dem Spiel. Das war klar, das kann nicht so weitergehen, und als 58 kam, dann war es schon schwierig in Schweden, und 62 dann die große Pleite in Chile. Danach war jedem klar: Wir müssen jetzt mal gegenüber den Nachbarn aufschließen. Wenn man bedenkt, dass Österreich bereits 1924 den Professionalismus legalisiert hat.
WEMBER: Der Markt sucht sich seine Wege, die Migranten suchen auch die Wege, so wie die Trainer aus England weggingen vor dem Ersten Weltkrieg, gingen die Spieler aus Deutschland weg ins Lira-Paradies. Was war das denn?
SCHULZE-MARMELING: Richtig, genau, nach Italien, da wurden schon erhebliche Summen gezahlt den Spielern. In Italien war der Fußball schon sehr früh ein Volkssport in dem Sinne, der wirklich alle Schichten, auch die obersten Schichten der Gesellschaft, miteinschloss. Die Agnielli-Familie hat schon in den 20er Jahren Juventus Turin massiv finanziell unterstützt, sich auch bemüht um Akteure aus Südamerika, die dann eingebürgert wurden, weil sie eben auf italienische Wurzeln verweisen konnten, namentlich aus Argentinien. In Deutschland sind dann viele Akteure abgehauen nach Italien, da konnten sie mit Fußball Geld verdienen, das war in Deutschland gar nicht möglich, aber eben ins sogenannte Lira-Paradies.
WEMBER: Waren denn die Vereine, die italienischen, dann auch erfolgreicher als die deutschen? International?
SCHULZE-MARMELING: Ja, auf internationaler Ebene. Das hat auf deutscher Ebene sehr lange gedauert, bis man in den europäischen Wettbewerben wirklich reüssieren konnte, die waren schon erfolgreicher.
WEMBER: Also, der bessere Fußball wurde in Italien gespielt.
SCHULZE-MARMELING: Auf jeden Fall, und der professionellere. Einfach, was die ganze Spielvorbereitung, Spielorganisation anbetraf, und was auch bemerkenswert ist, was auch noch einen Unterschied zu Deutschland aufzeigt, ist, dass sich damals in Italien auch die Kulturschaffenden sehr viel früher für den Fußball interessierten haben als in Deutschland. Die Nationalspieler, die dann nach Italien gingen, die deutschen Spieler, die berichteten eben fasziniert davon, mit wem sie am Tisch gesessen hatten, mit Sophia Loren und mit irgendwelchen Industriekapitänen und Sängern, und haben sich in einem Milieu bewegt, das sich komplett von dem unterschied, was sie aus Deutschland kannten.
Musikakzent
WEMBER: Aus der Tiefe des Raums?
SCHULZE-MARMELING: Günter Netzer
WEMBER: Günter Netzer. Genau, wo kommt das her? Aus der Tiefe des Raums?
SCHULZE-MARMELING: Das ist von einem FAZ-Journalisten, von Herrn Bohrer, geschrieben. Ein Artikel über Netzer. Aus der Tiefe des Raumes. Netzer kam aus der Tiefe des Raumes.
WEMBER: Muss ja was dran gewesen sein.
SCHULZE-MARMELING: Da war was dran. Ja.
WEMBER: Der Netzer hatte eine ganz schlechte Presse, als er dann zu Real Madrid gewechselt ist, für viel Geld. Die Bildzeitung titelte: Nationalelf: kaputt! Die wurden Legionäre genannt, durften teilweise auch gar nicht spielen. Das war so eine Art Vaterlandsverrat!
SCHULZE-MARMELING: Ja, es ging beim DFB immer hin und her. Mal durften sie nicht spielen, 66 durften sie dann spielen, bei der WM 74, aber zeitweise durften sie auch wieder nicht spielen. Es wurde ihnen gedroht, wenn ihr jetzt vor der WM ins Ausland geht, dann seid ihr weg, könnt ihr das vergessen, mit der WM.
WEMBER: Selbst Beckenbauer durfte einmal nicht mitspielen.
