Saison-, Fremd- und Gastarbeiter. Arbeitsmigration nach Deutschland

Shownotes

Der Begriff "Gastarbeiter" entstand bereits in der NS-Zeit, berichtet der Historiker Ulrich Herbert im historycast. Allein im Zweiten Weltkrieg seien bis zu 13,5 Millionen Menschen als sogenannte "Zwangsarbeiter" nach Deutschland verschleppt worden. In den 1950er Jahren sorgten Vertriebene und Flüchtlinge für ausreichend Arbeitskräfte in der Bundesrepublik. Anwerbeabkommen seinen erst nach dem Mauerbau 1961 relevant geworden, als keine geflohenen Fachkräfte aus der DDR mehr zur Verfügung standen. Herbert bezweifelt allerdings, dass die sogenannten Gastarbeiter für den Wohlstand der Bundesrepublik unerlässlich waren. Sehr lange habe die Politik, vor allem die Union, nicht akzeptieren wollen, dass Deutschland zum Einwanderungsland geworden sei. Rechtsradikale hätten in ganz Europa das Thema Migration für sich entdeckt und politisiert. Die Situation für Migranten, so Ulrich Herbert im Gespräch mit Heiner Wember, sehe in Deutschland besser aus als in den meisten anderen europäischen Ländern "nach den Maßstäben Heiratsverhalten, Aufstieg, sozialer Aufstieg, Kinder." Herbert kommt zu dem Ergebnis: "Insgesamt ist die Migrationsgeschichte der letzten 40, 50 Jahre in Deutschland eine Erfolgsgeschichte."

Professor Ulrich Herbert ist Historiker und hat 25 Jahre lang Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg gelehrt. Er gehört zu den führenden deutschen Historikern zur Migrationsgeschichte und zu den Themen Nationalsozialismus und Geschichte der Bundesrepublik.

Dr. Heiner Wember ist Radiojournalist und Historiker aus Münster.

Staffel 4, Folge 12 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]

Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.

**Saison-, Fremd- und Gastarbeiter. Migration nach Deutschland ** Die Geschichte der Migration nach Deutschland ist geprägt von wechselnden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Debatten. Sie reicht von den Saisonarbeitern der Kaiserzeit über die Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus bis hin zu den sogenannten Gastarbeitern der Nachkriegszeit und den Herausforderungen des modernen Einwanderungslandes.

Von der Saisonarbeit zur Arbeitsmigration Bereits Ende des 19. Jahrhunderts setzte mit der Industrialisierung eine starke Wanderungsbewegung innerhalb des Deutschen Reiches ein – viele Arbeitskräfte aus den östlichen Teilen des Reiches sowie aus Polen, Holland und Italien zogen in die boomenden Industriegebiete. Der Begriff „Saisonarbeiter“ bezeichnete damals vorwiegend ausländische Landarbeiter, die nur für die Erntezeit ins Land kamen. Die Angst vor „Polonisierung“ und „Überfremdung“ führte zu ersten rechtspopulistischen Zusammenschlüssen wie dem Alldeutschen Verband – ein früher Ursprung des Rechtsradikalismus in Deutschland.

Zwangsarbeit im Nationalsozialismus Während des Zweiten Weltkriegs setzte sich der Begriff „Fremdarbeiter“ für ausländische Zwangsarbeiter durch, die insbesondere in der Landwirtschaft und Rüstungsindustrie eingesetzt wurden. Insgesamt befanden sich bis zu 13 Millionen Arbeitskräfte aus dem Ausland zeitweise im deutschen Einflussbereich, darunter auch viele Kriegsgefangene. Die Todesrate unter sowjetischen Kriegsgefangenen direkt nach dem deutschen Angriff 1941 war besonders hoch. Etwa drei Millionen Menschen starben in Massenlagern hinter der Front. Ein Verbrechen, das bis heute wenig thematisiert wird.

Integration und Wandel nach 1945 Nach Kriegsende änderte sich das Bild: Die Bundesrepublik musste nicht nur die eigene Bevölkerung versorgen, sondern auch Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten integrieren. Die Arbeitslosigkeit war zunächst hoch, doch ab Mitte der 1950er-Jahre setzte wirtschaftlicher Aufschwung ein. Die Anwerbeabkommen mit Italien ab 1955 und später mit weiteren Ländern führten zur gezielten Arbeitsmigration ab 1961 – zunächst aus Italien, Spanien, Griechenland, Jugoslawien und schließlich aus der Türkei. Der Begriff „Gastarbeiter“ bürgerte sich ein, wurde aber zunehmend kritisch hinterfragt.

