Im Revier. Von Ruhrpolen, Gastarbeitern und Kriegsflüchtlingen
Shownotes
Migration gehört im Ruhrgebiet seit 150 Jahren zum Alltag. In der neuen Folge des historycast spricht Almut Finck mit dem Historiker Christoph Nonn darüber, wie Nahwanderer, Ruhrpolen, Zwangsarbeiter, Flüchtlinge und sogenannte Gastarbeiter das Revier geprägt haben – und warum der Mythos vom harmonischen Schmelztiegel viele Konflikte, Brüche und Aushandlungsprozesse eher überdeckt als erklärt.
Das Gespräch beleuchtet, wie aus Dörfern mit Kühen auf der Weide eine der größten Industrieregionen Europas wurde, wie Zwangsarbeit und Vertreibung das Gesicht der Region veränderten und weshalb sich seit den 1950er Jahren mit italienischen, spanischen, jugoslawischen und vor allem türkischen Arbeitskräften neue Formen von Gemeinschaft, aber auch Parallelwelten herausbildeten. Christoph Nonn beschreibt das Ruhrgebiet als Labor der modernen Migrationsgesellschaft, in dem sich aktuelle Debatten über Integration, Identität, Strukturwandel und rechtspopulistische Deutungen vor einem langen historischen Horizont lesen lassen.
Christoph Nonn ist Professor für Neueste Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er ist Spezialist für die Geschichte Nordrhein-Westfalens, insbesondere des Ruhrgebiets, und forscht ferner zum Deutschen Kaiserreich und zur Weimarer Republik. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen die Kleine Migrationsgeschichte von Nordrhein-Westfalen und die Geschichte Nordrhein-Westfalens.
Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.
Staffel 4, Folge 15 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.
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TEASER
NONN: Das, was wir heute Ruhrgebiet nennen – Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist das ja plattes Land. Sehr weitgehend. Also es gibt so alte Handelsstraßen, Hellweg zum Beispiel, Dortmund ist eine alte Handelsstadt. Aber viele andere Siedlungen, Gelsenkirchen, Bottrop und so weiter, das sind im Grunde Dörfer. Wenn es hochkommt, ein paar Bauernhöfe. Da stehen die Kühe auf der Weide. Und jetzt diese Bergwerke und die Eisenhütten, die sich da ansiedeln, die brauchen natürlich unglaublich viele Arbeitskräfte, die in der Region, also da vor Ort, überhaupt nicht da sind. Das heißt, da wandern dann Leute zu.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 15: Im Revier. Von Ruhrpolen, Gastarbeitern und Kriegsflüchtlingen
Almut Finck im Gespräch mit Christoph Nonn
FINCK: Etwas mehr als fünf Millionen Menschen leben heute im Ruhrgebiet oder im Revier, im Kohlenpott. 35 bis 40 Prozent von ihnen haben einen Migrationshintergrund, sind also Zugewanderte der ersten Generation oder Kinder und Enkel. Das macht dann je nach Zählweise 1,8 bis 2,1 Millionen Menschen aus geschätzt etwa 150 Nationen. Viele sehen das Ruhrgebiet als ein Musterbeispiel für gelungene Integration in Europa. Als einen Schmelztiegel, einen Melting-Pot der Kulturen. Andere sprechen dagegen von fragmentierten Städten und Parallelwelten. Klaus Tenfelde etwa, der Historiker, der hält gegen dieses Schmelztiegel-Bild: Menschen lassen sich nicht schmelzen. Und auch Sie, Herr Nonn, beschreiben in Ihren Aufsätzen und Büchern das Ruhrgebiet eher als eine Region voller Brüche, mit immer neuer Aushandlung zwischen den Kulturen und den Milieus. Ist das Bild vom Schmelztiegel also ein Mythos?
NONN: Na, ja und nein, das hängt ganz davon ab, was man sich anschaut. Sie haben vollkommen recht, Menschen lassen sich nicht einschmelzen in dem Sinne, und Leute, die irgendwo gerade hingezogen sind, von ganz woanders, die also irgendwie so eine kulturelle Grenze überschritten haben, die werden nicht sofort heimisch. Also egal wo, das ist jetzt vom Ruhrgebiet unabhängig, aber im Ruhrgebiet ist es auch so. Generationsübergreifend ist das dann schon anders. Ja, also wir sehen etwa, sagen wir, türkische Zuwanderung ins Ruhrgebiet, die ja im Wesentlichen so eine Sache der 1970er, 1980er, 1990er Jahre gewesen ist. Da gibt es noch eine ganze Menge Hürden, und da ist es also kein Schmelztiegel. Also es gibt durchaus türkischen Zuwandere, die sich davor komplett integriert haben. Aber es gibt eben auch andere, bei denen das nicht so ist, und wo man dann von diesen Parallelgesellschaften spricht. Aber das Ruhrgebiet hat natürlich eine viel ältere Zuwanderungsgeschichte. Sobald das Ruhegebiet entsteht, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, gibt es Zuwanderungen ins Ruhrgebiet. Und diese Zuwanderer, woher die jetzt auch immer gekommen sind, die sind vielfach komplett integriert. Also Zuwanderer, die, sagen wir, vor 1914 aus Masuren oder aus Posen, also aus polnischsprachigen Gebieten gekommen sind, die sind mittlerweile vollkommen verschmolzen mit dem Rest der Ruhrgebietsbevölkerung. In gewisser Weise sind die ja sogar, also Schimanski, sozusagen ein Sinnbild eigentlich des Ruhrgebiets mittlerweile geworden.
FINCK: Mein Gast heute ist Christoph Nonn, Professor für Neueste Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er ist ein ausgewiesener Kenner der Migrationsgeschichte in Deutschland, besonders in Nordrhein-Westfalen. Und mit ihm möchte ich heute zum Abschluss unserer vierten historycast-Staffel darüber reden, wie Zuwanderung, Identität und Wandel das Ruhrgebiet geprägt hat. Zunächst aber mal für alle Hörerinnen und Hörer ohne Ruhrpott-Background. Wo genau ist denn das Ruhrgebiet? Wo sind die geografischen Grenzen? Und wie kommt es eigentlich zu dieser Bezeichnung, Pott oder Revier?
NONN: Das ist in der Tat so ein bisschen das Problem. Wo liegen genau die Grenzen des Ruhrgebiets? Da gibt es ja auch verschiedene Definitionen dafür. Ich würde sagen, alles so zwischen Duisburg und Dortmund ungefähr ist Ruhrgebiet. Das kann man West-Ost relativ deutlich sagen. Süd-Nord-Ausdehnung ist ein bisschen problematischer. Es gibt Leute, die sagen, das geht bis Hagen. Und im Norden die Emscher-Zone gehört mittlerweile auch mit dazu. Wobei sich das im Laufe der Zeit auch verschoben hat. Ursprünglich, im 19. Jahrhundert, sprach man mal vom rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Und dann fängt man irgendwann, ich glaube am Ende des 19. Jahrhunderts, einfach an, vom Ruhrgebiet auch zu reden. Das ist dann ein Begriff, der sich sehr schnell durchsetzt im 20. Jahrhundert – wann der Pott da aufgetaucht ist, und wo der jetzt genau herkommt, weiß ich gar nicht zu sagen.
FINCK: Der Kohlenpott liegt ja nah wegen des Bergbaus. Und Pötte sind die Töpfe, so erklär ich mir das, die auch da rumgestanden haben, in denen man Kohle gelagert, transportiert hat. Dann die Schmelztöpfe auch, in denen Metalle eingeschmolzen wurde. – Wollen wir uns mal outen, Herr Nonn, kommen Sie aus dem Ruhrgebiet?