SCHULZE-MARMELING: Beckenbauer, 78 war er bei Cosmos New York, und Berti Vogts und Schön haben sich sehr darum bemüht, dass DFB-Präsident Neuberger mal alle fünfe gerade sein lässt und diesen Vaterlandsverräter da mitspielen lässt. Das Problem war, dass Franz Beckenbauer nicht dabei war. 78 war ne ziemlich Pleite, diese WM. Man hat ernsthaft geglaubt, dass man damit die Abwanderung von Spielern ins Ausland verhindern könnte, das war kompletter Unsinn, weil, letztendlich zählte noch etwas mehr als dieses Nationaltrikot. Das war einfach das Geld, das man im Ausland verdienen konnte, und das war ja schon immens, auch im Falle von Netzer damals, von Madrid, das war schon immens!
WEMBER: Das war denen auch gar nicht so wichtig. Es gab welche, die Kaugummi gekaut haben, während die Nationalhymne gespielt wurde.
SCHULZE-MARMELING: Man ist ja manchmal so ein bisschen erstaunt darüber, wie wir heute dann über Nationalmannschaft diskutieren und was dort erlaubt ist, und ein 20- oder 21jähriger Paul Breitner sagt nach dem dritten oder vierten Länderspiel: `Können wir nicht auf die Nationalhymne verzichten? Die stört mich in der Konzentration´. Man überlege, das würde heute ein Musiala sagen, oder Ex-Kapitän Ilkay Gündogan würde in einen Prämienstreit mit dem DFB treten und ankündigen vor der EM im eigenen Lande, 2024: Kann sein, dass wir nicht antreten, wenn die Prämie nicht stimmt, weil: Wir haben gehört: Die Italiener kriegen das, die Holländer kriegen das und das. Das war eine sehr – im positiven Sinne, sage ich mal unpatriotische und modernisierende Fraktion damals unter Fußballern, für die dieser 54er Geist „Wir spielen fürs Vaterland“ irgendwie nicht zählte, und die einfach gesagt haben: „Wir spielen für uns, und wir spielen fürs Geld.“
WEMBER: Beckenbauer hat sich auch gestört an diesem Mannschaftskreis in der Kabine. Was war das noch für ein Ritual?
SCHULZE-MARMELING: Sein erstes Spiel in Stockholm, und wenn dann eben die elf Freunde dann eingeschworen wurden mit diesen Ritualen aus der Fritz-Walter-Zeit, da konnte er überhaupt nicht, konnte gar nichts mit anfangen. Ich habe das selber gespürt, als jemand, der 56 geboren ist und dann 66 Borussia-Dortmund-Fan wurde, dass diese Einführung der Bundesliga 63 so ein Bruch war, auch kultureller Bruch, dass mich diese 54er Geschichte überhaupt nicht interessiert hat. Ich konnte diese Bücher über Fritz Walter und Co., ich konnte die nicht ertragen, von der ganzen Diktion schon nicht ertragen, und 74 manifestiert sich das dann eben. Da brechen die modernen Zeiten, nennen wir es mal ruhig so, im deutschen Fußball an!
WEMBER: Erstaunlich ist, die Länder, die sich der Migration widersetzt haben, die hatten in der Tendenz auch schlechteren Fußball, und umgekehrt auch, wer schlechteren Fußball hatte, machte dicht nach außen. Das haben alle irgendwann mal erlebt, diesen Effekt. Italiener glaube ich auch, dass die...
SCHULZE-MARMELING: Richtig dicht gemacht haben.
WEMBER: Und in Deutschland war es dann Berti Vogts, der nach seiner erfolglosen Zeit oder während seiner erfolglosen Zeit als Bundestrainer sagte, dass zu viele Ausländer in den oberen Liegen drin wären und dass es eine Ausländerschwemme gäbe. Sind das die Ausflüchte, die sofort aufs Trapez kommen?
SCHULZE-MARMELING: Was nicht zu bestreiten ist, dass sich damals die Vereine auch sehr um preiswerte Ausländer, sagen wir´s mal so, bemüht haben, die eine hohe fußballerische Qualität mitgebracht haben, weniger Geld verlangten als das deutsche Eigengewächs. Man kann ja damit unterschiedlich umgehen. Das ist in England ja auch der Fall gewesen, und trotzdem gab es diese Generation Beckham und Co, und das ist in England so gewesen, dass die gerade von der Migration, von der Verpflichtung ausländischer Spieler, aber auch Trainer, extrem gelernt haben.
WEMBER: Wettbewerb belebt das Geschäft.