Der Mythos „Gastarbeiter“ und die Realität In Hochphasen der Arbeitsmigration lebten mehrere Millionen ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland – oft in schlecht bezahlten und gesundheitsschädlichen Jobs der Industrie und des Bergbaus. Die Vorstellung, dass sie nach einigen Jahren wieder zurückgehen würden, erfüllte sich nur zum Teil: Viele holten ihre Familien nach und blieben dauerhaft. Das führte zu wachsender gesellschaftlicher Debatte über Integration, Bildung und das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland. In den 1970er-Jahren kulminierte diese Entwicklung in wilden Streiks und wachsender Sichtbarkeit ausländischer Arbeitnehmer in Gewerkschaften.

Der Wandel der Asyldebatte seit 1980 Seit den 1980er-Jahren steht das Asylrecht verstärkt im Mittelpunkt der politischen Debatte. Neue Migrationsbewegungen aus Krisen- und Kriegsgebieten (Vietnam, Jugoslawien, Osteuropa) waren begleitet von politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Besonders nach der Wiedervereinigung kam es zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen und Pogromen, die zu weitreichenden gesetzlichen Änderungen führten. Bis heute gibt es eine direkte Korrelation zwischen der wirtschaftlichen Lage und der Zahl der Asylbewerber.

Migration als Erfolgsgeschichte Heute haben rund 30 Prozent der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Betrachtet man die Nachkriegsflüchtlinge und Vertriebenen, hat über die Hälfte der Bevölkerung migrantische Wurzeln. Trotz zahlreicher Herausforderungen, wie Debatten über Integration, Gleichberechtigung und Bildung, kann die Migrationsgeschichte Deutschlands in den letzten 50 Jahren insgesamt als Erfolgsgeschichte gewertet werden – sie hat zur Modernisierung, gesellschaftlichen Vielfalt und wirtschaftlichen Dynamik beigetragen.

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HERBERT: Ob sie für den Wohlstand unerlässlich waren, ist auch noch mal die Frage. Also volkswirtschaftlich gibt es gute, seriöse Berechnungen, die zeigen, dass die Gastarbeiter in den frühen 60er Jahren vor allem in die Bereiche gebracht worden sind, die eigentlich rationalisierungspflichtig waren und dadurch zu einem rationalen Modernisierungsdefizit der westdeutschen Industrie geführt haben. Also differenzieren, genau hingucken. Aber insgesamt ist in Deutschland die Migrationsgeschichte der letzten 40, 50 Jahre eine Erfolgsgeschichte.

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 4: Demokratie und Migration: Wege und Stationen in der deutschen Geschichte

Folge 12: Saison-, Fremd- und Gastarbeiter. Arbeitsmigration nach Deutschland

Heiner Wember im Gespräch mit Ulrich Herbert

WEMBER: Die Worte Gast und Arbeit klingen aus deutschem Mund positiv und einladend. Gäste hat man meist gerne. Und Arbeit ist das halbe Leben. Doch wenn man beide Worte verbindet, bekommt das für uns heute ein Geschmäckle. Gastarbeiter? Warum, Herr Herbert?

HERBERT: Zunächst war das nicht so, da hatte es kein Geschmäckle oder scheinbar keins. Der Begriff war nicht neu. Den gab es schon in der Nazizeit, weil die Arbeiter, die von Nazideutschland aus dem befreundeten Italien ins Deutsche Reich geholt worden waren, um hier zu arbeiten, zum Beispiel bei dem Aufbau des VW-Werks, die wurden Gastarbeitnehmer genannt. Tatsächlich gab es den Begriff schon.

WEMBER: Da war es ein offizieller Begriff, aber später nicht mehr.

HERBERT: Dieser Begriff Gastarbeiter, offiziell stand der jedenfalls in der Zeitung, und das war ein bisschen problematisch. Vor allen Dingen dann während des Krieges, weil ja sehr viele italienische Zwangsarbeiter gekommen sind seit 1943, auf die sich die ganze Wut von Teilen der deutschen Bevölkerung über die Italiener und die Verräter, wie sie genannt wurden, entladen hat. Der inoffizielle Begriff für die ausländischen Zwangsarbeiter, die rund 8 Millionen während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland waren, war Fremdarbeiter.