NONN: [Nein, nicht wirklich. Ich komme aus der chemischen Entsprechung des Ruhrgebiets, aus Leverkusen. Das ist dem Ruhrpott sehr ähnlich, nur geht es nicht um Kohle und Stahl, sondern es geht um Chemie. Mein Vater kommt aus Duisburg.
FINCK: Ich komme fast aus dem Ruhrgebiet, nämlich ein bisschen nördlich von Hamm. Und Hamm gilt ja als letzter Outpost.
NONN: Das ist so an der Grenze.
FINCK: Also zumindest sind wir beide keine Bayern.
NONN: Naja …
FINCK: Die Ursprünge der Migration im Ruhrgebiet, Sie haben gerade schon ganz kurz darüber gesprochen, die liegen viel näher, Herr Nonn, als man denkt, oder als ich dachte. Ich war ziemlich verblüfft, als ich bei Ihnen las, dass am Anfang nicht Menschen von weit her, aus der Ferne, sondern Nachbarn die erste große Wanderungsbewegung prägten. Sie sprechen auch von einer Nahwanderung. In welchem Zeitraum fand die denn statt, und was verstehen Sie unter dieser Nahwanderung?
NONN: Ich habe ja eben schon gesagt, das Ruhrgebiet entsteht als rheinisch-westfälisches Industriegebiet ungefähr in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In dem Moment, in dem man anfängt, Kohle abzubauen im großen Stil. Und dann kommen die Eisenhütten hinterher, weil die sich da ansiedeln, wo eben die Kohle da ist, und die muss man dann nicht mehr transportieren, das ist einfach günstiger. Und die Menschen ziehen dann hinterher. Und das, was wir heute Ruhrgebiet nennen, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, ist ja plattes Land. Sehr weitgehend. Also es gibt so an den alten Handelsstraßen, Hellweg zum Beispiel, Dortmund ist eine alte Handelsstadt. Aber viele andere Siedlungen, Gelsenkirchen, Bottrop und so weiter, das sind im Grunde Dörfer. Wenn es hochkommt, ein paar Bauernhöfe. Da stehen die Kühe auf der Weide. Und jetzt diese Bergwerke und die Eisenhütten, die sich da ansiedeln, die brauchen natürlich unglaublich viele Arbeitskräfte, die in der Region, also da vor Ort, überhaupt nicht da sind. Das heißt, da wandern dann Leute zu. Gleichzeitig ist es aber so, dass im neunzehnten Jahrhundert wir eine massive Rationalisierung im Agrarsektor haben. Das heißt, immer weniger Arbeitskräfte in der Landwirtschaft produzieren immer mehr Nahrungsmittel. Und das heißt, es werden jede Menge Arbeitskräften freigesetzt aus der Landwirtschaft. Die suchen dann neue Jobs. Und zunächst mal suchen die in ihrer Nachbarschaft und versuchen da, einen neuen Job zu finden. Und es ist dann häufig so, dass Leute eben aus diesen ländlichen Regionen, aus den landwirtschaftlichen Betrieben, die freigesetzt werden, in der Gegend von dem, was wir das Ruhrgebiet nennen, dass die dann da in die Kohlenzechen zunächst einmal gehen. Und das heißt, das ist dann eine Nahwanderung in der Tat, weil die häufig zu Fuß auch dahin laufen. Das sind dann am Anfang fünf, zehn Kilometer. Und im Laufe der Zeit wird es dann aber mehr, weil – dieses Arbeitskräftereservoir da vor Ort, das ist sehr schnell ausgeschöpft, weil die Bergwerke und Eisenhütten eben wirklich sehr viele Arbeitskräfte brauchen. Und dann kommen Leute aus Westfalen, aus dem Münsterland, vom Mittelrhein dahin. Das heißt, sie sind auch 50, 100 Kilometer, 150 Kilometer vielleicht maximal unterwegs. Das sind überwiegend die Leute, die bis in die 1890er Jahre den allergrößten Teil der Zuwanderungen im Ruhrgebiet ausmachen.
FINCK: War das denn schon verbunden mit einer Verlegung des Lebensmittelpunktes? Also haben die ihre Familien mitgebracht und sich wirklich neu angesiedelt? Oder kamen die die Woche über und sind dann am Samstag, Sonntag wieder zurück zur Familie, die 20 Kilometer entfernt wohnt?
NONN: Das ist verschieden. Migration, grundsätzlich, ist ja meist eine Sache, die von jungen Männern zunächst angefangen wird. Also die, die mobil sind und die als Arbeitskräfte besonders nachgefragt werden, gerade in solchen körperlich anspruchsvollen Jobs wie unter Tage oder in Eisenhütten. Das heißt, das sind zunächst mal junge Männer, und die pendeln dann häufig am Anfang zumindest. Wobei das nicht unbedingt heißt, dass sie am Wochenende nach Hause kommen, weil die Verkehrsverbindungen einfach noch nicht so gut sind. Selbst Eisenbahnen gibt es ja Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht allzu viele. Das heißt, die pendeln dann schon. Es ist aber oft so, dass im Laufe der Zeit dann die Familien nachkommen. Wir haben dann so 1870er, 1880er Jahre, 1890er erst recht, sehr deutlich eine Wanderung, die auf Dauer berechnet ist. Also ich weiß, mein Urgroßvater, der kam von Mittelrhein her, und der ist nach Duisburg gezogen mit seiner sehr zahlreichen Familie in den 1890er Jahren. Und die sind auf Dauer dahin. Der ist erstmal hin und hat sich das angeguckt, und dann hat er irgendwie einen Ort gefunden, wo er seine Bäckerei aufmachen konnte, und dann ist er mit Kind und Kegel da eben hingezogen. Das heißt, das ist auch so eine Phasenentwicklung. Am Anfang kommen die jungen Männer, die pendeln häufig noch, die gehen auch häufig wieder zurück, wenn sie vielleicht gerade mal nichts finden, wenn irgendwie die Flaute ist, bei der Beschäftigung, wenn sie zu Hause was Besseres finden, wenn sie Familie gründen.
FINCK Das ist der zweite Punkt, der mich sehr erstaunt hat in den Texten von Ihnen, als ich die gelesen habe. Sie sprechen von den Städten, die sich dann entwickeln damals, als Pumpen. Also, die Menschen werden quasi angesogen und dann auch wieder ausgespuckt. Das heißt, es gibt eine sehr große Fluktuation. Das war mir so nicht klar. Man denkt immer, die wandern aus, und dann gehen sie dahin und lassen sich nieder. Aber so war es nicht.
NONN: Nee, ist richtig. Es ist häufig so, die gehen erst mal hin, und dann gehen sie wieder zurück. Was aber auch typisch für Migration ist. Wenn man einen Zeitsprung macht jetzt zu den Gastarbeitern im 20. Jahrhundert, nach 1945, von denen gehen ja auch die meisten wieder zurück, also die ganz große Mehrheit der sogenannten Gastarbeiter sind wirklich Gastarbeiter. Die bleiben nicht. Und das ist bei den Nahwanderern, also dieser frühen Wanderung, ins Ruhrgebiet im späten 19. Jahrhundert, die es gab, ganz genauso. Viele gehen dahin, und die kommen dann für ein Jahr oder zwei, und dann ziehen sie woanders hin, also in eine andere Stadt. Bleiben häufig im Ruhrgebiet, was ja ein sehr großer Raum ist. Aber die ziehen erst nach Duisburg, und dann ziehen sie nach Oberhausen, dann ziehen sie nach Dortmund und so weiter. Dann ziehen sie wieder nach Hause, nach Münster, irgendwo in die Pampa. Dann kommen sie mit ihrer Familie wieder zurück. Also das ist eine extrem hohe Mobilität, die wir damals haben. Es ist nicht so, dass sie sozusagen irgendwie aus dem Dorf im Münsterland jetzt wegziehen und dann den Rest ihres Lebens in Duisburg oder in Oberhausen verbringen.