SCHULZE-MARMELING: Andere Trainingsmethoden. Ich gebe mal das Beispiel von Eric Cantona, dem Franzosen, bei Manchester United, der, als die englischen Spieler und schottischen Spieler und irischen Spieler in den Pub zogen nach dem Training, machte der da weiter auf dem Platz, und da haben sich Leute wie Beckham dem angeschlossen, auch noch Extraschichten eingelegt. Die Ausländer haben im englischen Fußball einen Professionalitäts-Schub bewirkt damals, gerade was Italiener anbelangt oder auch die Niederländer anbelangt, die hatten ein ganz anderes Verhältnis dazu: Was heißt Fußballprofi? Und das hat dem englischen Fußball damals sehr geholfen auch, auch der Nationalmannschaft geholfen, obwohl ja die Zahl der Engländer sich in den Teams dann immer mehr verringerte. Also, man kann da so oder so mit umgehen mit der ganzen Geschichte. In Deutschland ist das dann ja noch lange Zeit so gewesen, dass man auch die hier geborenen, also hier schon geborenen Akteure mit einem türkischen Migrationshintergrund, dass man deren Talent verschmähte, weil man gesagt hat, speziell auch was die Nationalmannschaft anbelangt, weil man gesagt hat, na ja, gut, die Vereine, die sind jetzt so, aber die Nationalmannschaft bitte schön, die hat germanisch zu bleiben!
Musikakzent
WEMBER: Ich habe den Eindruck, sagen Sie, ob das stimmt, dass beim Vereinsfußball es heute ziemlich piepegal ist, wo jemand herkommt, Hauptsache, er spielt gut, und dass diese Frage: Deutscher Pass, nicht deutscher Pass, da keine Rolle mehr spielt oder fast keine Rolle. Sehen sie das auch so?
SCHULZE-MARMELING: Das ist so. Die Vereine sind da sicherlich weltoffener, und auch die Fans der Vereine sind weltoffener als die der Nationalmannschaft. In den 1980er Jahren, kann ich mich erinnern, war es ja so, dass die Nationalmannschaft bei Menschen aus einem linken, alternativen Milieu verpönt war, und galt als konservativ. Das war auch die Zeit, wo Helmut Kohl die Nationalmannschaft heftig umgarnte. Das war ja was Neues, weil die deutsche Politik sich sehr lange, auch aufgrund der Instrumentalisierung des Sports und des Fußballs in der NS-Zeit, ferngehalten hat vom Spiel und immer diese Politisierung versucht hat zu vermeiden. Und das hat sich unter Helmut Kohl verändert, und da haben sich schon so intellektuelle Milieus, progressivere Milieus abgewandt, und heute haben wir eine umgekehrte Situation. Ich beobachte das seit der WM 2014.
WEMBER: Als Deutschland Weltmeister wurde.
SCHULZE-MARMELING: Weltmeister wurde. Wenn man mal so die Begeisterung für die deutsche Nationalmannschaft misst: 1954 war groß, Mythos, heimliches Gründungsdatum der Bundesrepublik Deutschland. 1990 war sie groß auch, Wiedervereinigung, 1974 nicht so ganz, obwohl es eine überragende Mannschaft war, auch mit hoher Nachhaltigkeit, wenn man sich die Figuren drin anguckt: Hoeneß, Beckenbauer, etc., aber da war dieser Prämienstreit, das passte nicht irgendwie so zu: fürs Vaterland spielen und diese Dinge. 2014 dann: viele mit Migrations-Hintergrund, nicht so eine richtig deutsche Nationalmannschaft.
WEMBER: Sagen Sie nochmal: Da war … Özil?
SCHULZE-MARMELING: Özil war dabei, Boateng war dabei, der ein überragendes Finale geliefert hat. Im Finale waren drei mit Migrations-Hintergrund. Aber man bekam so mit, man las das auch in rechten Postillen, wurde sich drüber mokiert: „Das ist keine richtige deutsche Nationalmannschaft mehr.“ Ich glaube, was wir da registrieren, ist: Die Welt hat sich geändert, die Welt hat sich globalisiert, Deutschland ist eine Migrationsgesellschaft und so weiter. Aber die Nationalmannschaft, die soll noch das Alte symbolisieren.
WEMBER: Antonio Rüdiger sollte angeblich da ein islamistisches Zeichen gesetzt haben.