WEMBER: Dies war die offizielle Sprachregelung.

HERBERT: Nicht offiziell, die wurden so genannt. Ich würde sagen: Es kam eher von unten. Offizieller Titel ist ausländische Zivilarbeiter, und diese Fremdarbeiter, das ist ein Begriff, den man schon seit längerem kannte, aus den 20er Jahren schon. Der wurde nach 45, also dann in den späten 50er Jahren, als die ersten ausländischen Arbeiter angeworben wurden, weiter gebraucht.

WEMBER: Noch mal kurz zu den Zahlen. Ende 1944 waren 8 Millionen Fremdarbeiter.

HERBERT: Ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene ist der offizielle Begriff. 7,8 Millionen ist die genaue Zahl derer, die gleichzeitig zu einem Stichtag auf dem Gebiet des Großdeutschen Reiches inklusive Österreich zur Arbeit eingesetzt waren. Sehr unterschiedliche Kategorien. Zählt man nun diejenigen hinzu, die im deutsch besetzten Europa aus einem Drittland, aus der Sowjetunion, nach Norwegen oder nach Frankreich waren, dann waren es zu einem gleichen Zeitpunkt etwa 9,5 Millionen. Nimmt man noch diejenigen hinzu, die überhaupt mal für eine längere Zeit in Deutschland als Zwangsarbeiter in Anführungszeichen gearbeitet haben, dann kommt man auf Zahlen zwischen zwölf und 13,5 Millionen. Das ist etwa die die Zahl derer, die überhaupt mal für eine gewisse Zeit in Deutschland außerhalb ihres Heimatlandes gearbeitet haben. Die Zahl der aus Afrika nach Amerika verschifften Sklaven ist zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert insgesamt 14 Millionen, die gleiche Größenordnung.

WEMBER: Professor Ulrich Herbert ist Historiker und hat 25 Jahre lang Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg gelehrt. Er gehört zu den führenden deutschen Historikern zur Migrationsgeschichte und zu den Themen Nationalsozialismus und Geschichte der Bundesrepublik. Sein Buch mit dem Titel „Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge“ behandelt genau unser heutiges Thema. Klären wir noch mal weitere Begriffe, bevor wir wieder über den Nationalsozialismus sprechen. Gastarbeiter hatten wir schon. In der Kaiserzeit hießen sie Saisonarbeiter.

HERBERT: Bis 1871 gab es überhaupt keine. Kein Reich, keine Ausländer, also keine Deutschen, keine Ausländer. Da war der Hesse für den Westfalen Ausländer. Und das auch nicht in einem juristisch straffen Sinn. Erst mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und dann eigentlich erst 1906 mit der Definition des Reichsbürgers ist das ein klarer juristischer Begriff geworden. Und dann erst hat sich die unterschiedliche Gesetzgebung für Inländer und Ausländer entwickelt. Und um 1890 herum, als die Industrialisierung in Deutschland explodierte, innerhalb von wenigen Jahren, zogen sehr viele Arbeitskräfte aus den östlichen Teilen des Reiches nach Berlin, danach ins Ruhrgebiet und in andere Regionen, in denen stark Industrie war.

WEMBER: Meine Heimatstadt Datteln war ein Dorf, 3000 Einwohner, wuchs auf 40.000 an über Nacht mehr oder weniger durch die Zeche.

HERBERT: Heute ja schon eher bald wieder ein Dorf, wenn es so weitergeht wie viele andere Ruhrgebietsstädte auch. Diese Bewegung nach Westen, diese Migrationsbewegungen umfassten ja Deutsche, also juristisch Deutsche. Darunter aber auch jene, die im von Deutschland besetzten Teil Polens lebten. Polen war damals in drei Teile geteilt, ein Teil gehörte zu Russland, einer zu Preußen, und der dritte zu Österreich. Und da sich die deutschen Arbeiter, die deutschsprechenden, will ich jetzt mal sagen, nach Westen bewegten zu einem großen Teil, weil sie das zigfache verdienten, hatten die Großlandwirte östlich der Elbe, gekennzeichnet durch Großgrundbesitz.