FINCK: Beispiel Duisburg: Die Einwohnerzahl wuchs im Kaiserreich, also zwischen 1871 und 1914 dann, um das Fünffache, habe ich bei Ihnen gelesen. Aber insgesamt kamen zehnmal so viele Menschen und gingen auch wieder. Wie so eine Umwälzpumpe, kann man sich das fast vorstellen. Was bedeutet das denn für die Stadt und für die Menschen, die da wohnen, wenn wir eine solche Fluktuation haben, ständig?
NONN: Na ja, das bedeutet zunächst mal, dass alles eben auf kurze Fristen berechnet ist. Und Stadtplanung hinkt auch häufig hinterher, weil die Einwohnerzahl sich dermaßen schnell verändert, sich dermaßen schnell steigert, dass die ganze Infrastruktur nicht so schnell ausgebaut werden kann. Es gibt ja auch Historiker, die davon reden, dass diese Städte im hohen Gebiet eigentlich Industriedörfer sind. Also die haben ganz viel Industrie, die haben jede Menge Arbeitskräfte, aber sie haben praktisch keine städtische Infrastruktur. Und das ist halt ein ganz wesentliches Problem, was eben auch dazu beiträgt, dass die Fluktuation dann sehr hoch ist, weil – in einem Ort, wo es überhaupt keine Infrastruktur gibt, die man eigentlich braucht in einer so großen Stadt, fühlen Leute sich nicht wohl. Das heißt, sie ziehen da relativ schnell wieder weg.
Musikakzent
FINCK: Mit der industriellen Expansion setzte dann um die Jahrhundertwende, in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, die eigentliche Fernmigration, die Fernwanderung ein, und mit ihr kamen die sogenannten Ruhrpolen. Was sind Ruhrpolen?
NONN: Staatsbürgerlich gesehen, sind das häufig gar keine Polen, sondern das sind eigentlich preußische Staatsbürger, die aus den preußischen Ostprovinzen kommen, aus der Provinz Posen, der Provinz Westpreußen und dann vor allem auch aus Ostpreußen. Das sind auch sehr ländliche Regionen, die so ein bisschen wie Münsterland oder Mittelrhein dann eben auch die gleichen Probleme haben. Also da findet eine Rationalisierung der Landwirtschaft statt, es gibt eine Freisetzung von Arbeitskräften, und die suchen also Arbeit dann und sind auch bereit, relativ weit wegzuziehen. Schlesien könnte man auch nennen, wobei – da kommen relativ wenige Leute her, weil – die polnisch sprechenden Preußen, die in Schlesien wohnen, die gehen dann in die schlesischen Gruben. Sie haben es einfach näher.
FINCK: Vielleicht müssen wir für die nicht ganz historisch bewanderten erklären: warum gab es denn so viele polnisch sprechende preußische oder dann deutsche Staatsbürger?
NONN: Das liegt einfach daran, dass es ja keinen polnischen Nationalstaat gegeben hat im 19. Jahrhundert. Der ist ja in den polnischen Teilungen, spätes 18. Jahrhundert, aufgeteilt worden zwischen Russland, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich bzw. Preußen in diesem Fall noch, das was dann Teil des Deutschen Reiches wurde. Das heißt, es gab eine relativ große, etwas mehr als 5%, polnischsprachige Minderheit im Deutschen Reich, das dann 1971 gegründet wurde. Und die lebten eben an diesen Randgebieten Preußens im Osten, die an das Zarenreich Russland, an Österreich-Ungarn grenzten. Das sind nicht die Einzigen, die ins Ruhrgebiet kamen, also nicht die einzigen Fernwanderer, es kamen auch aus Norddeutschland zum Teil Leute, die keinen Minderheitenstatus hatten, in sprachlicher Hinsicht, die Deutsch sprachen. Aber aus diesen Ostprovinzen Preußens kamen relativ viele, weil das wirklich so ein bisschen das Armenhaus Preußens, des Deutschen Reiches auch gewesen ist. Also extrem ländlich und dementsprechend auch extrem stark getroffen von dieser Rationalisierung der Landwirtschaft.
FINCK: Gibt es ungefähre Zahlen, wie viele da kamen?
NONN: Man schätzt, dass ungefähr eine halbe Million ins Ruhrgebiet gekommen sind, vor 1914. Also zwischen den 1890er Jahren, da beginnt diese Wanderung aus den preußischen Ostprovinzen ins Ruhrgebiet, bis 1914, ungefähr eine halbe Million.
FINCK: In vielen Städten stammte Anfang des 20. Jahrhunderts jeder vierte Bewohner aus Ostpreußen, Posen oder Westpreußen. Städte wie Bottrop zum Beispiel galten als Klein-Warschau, oder Teile von Duisburg, da sagte man, das ist „Polen am Rhein“. Deutet das darauf hin, dass diese Ruhrpolen sehr abgeschottet lebten, also in ihren eigenen Kiezen würde man heute sagen, in ihren eigenen Vierteln?
NONN: Ja, ich glaube, das ist zum Teil eine Frage der Wahrnehmung, weil man hat es jetzt nicht mehr mit Leuten zu tun, die sagen, wir aus Westfalen, aus dem Rheinland kommen, die die gleiche Sprache sprechen wie die Alteingesessenen. Man hat es jetzt mit Leuten zu tun, die eine andere Sprache sprechen. Manche von denen sind zweisprachig, aber viele von denen sprechen auch erst mal gar kein Deutsch. Das heißt, die finden sich auch nicht zurecht. Die haben einen Vorarbeiter, der dann polnisch spricht, der dann zweisprachig ist oder so was. Oder sie können ein paar Brocken Deutsch, auf der Arbeit kommen sie rum, im Privatleben eigentlich nicht. Das heißt, die fallen auf. Und die konzentrieren sich eben auch in bestimmten Stadtteilen, an bestimmten Zechen. Es gibt so genannte Polenzechen, wo die ganz überwiegende Mehrheit der Arbeiter tatsächlich polnisch sprachig sind, aus den preußischen Ostprovinzen kommen. Und ja, in gewisser Weise igeln die sich ein und separieren sich auch ein bisschen, auch wenn sie die Sprache relativ schnell und leicht lernen, weil sie sich unter ihresgleichen halt einfach am wohlsten fühlen, und weil sie häufig auch von ihren Arbeitgebern dann in bestimmten Kolonien geschlossen angesiedelt werden. Und dadurch entstehen dann solche Stadtteile, die tatsächlich so einen sehr stark polnischen Charakter haben. Die bilden dann auch so ihre eigenen Vereine aus. Die haben ihre eigenen Kirchengemeinden auch, wo zum Teil dann sogar polnisch sprachige Messen gelesen werden.
FINCK: Waren die evangelisch oder waren die katholisch? Also, wie passten die rein, von der Religion her?
NONN: Die Mehrheit, also diejenigen, die aus Posen oder Westpreußen kamen, waren katholisch. Die Masuren waren allerdings evangelisch. Und naja, wie passten die rein? Also ursprünglich ist die Region ja eigentlich katholisch. Die Masuren sind sozusagen die auffälligsten, weil die eben Protestanten waren. Und das war bis dahin halt eine relativ kleine Minderheitsposition im Ruhrgebiet gewesen. Und die fielen dann ganz besonders auf.