SCHULZE-MARMELING: Das fand ich ganz interessant mit Antonio Rüdiger, weil ich glaube, man hat so ein bisschen gehofft auf diese Özil-Gündogan-Debatte. Die Strategie ist ja die: Ich thematisiere das, die ganze Geschichte, das bringt Unruhe in so eine Mannschaft rein. Die Mannschaft versagt, und dann kann ich sagen: Seht ihr, die multikulturelle Gesellschaft, auch im Fußball hat die versagt, die funktioniert einfach nicht. Und was natürlich auf der anderen Seite, bei liberalen Kräften etc., dann zu einer neuen Sympathie mit der Nationalmannschaft, neues Mitfiebern mit der Nationalmannschaft führt, dass man sagt, hoffentlich spielen sie gut, hoffentlich spielt Gündogan gut, weil – ansonsten haben wir diese rassistischen Hates wieder, und man erzählt uns: Guck, das geht nicht mit den Migranten!
WEMBER: Der Kostedde, der hat mal gesagt: Ich muss immer besser spielen wegen meiner Hautfarbe.
SCHULZE-MARMELING: Ja, der hat es ja nun ganz schwer gehabt, auch nur drei Länderspiele gemacht, der Erwin Kostedde.
WEMBER: Er hatte auch eine dunkle Hautfarbe, muss man dazu sagen.
SCHULZE-MARMELING: Dunkle Hautfarbe: Kommt aus Münster, dunkle Hautfarbe. Vater war glaube ich GI, und der hat den Rassismus in brutalster Form damals noch zu spüren bekommen. Vor allem: damals gab es ja, anders als das heute der Fall ist, keine Gegenwehr. So Etiketten wie schwarze Perle, schwarzer Bomber etc. waren damals ja völlig normal, wo wir heute ein bisschen schon ins Nachdenken geraten. Aber damals war das ja absolut normal, solche Geschichten, und ich habe ihn ja auch erlebt als Spieler, als er bei Borussia Dortmund war, wie die Reaktion bei den Fans war. In einer gewissen Weise haben sie ihn ja geliebt, aber er blieb immer der Schwarze halt.
Musikakzent
WEMBER: Warum schreiben Sie eine andere Geschichte der Nationalmannschaft? Ist das eine politische Geschichte?
SCHULZE-MARMELING: Ja, richtig, das ist eine politische Geschichte und sicherlich auch motiviert durch die Diskussion, die wir heute über die Nationalmannschaft haben. Wo eben die AfD-Wähler und andere sagen, das ist die Mannschaft von Buntland, das ist keine deutsche Nationalmannschaft etc., und gleichzeitig immer gesagt wird, die Nationalmannschaft ist das letzte Lagerfeuer der Nation und repräsentiert die Nation und ist die Mannschaft der Nation und so weiter und so fort, und da sind wir so n bisschen in die Geschichte gegangen, haben festgestellt, dass diese Nationalmannschaft immer ein auch politisches Thema war. Auch dann, wenn man so getan hat, als naja, wir versuchen, das voneinander zu trennen, ist es nicht so gewesen.
WEMBER: Das fängt ja schon damit an. Wer ist denn überhaupt Deutscher? Das heißt, das Staatsbürgerrecht ist ja auch entscheidend, da hängt ja die Politik auch mit dem Fußball zusammen, weil, wenn ich als türkischer Migrant keine deutsche Staatsbürgerschaft habe, könnte ich auch in der Nationalmannschaft nicht mitspielen, oder?
SCHULZE-MARMELING: Exakt so ist es. Der Schocker war ja die WM 1998, wo Frankreich mit einer sehr multikulturellen Truppe triumphierte, und da hat man dann gemerkt: So, wie wir es bis jetzt gehandhabt haben mit der Nationalmannschaft, so geht das nicht mehr. Das lief dann ja parallel zu einer Reform des Staatsbürgerrechts damals.
WEMBER: Das heißt, man musste jetzt nicht immer deutscher Abstammung unbedingt sein, sondern es galt das Wohnortprinzip.
