Wurzeln schlagen? Jüdisches Leben in Deutschland von 1945 bis heute
Shownotes
Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 – wer blieb nach der Shoah im Land der Täter, wer kehrte aus dem Exil zurück, und wie gelang der Aufbau neuer Gemeinden? In der neuen Folge des historycast spricht Almut Finck mit der Soziologin Karen Körber vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg.
Das Gespräch beleuchtet, welche Überlebensstrategien jüdische Familien nach 1945 fanden, wie sie Isolation und Antisemitismus erfuhren und überwanden und was sie überhaupt zum Dableiben oder Rückkehren bewegte. Karen Körber schildert, wie jüdisches Leben in den Nachkriegsjahren zwischen provisorischer Gemeinschaft und Emigrationsdruck nach Israel aussah und wie Migrationen aus Osteuropa und sogar dem Iran seit den 1950er Jahren das Gemeindeleben prägten. Ein Schwerpunkt liegt auf der Zuwanderung sogenannter Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion in den 1990er Jahren, die das jüdische Leben in Deutschland grundlegend veränderte. Schließlich geht es um die heutige Vielgestaltigkeit jüdischer Identität und um aktuelle Erfahrungen neuer Migration – etwa junger Israelis seit den 2010er Jahren – im Spannungsfeld von Chancen, Selbstbehauptung und aktuellen Bedrohungen.
Karen Körber leitet am Hamburger IGdJ den Bereich der Jüdischen Gegenwartsforschung. Ihre Schwerpunkte bilden die jüdische Migrationsgeschichte nach 1945 und der soziale, religiöse, kulturelle und institutionelle Wandel der jüdischen Gemeinschaft seit den 1990er Jahren.
Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.
Staffel 4, Folge 13 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.
**Jüdisches Leben in Deutschland ab 1945 ** Deutsche Holocaust-Überlebende wanderten nach 1945 mehrheitlich aus. Wer blieb, tat dies oft notgedrungen, etwa weil sie oder er zu traumatisiert und gesundheitlich zu geschwächt für eine Ausreise war. Es gab aber auch rund 9000 jüdische Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus dem Exil. Oft kamen sie mit dem Wunsch, ein besseres, demokratisches Deutschland mitzugestalten. Insgesamt lebten in den ersten Nachkriegsjahren 15000 bis 20000 Jüdinnen und Juden in Deutschland – gegenüber rund einer halben Million vor 1933. Bekannte Persönlichkeiten wie Hans Rosenthal, Ralf Giordano oder Paul Spiegel gehörten zu denjenigen, die in Deutschland blieben oder zurückkamen und das öffentliche Leben auf Jahrzehnte prägten.
Migration und Antisemitismus Zu der kleinen Anzahl deutscher Jüdinnen und Juden kamen etwa 200.000 jüdische Personen aus Osteuropa, insbesondere aus Polen und der Ukraine. Antisemitismus in den Herkunftsländern führte dazu, dass viele nicht in ihre Heimatorte zurückkehren konnten. In Deutschland waren sie zunächst in DP-Lagern (Displaced Persons Camps) untergebracht, wo auch religiöse und kulturelle jüdische Gemeinschaften entstanden. Die meisten dieser osteuropäischen Jüdinnen und Juden emigrierten nach wenigen Jahren in die USA oder ab 1948 nach Israel. Antisemitismus blieb nach 1945 ein dauerhafter Begleiter. Familien berichteten in Zeitzeugeninterviews von Ausgrenzung, alltäglicher Bedrohung und ihrem Rückzug ins Private. Jüdische Identität wurde oftmals im vertrauten Kreis Gleichgesinnter gelebt, etwa in kleinen Gemeinden oder Netzwerken wie der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes).
Persische Juden und Hamburger Teppichhandel Einen Sonderfall stellt die jüdisch-iranische Migration nach Hamburg dar. Dort entwickelte sich ab den 1950er Jahren ein florierendes Teppichhandel-Netzwerk, das Hamburg zum größten Umschlagplatz Europas für Perserteppiche machte. Die persischen Juden brachten religionsgebundene Riten mit und integrierten sich in die lokale Gemeinde. Die Erfahrungen der iranischen und europäischen Juden differierten stark: Während iranische Juden familiär vernetzt blieben und keine Holocaust-Erfahrung hatten, standen viele deutsche Juden – oft ohne ihre Angehörigen – vor dem Nichts.
Wandel durch Einwanderung aus der Sowjetunion Nach dem Zusammenbruch der UdSSR kamen ab 1991 rund 220.000 sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Der Begriff Kontingentflüchtling steht für eine Gruppenaufnahme aus historischen und politischen Gründen, mit Bezug auf „Wiedergutmachung“. Diese Migration veränderte die jüdische Gemeinschaft grundlegend: Die Mehrheit der Gemeindemitglieder stammte fortan aus Osteuropa, sprach andere Sprachen und war meist wenig religiös geprägt. Die Herausforderungen für soziale Integration, religiöse Praxis und Erinnerungskultur waren enorm.
Erinnerungskultur und aktuelle Entwicklungen Die unterschiedlichen Migrationswellen führten zu vielschichtigen Erinnerungskulturen: Während osteuropäische Juden häufig den Sieg über den Faschismus in den Vordergrund stellen, ist für viele deutsche Juden der Holocaust zentral. Projekte wie die Erforschung ukrainisch-jüdischer Familiengeschichte zeigen, dass lokale Erinnerungsorte und Narrative oft differieren. Seit spätestens den 2000er Jahren wandern zunehmend junge Israelis und amerikanische Juden nach Deutschland, häufig nach Berlin. Sie suchen oft bessere und friedlichere Lebensbedingungen, Bildungschancen, und politische Freiheiten oder knüpfen familiäre Bande. Aktuelle Krisen, wie der Krieg in Gaza und Antisemitismus in Europa, bestimmen zwar auch ihre Lebenswirklichkeit in Deutschland, haben aber bisher nicht zu nennenswerten Rückwanderungen geführt.