FINCK: Wie war denn das Selbstverständnis der Ruhrpolen? Die hatten ja nun die deutsche Staatsbürgerschaft im Kaiserreich. Verstanden die sich aber als Polen? Und wir haben ja dann auch einen anwachsenden polnischen Nationalismus, der ja schließlich 1918 zur Gründung eines – wieder eines – Polen führt.
NON: Das ist eine sehr schwierige Sache, wir reden hier von einer halben Million Menschen ungefähr. Und die kann man natürlich alle nicht über einen Kamm scheren. Und es gibt eine polnische Nationalbewegung, die auch diese preußischen Ostprovinzen erfasst und die polnisch sprachige Bevölkerung dort erfasst. Also Posen, etwa Westpreußen, kommen ja 1918 dann zum neu gegründeten Nationalstaat Polen zurück. Masuren nicht. Da gibt es interessanterweise eine Volksabstimmung, 1920. Und die ganz überwiegende Mehrheit der Masuren entscheidet sich, Teil des Deutschen Reiches zu bleiben. Was offensichtlich auch etwas mit Religion zu tun hat und vielen anderen Dingen. Und das Problem ist natürlich, dass Menschen immer eine pluralistische Identität haben. Diese polnisch sprachigen Masuren zum Beispiel, die haben sich in erster Linie als Masuren verstanden. Für die war die Frage, sind sie Polen oder sind sie Deutsche? – da hätten die gesagt, ja, ich bin da deutscher Staatsbürger. Bin ich deswegen ein Pole, bin ich Deutscher? Keine Ahnung. Ich bin Masure. Und ich bin Protestant, und ich komme aus Goldap oder sowas. Ja, es gibt lokale, regionale, religiöse, familiäre und dann eben auch nationale Identitäten. Aber die nationalen Identitäten waren, glaube ich, für die meisten von denen gar nicht so furchtbar wichtig.
FINCK: Bei vielen deutschen Migranten, deutschen Auswanderern, die zum Beispiel in die USA gegangen sind, hat das ja dann dazu geführt, dass sie sich zum ersten Mal überhaupt als Deutsche fühlen. Also vorher waren sie Bayern, Westfalen, Hessen. Beobachten wir das denn hier auch? Dass der Nationalismus der Ruhrpolen dann zugenommen hat, nachdem sie hier waren?
NONN: Ja, das können wir in gewisser Weise auch beobachten, dass dann Masuren und Posener und Westpreußen, die ja auch verschiedene Religionsbekenntnisse hatten, was damals noch sehr wichtig war, dass die tatsächlich sich auch dann zusammenschließen. Dass in den Vereinen zum Beispiel diese Scheidung zwischen den protestantischen Masuren und den katholischen Posenern gar nicht mehr stattfindet. Sondern dass die gemeinsame Vereine gründen. Also polnische Vereine, Gesangsvereine, Kirchenvereine, Turnvereine. Politische Vereine, Gewerkschaften auch. Also polnische Gewerkschaften zunächst mal. Die werden sozusagen ihrer gemeinsamen Identität als polnisch sprachige Minderheit eigentlich erst bewusst, wo sie in die Fremde gehen. Also genau wie die Bayern und die Badener und die Pfälzer und die Preußen, die nach Amerika gehen, sich eigentlich auch erst da bewusst werden, dass sie eben Deutsche sind, weil sie diese Sprache alle zusammensprechen.
FINCK: Als 1918 dann der polnische Staat gegründet wurde, wie viele sogenannte Ruhrpolen ging denn tatsächlich zurück?
NONN: Sehr, sehr viele sind dageblieben. Das hing ein bisschen davon ab, wie lang sie schon da waren, ob sie ihre Familien hatten nachkommen lassen, ob sie Kinder jetzt hatten und so weiter. Wir reden ja auch von 1918, da sind die schon eine Generation da. Das heißt, das ist nicht mehr die erste Generation, das ist schon die zweite Generation, die jetzt da aufwächst. Und die zweite Generation wächst ja ganz anders auf. Die gehen in deutschsprachige Schulen und spielen mit deutschsprachigen Kindern vielfach auf der Straße. Die heiraten zum Teil dann schon Leute, die aus der Gegend kommen, deren Muttersprache eben deutsch ist. Das heißt, die sind schon ganz anders integriert, und die bleiben ganz überwiegend. Es gibt Teile der Ruhrpolen, die gehen wieder. Das sind in der Regel die, die noch nicht so furchtbar lange da sind. Zum Teil sind es auch diejenigen, die sich massiv engagiert haben in der polnischen Nationalbewegung. Die gibt es auch, die gehen nach Polen zurück. Wirklich mehr als nach Polen gehen etwa nach Belgien und nach Frankreich. Das hat dann mit nationalen Fragen gar nichts zu tun, sondern einfach damit, dass im besiegten Deutschland dann der Rubel nicht mehr so rollt, wie das vor dem Ersten Weltkrieg der Fall war. Und dass man jetzt in den belgischen oder französischen Kohlegruben einfach mehr Geld verdienen kann. Für sehr viele Leute einfach wirtschaftliche Fragen, die eine Rolle spielen. Es sind häufig auch einfach soziale, familiäre Fragen, wo habe ich denn meine Familie wohnen? Für einige sind es dann eben auch nationale Fragen. Aber ich glaube, für die allermeisten sind es eigentlich die familiären Fragen, wo ist man mittlerweile zu Hause? Und sehr, sehr viele von denen sind mittlerweile an der Ruhr zu Hause.
Musikakzent
FINCK: Die Zuwanderer, über die wir bisher gesprochen haben, kamen, in Anführungsstrichen, „freiwillig“. Auch wenn es natürlich Zwänge gab, wie materielle Not und Arbeitslosigkeit. Aber nicht alle Zuwanderer ins Ruhrgebiet kamen freiwillig. Mit den beiden Weltkriegen wurden neue Dimensionen und Erfahrungen von Zwangsmigrationen geschaffen. Bereits im Ersten Weltkrieg, nicht erst im Zweiten, da wurden ausländische Zivilisten als Arbeitskräfte ins Ruhrgebiet verschleppt und gezwungen, dort zu arbeiten. Im Zweiten Weltkrieg dann erreichte Zwangsarbeit dramatische Ausmaße. Was sind denn hier die Zahlen? Wir wissen ja, dass viele Zwangsarbeiter vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, weil die Männer dort fehlten, die waren im Krieg, und viele wurden als Erntehelfer dort eingesetzt. Wie war das im Bergbau?
NONN: Da sind auch jede Menge eingesetzt worden, natürlich ganz überwiegend Männer. Das war ja klassische Männerarbeit, unter Tage zumindest wurden die eingesetzt. Oder auch in den Eisenhütten sind die eingesetzt worden. Zahlen habe ich jetzt nicht detailliert im Kopf, das waren jedenfalls deutlich mehr, als es im Ersten Weltkrieg gewesen sind. Die wurden in Lagern untergebracht, waren deutlich schlechter ernährt als die deutschen, die einheimischen Arbeitskräfte. Und diese Kriegsgefangenen oder die Zwangsarbeiter, die wurden im Grund von den Deutschen angewiesen, was sie zu tun hatten. Das heißt, sie haben größtenteils die Drecksarbeit für die Deutschen übernommen. Wie allerdings insgesamt die polnischen Zuwanderer 1914 auch schon. Das haben wir auch. Nur, weil sie halt Staatsbürger waren, hatten die bestimmte Rechte, und das hatten die Zwangsarbeiter eben nicht.