SCHULZE-MARMELING: Doppelte Staatsbürgerschaft, da musste mich dann irgendwann entscheiden, und im Fußball war das dann so: Man konnte bis zur U 21, die Nachwuchsmannschaften, konnte man ja dann auch mit einer doppelten Staatsbürgerschaft spielen. Irgendwann musste man sich dann entscheiden, für welche Nationalmannschaft man dann eintritt. Das war im Falle Özil ziemlich bemerkenswert, weil, als Özil dann optiert hat für die deutsche Staatsbürgerschaft und deutsche Nationalmannschaft, wurde er zum Hassobjekt bei den türkischen Fans, in dem Moment. Er gegen die Türkei in Berlin gespielt hat, 3:0, wo Frau Merkel dann auch die Kabine aufsuchte nachher, um zu zeigen, das ist unser Mesut und nicht euer. Aber auch: Ich sehe das positiv, damit jetzt demonstrieren wollte: Sorry, das ist ein deutscher Nationalspieler hier, mit dem wir zu tun haben, und hört mal auf, ihn als Türken zu stigmatisieren!
WEMBER: Er wurde dann das Gesicht der Niederlage bei der WM 2018.
SCHULZE-MARMELING: Ja, es gab ja diese Fotosession mit Herrn Erdogan. Und ich fand damals die Kritik an Mesut Özil – ich meine, seine weitere Entwicklung, da müssen wir drüber reden, ist furchtbar – hat aber vielleicht auch der Rassismus hierzulande ein bisschen zu beigetragen?
WEMBER: Also, er hat dann irgendwann für Erdogan Wahlkampf gemacht, hat sich das Zeichen der Grauen Wölfe auf die Brust tätowieren lassen.
SCHULZE-MARMELING: Alles, was unsereins ablehnt. Aber es war insofern bisschen bigott, die Geschichte, aus zwei Gründen. Der eine Grund ist der, dass es, glaube ich, sehr schwierig ist, heute in einer Welt, wo die Autokraten sich immer mehr des Fußballs wieder bemächtigen, eine Karriere zu absolvieren, wo man nicht irgendwo mal auf einem Foto mit einem Autokraten steht. Und das andere war, Herr Matthäus als deutscher Ehrenspielführer, konnte sich mit Putin fotografieren lassen, hat an einem sehr fragwürdigen Benefizspiel mit Kadyrow, eine ganz peinliche Angelegenheit, damals, dieses Spiel mit Kadyrow. Dann hieß es immer: Das ist Fußball, das hat mit Politik nichts zu tun, und bei Gündogan und bei Özil wurde das eben komplett anders gesehen. Und wobei Özil immer schon Hassobjekt war bei einem Teil der deutschen Fans. Also, es gab rassistische Schmähungen schon Jahre vor diesem Vorfall gegen ihn. Also, man musst da sehr genau differenzieren zwischen einer völlig berechtigten Kritik daran, dass jemand sich da willentlich oder unwillentlich in den Dienst eines Autokraten stellt. Das ist die eine Sache, und die andere Sache ist die, wo werden Kritik-Grenzen zum Rassismus überschritten, und das war im Falle von Özil, würde ich sagen, das war da auf jeden Fall gegeben.
WEMBER: Gündogan ist da ja rausgekommen.
SCHULZE-MARMELING: Gündogan hat ja immer richtig gesagt. Ich habe nun einfach auch einen türkischen Background, und damals der Bundespräsident hat das ganz richtig gesagt, Heimat gibt es auch im Plural.
WEMBER: Fußballplätze, sind das Orte der Demokratie oder des Chauvismus in der Tendenz.
SCHULZE-MARMELING: Ja, Fußball ist so eine janusköpfige Angelegenheit, die sich in der einen wie der anderen Richtung instrumentalisieren lässt. Es gibt hässliche Seiten, sie kann für nationalistische Kampagnen mobilisiert werden und auch offensichtlich für rassistische. Aber Fußball kann auch verbinden, und manchmal denke ich, dass der Fußball auch weiter ist als unsere Gesellschaft. Gerade wenn ich mal die Fußballmannschaft nehme. So eine Fußballmannschaft ist ja ne unfassbar heterogene Angelegenheit. Ich hab da einen Achtzehnjährigen drin und einen 34jährigen drin. Ich habe Leute mit unterschiedlichem ethnischen, sozialen, religiösen Background drin, ich habe Dummies und Schlauis drin, auch da unterschiedliche Bildungsniveaus drin, und die sind alle auch noch Rivalen, die rivalisieren ja auch noch um ihren Platz auf dem Feld, und trotzdem funktioniert das alles irgendwie miteinander.
WEMBER: Und sie müssen ja auch miteinander funktionieren, sonst geht es ja dann doch nicht.