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KÖRBER: Ich glaube, dass es vor allen Dingen darum geht, dass sie hier Lebenschancen verwirklichen können, von denen sie sagen, in einem Land, das teuer ist, das dauerhaft schon vor dem 7. Oktober und den Folgen immer im Kriegszustand lebt, das politisch immer weiter nach rechts rückt, ist es leichter, entweder auf Zeit oder verdauert, woanders und eben auch in Deutschland zu leben. Dann gibt es durchaus ja politisch unterschiedliche Fraktionen. Also solche, die in klarer politischer Distanz stehen zu dem, was die israelische Politik ist, aber auch solche, die durchaus erstmal nicht so sehr aus politischen Motiven weggegangen sind. Was sie aber, glaube ich, alle miteinander verbindet, ist die Erfahrung, dass das Leben in Israel, mal jenseits der einzelnen politischen Bewertung, immer schwieriger wird. FINCK: Aber auch in Deutschland, dass sie plötzlich hier bedroht sind. KÖRBER: Das stimmt, aber nach wie vor, wenn wir auf die Zahlen gucken, können wir nicht sagen, dass es starke Rückwanderungen deswegen gibt. Also die Auswanderungszahlen, wenn man jetzt nur auf die Zahlen der Zentralwohlfahrtstelle der jüdischen Gemeinden schaut, dann waren die für 2024 – nun sind das Zahlen, die sich auf die Mitgliedschaften von Gemeindemitgliedern beschränkt – 190 haben das Land wieder verlassen, wohin jetzt auch immer. Das ist keine große Zahl. Es gibt immer wieder das Sprechen darüber, dass möglicherweise man in Deutschland nicht bleiben kann, aber bislang schlägt sich nicht in Zahlen nieder, dass es tatsächlich eine signifikante Auswanderung von Jüdinnen und Juden aus Deutschland geben würde. Das ist anders als in Frankreich. In Frankreich gibt es wirklich große Zahlen seit geraumer Zeit. Das ist in Deutschland bisher nicht so. FINCK: Wie erklären Sie das? KÖRBER: Das hat, glaube ich, tatsächlich etwas damit zu tun, dass in Frankreich der Antisemitismus von muslimischer Seite eine andere Größenordnung hat, als das in Deutschland bislang der Fall ist. Und auch eine andere Geschichte hat, vor dem Hintergrund auch der französischen Kolonialgeschichte etc. Und da treffen einfach nochmal andere Realitäten aufeinander. FINCK: Frau Körber, meine letzte Frage. Wenn Sie einem jungen Israeli oder einem jungen Amerikaner, einem jüdischen Amerikaner, die überlegen, ob sie nach Deutschland kommen sollen, um hier zu wohnen und zu arbeiten, wenn Sie denen in wenigen Sätzen, in kurzen Sätzen sagen sollten, wie sieht jüdische Identität in Deutschland heute aus? Was würden Sie dann sagen? KÖRBER: Dann würde ich sagen, dass jüdisches Leben in Deutschland heute so divers aussehen kann, wie es das bis vor der Wende definitiv nicht gewesen ist. Das gilt für die Möglichkeiten, religiös verschieden in Deutschland jüdisches Leben zu leben. Immer noch sehr eingeschränkt, wenn Sie hier orthodox leben können, ist das mühsam zu organisieren, aber es geht. Dass Sie aber auch als säkular jüdische Person, die sich eher kulturell für das Judentum interessiert oder wie auch immer, das in einer guten Weise können, insbesondere wenn Sie in Berlin leben, aber durchaus mittlerweile auch an anderen Orten dieses Landes. Dass es fraglos Bedrohungssituationen gibt in diesem Land. Die gibt es allerdings, muss man nüchtern sagen, in vielen anderen Ländern auch. Und dass die Möglichkeiten, diese verschiedenen jüdischen Selbstverständnisse auch mit anderen zu teilen, also Gruppen zu finden, Initiativen zu finden und Gemeinschaften und Gemeinden zu finden, heute größer sind, als sie das bisher in Deutschland nach 1945 gewesen sind. FINCK: Frau Körber, ganz herzlichen Dank für das Gespräch. KÖRBER: Herzlichen Dank für das Interview. Musik Was war – was wird Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte Folge 13: Wurzeln schlagen? Jüdisches Leben in Deutschland von 1945 bis heute Almut Finck im Gespräch mit Karen Körber Eine Kooperation mit der Stiftung Orte der Deutschen Demokratiegeschichte. HOSTREAD Zum Schluß noch ein Audio- und Videotip für Sie: 1945, das Kriegsende. Jüdische Überlebende stellen sich die Frage: Bleiben oder Gehen? Vielleicht sogar zurückkehren? Darüber habe ich gerade mit Karen Körber gesprochen. 1945 ist aber auch das Jahr, als der erste der Nürnberger Prozesse beginnt – der Versuch der Alliierten Siegermächte, dem Terror der Nationalsozialisten ein faires rechtsstaatliches Gerichtsverfahren entgegenzusetzen. Daran erinnert jetzt das neue Podcast- und Filmprojekt des Bayrischen Rundfunks „Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen“. Es erzählt die Geschichte zweier Auschwitz-Überlebender, die sich im Gerichtssaal begegnen – der Zeugin Seweryna Szmaglewska und des jungen Reporters Ernst Michel. Zu sehen und zu hören ab dem 9. November 2025 in der ARD Media- und Audiothek – und überall da, wo es Podcasts gibt.
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