FINCK: Ein Problem im Ruhrgebiet war ja auch, das Ruhrgebiet wurde heftig angegriffen, bombardiert, und die Zwangsarbeiter oder Fremdarbeiter, wie sie, glaube ich, im Jargon damals genannt wurden, hatten nicht das Recht auf Schutz. Sie durften nicht in die Schutzkeller, das heißt sie waren hilflos den Bombenangriffen dann ausgesetzt.
NONN: Die waren in den Barackenlagern untergebracht. Wenn sie nicht das Glück hatten, gerade unter Tage zu sein, wenn der Angriff kam – in den Barackenlagern hatten sie praktisch überhaupt keinen Schutz.
FINCK: Wie sichtbar war denn die Präsenz der Zwangsarbeiter in den Bergwerken? Gab es da Kontakt zur Bevölkerung? Hat die Bevölkerung das wahrgenommen, reagiert?
NONN: Die waren sehr sichtbar, weil die Barackenlager mitten in den Städten waren. Also bei dieser sehr hohen Bevölkerungsdichte im Ruhrgebiet hat man das natürlich wahrgenommen. Die wurden dann jeweils zur Schicht geführt, bewacht in der Regel, durch die Straßen. Wir haben auch Augenzeugenberichte davon, von Einheimischen, wie sie die regelmäßig gesehen haben, wie die da zur Schicht gefahren worden sind oder gebracht worden sind. Meistens liefen sie zu Fuß. Und wir haben auch Informationen, dass denen zum Teil dann Butterboote zugesteckt worden sind, von den Einheimischen. Also das heißt, es gab Mitleid, es gab auch Solidarität durchaus. Es gab aber auch sehr häufig das Gegenteil, dass die Einheimischen tatsächlich diese erhöhte Stellung, die sie jetzt genossen, weil die Zwangsarbeiter die Drecksarbeit jetzt machten und sie die herumkommandieren durften, das hat es ganz genauso gegeben. Und auch Feindseligkeit, die natürlich auch mit einer Indoktrination durch die Nationalsozialisten und einer wahrscheinlich vorher schon vorhandenen Überheblichkeit gegenüber Osteuropäern, Arroganz gegenüber angeblich kulturlosen, zivilisationslosen Osteuropäern, zusammenhing.
FINCK: Können wir sagen, worauf das NS-Regime mehr abzielte? Auf die Ausbeutung der Arbeitskraft oder auch eine weitere Verfestigung der Volkstumsideologie und der Sichtbarmachung von Herrschaft und Ausgrenzung des Anderen, des, Sie haben es gerade angedeutet, kulturell Unterlegenen.
NONN: Das finde ich sehr schwer zu sagen, weil – grundsätzlich ist das ja auch kein Widerspruch. Wenn man Leute deklassiert, wenn man sie demütigt und so weiter, dann wird ja dieses Herrenmenschentum damit gefestigt. Das heißt, es hat eine ideologische Funktion, und das lässt sich wunderbar verbinden damit, dass man die Drecksarbeit erledigen lässt und dass man sie als Arbeitskräfte ausbeutet. Das sind Dinge, die gehen vollkommen Hand in Hand miteinander.
FINCK: Wie geht denn die Region heute mit der Erinnerung an die Zwangsarbeit um?
NONN: Die ersten Jahrzehnte ist das weitgehend totgeschwiegen worden, nicht vollständig, weil es durchaus auch politische Bewegung gerade von links gab, die sich dieser Geschichte angenommen haben. Aber nach 1945 ist eigentlich, wie in ganz Deutschland zunächst mal, das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs vor allem ein Gedenk an die getötete Soldaten, an die Opfer des Luftkrieges gewesen. Und die Zwangsarbeiter, die fielen da weitgehend unter den Tisch. Selbst die Juden, bis in die 70er Jahre waren die nicht im Mittelpunkt des Gedenkens. Das ist dann erst gekommen. Das hat sich dann aber so ab den 80ern ja massiv verändert. Und ab den 90ern spätestens tauchen auch die Zwangsarbeiter auf im Gedenken. Und das schlägt sich auch lokal ganz massiv nieder mittlerweile.
FINCK: Nach Kriegsende, nach 1945, kam noch eine weitere Gruppe hinzu, nämlich die Flüchtlinge und die Vertriebenen vor allem aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Die bekannte Zahl: 12 bis 14 Millionen insgesamt, nach ‘45. Wie viele kamen denn tatsächlich auch schon relativ früh ins Ruhrgebiet? Die meisten wurden doch erstmal aufs Land gewiesen, oder nicht?
NONN: Genau. Das war grundsätzlich so, die Städte waren ja weitgehend zerstört, und gerade Industrieregionen wie das Ruhrgebiet. Und es gab vor allem zu wenig Wohnraum. Man hätte die Leute gar nicht unterbringen können, zunächst mal. Das war das Hauptproblem, während auf dem Land – verteilt sich die Bevölkerung ja wesentlich mehr. Die Bombenangriffe waren da eher ohrflächig gewesen, also in den letzten ein, zwei Kriegsjahren allenfalls. Der Zerstörungsgrad war viel geringer als in den Industriestädten, die eben auch Ziele erster Klasse gewesen waren natürlich für die alliierte Bombenkriegsführung. Und von daher kamen die Vertriebenen, diese 12 bis 14 Millionen, erstmal aufs Land, also nach Schleswig-Holstein, nach Bayern, oder in Nordrhein-Westfalen war das eben das Münsterland oder die Eifel, und die wurden erstmal da untergebracht.
FINCK: Zogen aber dann relativ schnell weiter.
NONN: Sobald das möglich war, sind die dann weitergezogen, weil sie auf dem Land eben auch massive Probleme hatten, weil sie da, wenn sie überhaupt arbeiten konnten, für die größten Drecksarbeiten angestellt wurden, und weil vor allem die ländliche Bevölkerung überhaupt nicht gewohnt war, mit Zuwanderung umzugehen. Das waren ja die Regionen, aus denen die Leute immer weggezogen waren. Das heißt, da ist ja niemand hingekommen, sondern die haben sich immer mehr entleert im Laufe der Industrialisierung. Die hatten Zwangsarbeiter gehabt, im Ersten und dann vor allem auch im Zweiten Weltkrieg, die in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Aber die wurden dann eben wie der größte Dreck behandelt. Das war eben bezeichnend, die Flüchtlinge, die dann aus den Ostgebieten, ehemaligen deutschen Ostgebieten ja auch wieder kamen, Schlesien, Ostpreußen, Pommern, die dann auch häufig in Dialekt sprachen, der irgendwie den Einheimischen nicht vertraut war – viele sagten, das sind Polen, die Schlesier, die sprachen halt irgendwie mit einem spezifischen Dialekt. Und weil man kein polnisch konnte, sagte man, das sind eben Polen. Die wurden dann eben auch so behandelt, wie man vorher die Zwangsarbeiter behandelt hatte. Das heißt, man konnte sozusagen mit denen anstellen, was man wollte, oder hat man zumindest gedacht, dass man das konnte, hat die also extrem schlecht behandelt. Vielfach. Das haben sie sich natürlich nicht gerne gefallen lassen, und sobald sie eine Gelegenheit hatten, da wegzuziehen und einen Job irgendwo in der Stadt anzunehmen, dann haben sie das gemacht.
FINCK: Nun stießen die Vertriebenen und die Geflüchteten, als sie ins Ruhrgebet kamen, noch auf eine weitere Besonderheit. Hier stießen sie auf die Nachfahren der Ruhrpolen. Also auf Menschen, deren Vorfahren aus genau den Regionen stammten, aus denen sie wiederum jetzt geflüchtet waren. Wie hat sich das denn bemerkbar gemacht? Führte das zu einem besseren Verhältnis oder gerade nicht?