SCHULZE-MARMELING: Genau, aber die Einsicht ist eben da, und die ist in der Gesellschaft vielleicht nicht immer so da. Und ich fand auch, dass der DFB da in den letzten Jahren da durchaus kluge und gute Kampagnen auch gestartet hat.
WEMBER: Diese Respekt-Kampagne meinen Sie?
SCHULZE-MARMELING: Ja, und gegen Rassismus und Homophobie etc. Was ich eben dem DFB in den 80er Jahren, auch in den 90er Jahren nie zugetraut hätte. Andererseits dürfen wir nicht verhehlen: Der DFB hat sieben Millionen Mitglieder, und natürlich haben wir auch Rechte in den Vereinen, auf dem Spielfeld, in Funktionärsposten und nicht nur im Osten. Das lässt sich gar nicht vermeiden bei einem Spiel, das ein Volkssport ist. Insofern findet auch nicht jede DFB-Kampagne unbedingt ihren Weg an die Basis. An der Spitze ist es in Ordnung, was da passiert. Aber an der Basis hört man eben auch andere Sachen.
WEMBER: Gehen Sie selbst ins Stadion?
SCHULZE-MARMELING: Ja, ich gehe selber ins Stadion, ja!
WEMBER: Und machen Sie da auch den Mund auf, wenn irgendwas Rassistisches kommt?
SCHULZE-MARMELING: Das mache ich auch, habe ich schon in den 70er Jahren gemacht, und die Reaktion in den 70er Jahren war eine andere als heute, wobei das ja wieder so n bisschen kippt. In den 70er Jahren war das dann so: In Dortmund gab es Sprüche gegen Türken, es war zwar kein Türke im Stadion, auch auf dem Spielfeld nicht. Wenn dann gerufen wurde: Türken raus, obwohl kein Türke da war, oder Schiedsrichter, Jude, Jude, das war normal. Und ich finde ganz bemerkenswert: In Münster, das war, glaube ich, 2020, gegen Würzburg, das Spiel, wo ein schwarzer Spieler von Würzburg wird von der Haupttribüne von einem Mann rassistisch beleidigt, und das Stadion skandiert geschlossen: Nazis raus! Das war in den 70er Jahren, 80er Jahren sicherlich noch völlig undenkbar, so eine Reaktion. Die gibt es heute, es gibt eine Gegenbewegung, aber ich mache mir auch nichts vor. Der Rassismus ist schon lauter geworden in den letzten Jahren, auch im Stadion. Denken wir nur an die U 17 Nationalmannschaft, die Europameister wurde und wo die schwarzen Spieler dann rassistische Schmähungen über sich ergehen lassen mussten. Er ist im Fußball präsent. Im Fußball ist das Gute wie das Schlechte präsent.
WEMBER: Dann ist man auch als Fan gefordert.
SCHULZE-MARMELING: Da ist man auch als Fan gefordert. Wir haben glücklicherweise heute, darum beneiden uns auch manche andere Länder, eine kritische Fanbewegung. Ich will nicht sagen, dass sie repräsentativ ist für alle Fans im Stadion, aber das begann so Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre damals. Ausgangspunkt war vor allem Sankt Pauli, das hing auch damit zusammen, dass neue Milieus sich jetzt dem Fußball näherten, eben auch kritische Milieus, die das Spiel entdeckten. Dass sich dann antirassistische Fan-Initiativen gründeten und man halt dem Rassismus die Stirn bot in den Stadien, wie gesagt, in den 70er, 80er Jahren habe ich das nicht erlebt. Da war das eher ein Ort, wo man mit etwas mulmigem Gefühl hinging und auch wieder wegging.
WEMBER: Entscheidend ist nicht nur auf dem Platz, sondern auch auf den Rängen.
SCHULZE-MARMELING: Richtig. So ist es.
WEMBER: Vielen Dank, Herr Schulze-Marmeling.
SCHULZE-MARMELING: Bitte schön!
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration: Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 2: Fußball mit Vielfalt
Migration im Sport
Heiner Wember im Gespräch mit Dietrich Schulze-Marmeling
Eine Kooperation mit der Stiftung Orte der Deutschen Demokratiegeschichte.
WEMBER: Wenn Sie sich mit dem Thema der gerade gehörten historycast-Folge noch weiter auseinandersetzen wollen: Hören Sie doch mal beim WDR-Zeitzeichen rein. Dort finden Sie eine Reihe von spannenden Sendungen zu ähnlichen Themen. Die Links dazu haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt.
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