NONN: Also im Großen und Ganzen war, glaube ich, die Behandlung der Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten oder aus Südosteuropa, wo ja auch eine ganze Menge herkamen, im Ruhrgebiet besser als auf dem Land. Also, als, sagen wir, im Münsterland oder in der Eifel. Das hing aber ganz wesentlich damit zusammen, dass man einfach im Ruhrgebiet wie auch in anderen Industrieregionen halt schon Erfahrung mit Migration hatte und mit Migranten hatte. Dass da Leute auch Nachfahren von Migranten waren, war vielleicht gar nicht so entscheidend unbedingt, weil – wir kennen ja dieses Phänomen, irgendwann hat man sich eingelebt, dann sagt man, das Boot ist voll, wir wollen keine anderen Leute. Das sieht man momentan gerade in den USA etwa, wo die Nachfahren von Latinos Trump zum Teil sogar wählen, was ja vollkommen absurd ist auf den ersten Blick, aber die möchten halt ihre Privilegien bewahren gegenüber diesen weiteren Zuwanderern. Das gab es im Ruhrgebiet auch, von daher war die Behandlung der Flüchtlinge dann nicht unbedingt besser, weil jemand vielleicht einen Großvater hatte, der aus Masuren gekommen ist oder aus Posen ursprünglich gekommen ist, aber man hatte einfach Erfahrung mit Migration und mit der Integration von Migranten, und das war in der Tat der positive Aspekt dieses Schmelztiegels, der ja generationenübergreifend dann doch ein Schmelztiegel gewesen war.
Musikakzent
FINCK: Mit dem Wirtschaftswunder begann wieder eine neue Epoche, die Zeit der sogenannten Gastarbeiter. Das erste Anwerbeabkommen mit Italien – 1955, richtig? – war der Startschuss für eine ganz neue, gezielte Migrationswelle. Herr Nonn, was unterscheidet denn diese Welle von den vorangegangenen?
NONN: Die kamen ja freiwillig. Sowohl die Italiener als auch die nächsten Wellen, in den 60ern kamen ja dann Spanier, Jugoslawen, Griechen...
FINCK: Die Ruhrpolen kamen auch freiwillig.
NONN: Ja, richtig. Die kamen auch freiwillig, im Gegensatz zu den Zwangsarbeitern oder den Flüchtlingen, die kamen ja gezwungenermaßen, die hatten ja sozusagen keine Wahl. Die Ruhrpolen, ja, das ist richtig, das kann man durchaus vergleichen. Ein wesentlicher Unterschied ist natürlich, vielleicht nicht, dass die von weiter weg kamen, sondern dass sie eine andere Sprache sprachen, dass sie auch keine Staatsbürger waren vor allem, die Ruhrpolen waren ja preußische Staatsbürgern gewesen, das heißt, die hatten also entsprechende Rechte. Und bei den Gastarbeitern, den sogenannten, war dieses Arbeitsverhältnis, das sie an der Ruhr hatten, zunächst mal eins auf Zeit. Das war so gedacht, durch diese Anwerbeverträge, die sollten eigentlich, solange es Arbeitskräftemangel gab, für ein paar Jahre, in Deutschland bleiben, und dann sollten sie wieder zurückgehen. Das war das, was die Deutschen, was die deutsche Regierung erwartete. Was sie selber übrigens auch erwarteten, dass sie früher oder später da wieder zurückgehen würden in ihre Heimatländer. Das war bei den anderen Migranten bis jetzt eben nicht so. Die Mehrheit von denen ist im Ruhrgebiet geblieben, hat sich da eingelebt. Während die Gastarbeiter – bei den Italienern, sind es neun von zehn, die wieder zurück gegangen sind im Laufe der Zeit. Und bei dieser zweiten Welle, den Griechen, den Spaniern, den Jugoslawen, sind es ungefähr drei Viertel, die wieder zurückgegangen sind.
FINCK: Tatsächlich?
NONN: Ja. Was schlicht und ergreifend damit zu tun hat, dass die Situation in diesen Ländern sich massiv verbessert hat. Als die angeworben wurden, in Italien zum Beispiel, die kamen ja größtenteils aus Süditalien, nicht aus dem industrialisierten Norden, der Süden von Italien war in den 50er, 60er Jahren noch vollkommen landwirtschaftlich, agrarisch. Also im Grunde so, wie Masuren oder wie Posen Anfang des 20. Jahrhunderts. Und von daher war das für die auch ein unglaublicher Wandel, eine unglaubliche Einstellung auf das, was sie dann da erlebten in dieser Industrieregion. Und zunächst mal extrem schockierend. Dann ist es aber so gewesen, dass Italien sich aber ja massiv entwickelt hat, sich industrialisiert hat. Bei Spanien und Griechenland, das waren, als die Gastarbeiter von dort kamen in den 60er Jahren, politische Diktaturen ja auch, die dann in den 70er Jahren zu Demokratien sich umgewandelt haben. Und dann war das aus wirtschaftlichen und aus politischen Gründen auch attraktiver, wieder zurückzugehen ins Heimatland.
FINCK: Sie haben vorhin geschildert, dass die sogenannten Ruhrpolen doch relativ, zumindest eine Zeitlang, relativ abgeschottet in ihren eigenen Vierteln lebten. Wie war das bei den Gastarbeitern ab den späten 50er, in den 60er und auch 70er Jahren? Wo waren die untergebracht zunächst, oder wo bekamen sie Wohnungen?
NONN: Die sind häufig zunächst mal in irgendwelchen Wohnheimen untergebracht worden. Die Arbeitgeber haben das vielfach organisiert, oder die Kommunen haben das auch organisiert. Es waren auch wieder ganz überwiegend junge Männer, die am Anfang kamen, und die sind dann in solche Ghettos gebracht worden. Sie konnten sich zwar frei bewegen in der Stadt, natürlich. Aber vielfach war es so, dass sie ursprünglich in Unterkünften von ehemaligen Zwangsarbeitern untergebracht worden sind, in den 50er Jahren. Die es ja dann häufig noch gab, da hatten früher die Flüchtlinge drin gewohnt, nach 1945. Und als die den 50ern, 60ern ausgezogen sind und in den normalen Wohnungsmarkt übergegangen sind, hat man dann sozusagen übergangslos die Gastarbeiter da reingebracht. Das hieß natürlich auch, dass die dann vielfach so ganz ähnlich gesehen wurden. Genau wie die Flüchtlinge nach wie vor als Zwangsarbeiter gesehen wurden, wurden die Gastarbeiter eben auch so von den Einheimischen gesehen. Wurden auch ausgegrenzt. Sie sprachen häufig auch die Sprache des Landes halt nicht, und haben die erst langsam gelernt. Das heißt, die waren auch massiv segregiert, die lebten lange Zeit auch massiv für sich. Die, die dann geblieben sind, waren in der Regel diejenigen, die ihre Familien nachgeholt haben und die aus diesen Heimen dann ausgezogen sind und dann irgendwie in Mietwohnungen zogen. Und dann haben sie natürlich massiven Anschluss bekommen. Allein schon über die Familie, über die Kinder vor allem, die dann mit deutschsprachigen Kindern auf der Straße gespielt haben. Und dann ist genau das passiert, was bei allen Migrationsprozessen immer wieder passiert. Die zweite Generation, die integriert sich ganz schnell und ganz leicht.
FINCK: Wann begann das, was vielfach heute als Parallelwelten beschrieben wird? Also wenn man zum Beispiel nach Duisburg Marxloh kommt, heißt es oft, da leben keine, in Anführungsstrichen, „Deutschen“ mehr, wobei Deutsche dann die Alteingesessenen sind, sondern überwiegend, 95%, nicht „Bio-Deutsche“, dieses schreckliche Wort.
NONN: Das ist ja etwas, was meistens mit den Türken verbunden wird, diese Parallelgesellschaft und auch durchaus zu Recht. Weil die Türken tatsächlich diejenige Gruppe der Gastarbeiter gestellt haben, die eben besonders zahlreich geblieben sind. Die kamen auch als letzte, die kamen ja erst seit den 1970er Jahren, im Wesentlichen, und dann in den 80ern, 90ern gab es den massiven Familiennachzug. Das heißt, Nachfahren der italienischen Gastarbeiter haben wir mittlerweile in der dritten, vierten Generation hier dabei, also ich habe solche Leute an der Uni, das ist auch bezeichnend, die sind da auch zahlreich, die Türken, die sind erst gekommen so in den letzten zehn Jahren tatsächlich hier an die Uni. Die Italiener dieser dritten, vierten Generation, die können häufig gar nicht Italienisch mehr. Die haben vielleicht noch einen Großvater in Apulien, aber wenn sie ihn besuchen wollen, dann muss Papa immer dolmetschen, weil die selbst kein Italienisch mehr sprechen. Bei den Türken ist es anders, weil die deutlich zahlreicher gewesen sind. Abgesehen davon, dass ihnen auch mehr Misstrauen entgegengebracht wurde, weil sie auch religiös natürlich anders gestrickt waren als die katholischen Italiener oder katholischen Spanier. Die Migranten aus Europa waren ja alle Christen. Das heißt, die waren leichter integrierbar. Bei den Türken, die überwiegend Muslime sind, hat das nicht so einfach funktioniert. Und sie waren sehr, sehr zahlreich. Das heißt sie hatten auch die Chance, sich einzuigeln in bestimmten Stadtteilen. Und dann kommt dazu, die Italiener, die Spanier, die Jugoslawen und so weiter, die kamen ja in den 50er, 60er Jahren, also in der Wirtschaftswunderzeit. Die Türken kamen in den 70er und 80er, 90er Jahren. Dann brachten sie Familien noch hinterher. Das heißt, in einem Zeitpunkt, wo mit den Ölkrisen dann die Wirtschaft nicht mehr ganz so rund lief. Und die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg, zur sozialen Integration waren dann deutlich eingeschränkter. Das hat dann dazu geführt, dass die tatsächlich in diesen relativ großen Gruppen, die sich also in ihren Stadtteilen, ihren Vereinen und so weiter eingeigelt haben, vielfach auch dringeblieben sind. Weil relativ wenige von denen es geschafft haben, dann sozial aufzusteigen und damit den Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft zu finden. Vielen Türken ist das gelungen. Bei den türkischen Migranten gibt es zwei Gruppen, die sind etwa gleich groß. Die eine Hälfte ist super integriert. Die Kinder sprechen alle Deutsch. Die Enkel kommen jetzt bei uns an die Uni und machen ein Uni-Studium. Das heißt, sie haben einen sozialen Aufstieg hingelegt. Total beeindruckend. Dann gibt es die andere Hälfte, der ist das nicht gelungen. Die bilden dann diese Parallelgesellschaften.
Musikakzent
FINCK Mit dem Ende des Bergbaus wurde das Ruhrgebiet dann noch einmal umgewälzt. Stichtag ist der 21. Dezember 2018. Da schloss die letzte Zeche, das legendäre Steinkohlebergwerk Prosper-Haniel in Bottrop. Das markiert endgültig das Ende dieser industriellen Prägung des Ruhrgebiets. Wie erlebten denn jetzt besonders Migrantinnen diesen sogenannten Strukturwandel? Bedeutet das für sie sozialen Abstieg? War es einfach nur ein Bruch? Eine Neupositionierung? Auch eine Chance?
NONN: Die haben das, glaube ich, genauso erlebt wie die Alteingesessenen, die im Bergbau oder in der eisenverarbeitenden Industrie tätig waren. Der Unterschied lag nur darin, dass die Arbeit im Bergbau vor allem immer eine Arbeit gewesen ist, die den Neuankömmlingen zugewiesen ist. Das war die körperlich anstrengendste, gleichzeitig aber auch relativ gut bezahlt. Das heißt, wenn man aus ärmlichen Verhältnissen aus dem Ausland kam, dann war das attraktiv, da zu arbeiten. Und es blieb immer auch nicht viel anderes übrig, als das zu tun. In der Kohle hat die Krise ja begonnen im Ruhrgebiet. Eigentlich schon in den späten 50er Jahren. In den 60er und 70ern brach sie dann ganz massiv aus. Das heißt, das haben gerade die Gastarbeiter, die da vielfach gearbeitet haben, ganz massiv mitbekommen. Für viele, gerade in den 70er Jahren, ich habe die Türken eben erwähnt, ist das sozusagen das Problem gewesen, das deren sozialen Aufstieg schwierig gemacht hat. Weil sie dann ihren Job verloren haben, weil sie in irgendwelchen anderen deutlich schlechter bezahlten Jobs sich durchschlagen mussten oder arbeitslos wurden. Wobei das eben für Alteingesessene ganz genauso gegolten hat, die in diesen Branchen tätig gewesen sind.
FINCK: Der soziale Wandel war und ist tiefgreifend im Ruhrgebiet. Und besonders eindrücklich beschrieben habe ich das gefunden bei einem 1972 in Oberhausen geborenen Nachfahren von so genannten Ruhrpolen, der sich selber als Ruhrpole versteht, obwohl er bereits in der vierten Generation hier lebt, seine Familie kam 1918 aus dem heutigen Polen ins Revier. Er will nun mit seiner Familie nach über 100 Jahren zurückkehren in das Herkunftsdorf seines Urgroßvaters. Und seine Beweggründe fasst er zusammen, er sagt, das Ruhrgebiet hat mit dem Strukturwandel seine eigentliche Besonderheit, seinen Charakter verloren. Dieses besondere Lebensgefühl ist weg. Heute bestimme nur Armut das Bild, öffentliche Einrichtungen seien marode, die Innenstädte verkommen. Und der entscheidende Grund, den er nennt: Er möchte, dass seine Kinder vor allem eine andere Zukunft haben. Und seine Kinder finden in Polen wieder, Zitat, „eine homogene Gesellschaft mit Wertevorstellungen, die wir teilen.“ Zitat Ende. Mit anderen Worten, ihm ist die Gesellschaft im Ruhrgebiet, in Deutschland vielleicht auch inzwischen, zu heterogen, zu bunt, zu fremd. Und das hat mich doch etwas aufhorchen lassen. Der Nachfahre von Zuwanderern empfindet ethnische und kulturelle Vielfalt als bedrohlich. Er sieht das nicht als Chance. Wie ist das möglich? Ist er ironischerweise vielleicht besonders integriert, weil ja auch viele alteingesessene Deutsche inzwischen so denken und diesen Wunsch nach Überschaubarkeit und mehr Homogenität besitzen.
NONN: Ja. Das ist frappierend. Vor allem, wenn man sich klarmacht, dass ja im Grunde, sagen wir, dieses Aushalten von Vielfalt und Heterogenität und kultureller Heterogenität seit 150 Jahren jetzt ein Markenkern des Ruhrgebiets eigentlich gewesen ist. Da ist ja sozusagen eine Migrationswelle nach der anderen drüber hinweggegangen. Und dann würde man eigentlich erwarten, dass man sich daran gewöhnt hat, dass man das aushalten kann. Das Problem, glaube ich, ist einfach, wie eben schon gesagt, das Ruhrgebiet ist eine Krisenregion. Und das kann man auch nicht ohne Weiteres wegdiskutieren, wie es politisch zum Teil versucht wird. Das Ruhrgebiet leidet nach wie vor an den Spätfolgen dieses Strukturwandels, des Strukturbruchs, also des Wegfalls des Bergbaus, des Kohlenbergbaus, der Schwerindustrie. Und auch wenn sich das verändert hat, und auch wenn da neue Branchen sich angesiedelt haben, Dienstleistungsunternehmen und dergleichen, ist es nach wie vor eine der Regionen mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit in Westdeutschland interessanterweise. Und das führt eben auch dazu, dass dann Parteien wie die AfD da besonders erfolgreich sind. Ich weiß nicht, wo dann sozusagen dieses sich Sehnen nach Homogenität jetzt herkommt. Das hat, glaube ich, vor allem was damit zu tun, dass die Heterogenität jetzt, anders als seit den 1850er Jahren, eben nicht mehr mit einem Boom und einem Aufbau verbunden ist. Es gibt eine einzige Phase, wo das nicht so ist. Das waren die 1920er Jahre, wo das Ruhrgebiet auch schon mal sich krisenhaft entwickelt hat. Und da gibt es eben auch massive Verwerfungen, auch massiv Abwanderungstendenzen aus dem Ruhrgebiet, also wie gesagt, die Ruhrpolen, die dann nach 1918 zum Teil gar nicht nach Polen gehen, sondern nach Belgien oder Frankreich gehen. Also, ich denke, dass das sind ganz überwiegend wirtschaftliche Faktoren, die dahinterstecken.
FINCK: Wir haben noch gar nicht geredet über syrische oder afghanische Geflüchtete, die seit 2015 auch ins Ruhrgebiet kamen.
NONN: Das sind ja nicht so viele. Wenn wir das vergleichen, etwa mit den türkischen Gastarbeitern oder auch mit den Ruhrpolen, die vor 1914 gekommen sind – die syrischen Migranten, die afghanischen Flüchtlinge, auch schon die Russlanddeutschen, die in den 1990er Jahren gekommen sind und die Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, die auch in den 1990ern ganz überwiegend gekommen sind, das hält sich zahlenmäßig einigermaßen in Grenzen. Das heißt, die hatten eigentlich gar nicht die Möglichkeit, haben auch gar nicht das Möglichkeit, jetzt Parallelkulturen da auszubilden, in dem Sinne, wie die Türkischstämmigen das im Ruhrgebiet schaffen können. Und die sind auch vielfach gar nicht ins Ruhrgebiet gegangen, weil das eben keine Region war, die wirtschaftlich boomte, sondern, wenn sie es aussuchen konnten, wenn sie die Möglichkeit hatten, frei irgendwo einen Job zu haben, dann sind sie eher nach Baden-Württemberg, nach Bayern, nach Berlin, in die Boomtowns, gegangen und sind nicht im Ruhrgebiet angekommen.
FINCK: Letzte Frage, Herr Nonn, und die führt uns ein bisschen zurück an den Anfang, als wir darüber geredet haben, ist das Ruhrgebiet nun ein Schmelztiegel, oder ist es doch eher ein sehr zerrissener Flickenteppich? Die Integrationsdebatte im Ruhrgebiet heute, die Debatte um Migration, ist sie dort, im Ruhrgebiet, im Revier weiter als anderswo, oder steht man wieder nur an einem neuen Anfang?
NONN: Ich glaube, die Migrationsdebatte unterscheidet sich nicht wesentlich im Ruhrgebiet von der Migrationsdebatte, die in anderen Teilen Deutschlands geführt wird. Das Ruhrgebiet war ja ein Vorreiter, was Migration und Migrationserfahrung angeht. Mittlerweile ist aber ja ganz Deutschland ein Land, das massiv von Migration geprägt worden ist. Ostdeutschland kommt sozusagen als letztes mit dazu, wobei es da natürlich auch Flüchtlinge gegeben hat, die da untergebracht werden mussten, und auch in Industriegebieten Ostdeutschlands hat es vorher auch schon Migrationserfahrungen natürlich gegeben. Die sind aber so dann in der DDR-Zeit weitgehend flachgefallen. Da wollte dann keiner mehr hin. Aber das erklärt so ein bisschen wahrscheinlich, warum Migrationsfeindschaft da eigentlich zuerst so einen Boden gefunden hat. Mittlerweile ist es so, dass es da, glaube ich, eine Angleichung gegeben hat, das Ruhrgebiet sich nicht mehr so wahnsinnig unterscheidet. Das Einzige, was es in gewisser Weise ausmacht, ist diese Krisenhaftigkeit. Das Gefühl einer Perspektivlosigkeit ist im Ruhrgebiet nicht überall, aber vielfach doch besonders stark ausgeprägt. Und das führt dazu, dass eben dann solche Wolkenkuckucksheime von ethnisch homogenen Gesellschaften da auch einen größeren Anklang finden, als das in anderen Bereichen, auch gerade auch in anderen großstädtischen Millieus der Fall ist. Wenn man sich bestimmte Städte wie Köln, Düsseldorf und so etwas anguckt, da hat man ja eine wesentlich größere Offenheit gegenüber Migration mittlerweile, auch in politischer Hinsicht, als das im Ruhrgebiet der Fall ist. Und das hat eben ganz massiv damit zu tun, dass das Dienstleistungsmetropolen sind, während die Ruhrgebietsstädte eben alte Industriestädte sind, die es vielfach, nicht alle, aber vielfach immer noch nicht geschafft haben, in diese neue Dienstleistungswelt aufzusteigen.
FINCK: Das ist kein besonders positiver Ausblick.
NONN: Nein, ist es nicht. Und das wird auch in absehbarer Zeit nicht wesentlich besser werden, wahrscheinlich.
FINCK: Gibt es für Sie trotzdem etwas, wo Sie sagen, ja, das ist für mich doch ein typisches Ruhrgebietsemblem, -gefühl, eine Besonderheit, in Bezug auf Migration jetzt, die andere Regionen, selbst wenn die längst nachgezogen haben, die andere Regionen nicht haben?
NONN: Es ist diese unglaubliche Vielfalt von Migration, die da stattgefunden hat. Also, wie gesagt, seit den 1850er Jahren, auch Migration, die ja vielfach übersehen worden ist, die Nahwanderung, die aber genauso relevant ist und die für die, die dort gewandert sind, genauso schwierig gewesen ist und für die Alteingesessenen ganz genauso, sich an die dann zu gewöhnen, weil die ja damals sozusagen von Dörfern, wo es nichts gab, in Großstädte gezogen sind, wo es Theater, Kinos, Straßenbahnen und so weiter schon gegeben hat. Das war wirklich ein Kulturschock, auch wenn man nur 50 Kilometer von Münster dann nach Dortmund gezogen ist. Ungefähr so, wie man heute von Zentralanatolien nach Duisburg dann halt zieht. Und diese Vielfalt von Migrationserfahrung von fast 200 Jahren mittlerweile, die gibt es in anderen deutschen Regionen in diesem Ausmaß ganz überwiegend nicht.
FINCK: Herr Nonn, ganz herzlichen Dank für das Gespräch heute.
NONN: Gerne.
Musik
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 15: Im Revier. Von Ruhrpolen, Gastarbeitern und Kriegsflüchtlingen
Almut Finck im Gespräch mit Christoph Nonn
Eine Kooperation mit der Stiftung Orte der Deutschen Demokratiegeschichte
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