WEMBER: Keine Arbeit.

HERBERT: Leutemangel hieß der Begriff. Und dann hat man vor allen Dingen aus Russland und aus Österreich Polen zur Arbeit geholt. Aber nur während der Erntezeit, also nur während der Zeit, in der auf dem Land wirklich viele Arbeitskräfte gebraucht wurden.

WEMBER: Man hatte Angst vor einer Polonisierung.

HERBERT: Und zwar zu Recht. Weil: das war ja Polen. Aus dem Protest gegen die Heranholung der ausländischen Polen hat sich der Alldeutsche Verband entwickelt, die Keimzelle des deutschen Rechtsradikalismus. Tatsächlich. Und die Auseinandersetzung um den Status der ausländischen Polen hat diese ganze Debatte beginnen lassen. Um die Frage Überfremdung und Deutsch. Das Ganze muss deutsch bleiben oder deutsch werden. Und auch die Vorstellung, dass man die alle wieder zurückschicken müsste. Das hat dann geklappt, weil die Menschen, die man während der Wintermonate zurückgeschickt hat, die durften dann nicht bleiben und auch nichts verdienen. Ist übrigens bis heute im landwirtschaftlichen Bereich weltweit relativ häufig. Also ist jetzt keine Gemeinheit nur der Deutschen damals gewesen. Aber damals hatte man auch den Eindruck, auf diese Weise könnte man verhindern, dass sie sich eventuell niederlassen würden. Auf ewig. Was natürlich nicht geklappt hat. Die haben sich natürlich trotzdem niedergelassen, weil sie geheiratet haben. Und die Bürokratie war auch noch bei weitem noch nicht so ausgeprägt. Die haben dann eigene Behörden, haben ein eigenes System errichtet, so eine Art Ausländerpass mit Ein- und Ausgangsstempel. Hat alles nicht richtig geklappt. Jedenfalls die waren, weil sie nur in der Saison da waren, Saisonarbeiter. Aber es gab auch noch sehr viele andere ausländische Arbeitskräfte im Deutschen Reich, das ja wie gesagt wirtschaftlich eine unglaubliche Entwicklung genommen hat. Nur die USA haben ähnliche Wirtschaftswachstumszahlen in der Welt zu dieser Zeit. Dann also viele Arbeitskräfte aus Holland und aus den Niederlanden und aus Italien. Italien vor allen Dingen Straßenbauarbeiter und die sogenannten Terrazzi, also die Leute, die Terrassen gemacht haben, Wege gepflastert in großen Zahlen.

WEMBER: Das waren insgesamt so 1 Million.

HERBERT: Insgesamt etwa 1 Million und dann mit den Saisonarbeitern 1,5 Millionen, während die Ruhrgebietspolen, das waren ja deutsche Staatsbürger. Ja, die hatten nur den Nachteil, dass sie kein Deutsch sprachen. Kettenwanderung nennt man das. Da sind also acht, neun Leute dann meinetwegen in Gelsenkirchen auf Zeche Nordstern oder was weiß ich wo gelandet. Und die holen natürlich ihre Verwandten, Bekannten, Freunde aus dem gleichen Dorf nach, so dass man bis heute zeigen kann, wer aus welcher Gegend der Schimaneks und Polskis, aus welcher Gegend bei Posen oder was weiß ich kommt. Das ist sehr typisch für Arbeitswanderung weltweit.

WEMBER: Es gab dieses Schimpfwort Pattjacken So wie Patchwork, dass sie so mit abgerissenen Kleidern ankamen.

HERBERT: Es gab auch eine strenge und eine starke Häme ihnen gegenüber, weil sie so viele Kinder haben und so katholisch sind, in preußischen Gebieten zumal. Und auch schon die Vorwürfe, dass die also viele Kinder kriegen und damit gewissermaßen Überfremdung bringen. Während des Krieges, Ersten Weltkriegs, kamen dann noch ungefähr 1,5 Millionen Kriegsgefangene dazu, weil die deutschen Männer ja an der Front waren. So dass da noch etliche Millionen auch schon während des Ersten Weltkriegs insgesamt da waren. Die österreichischen Polen mussten zurück, weil die beim verbündeten österreichischen Heer eingesetzt werden sollten.

WEMBER: Im Ersten Weltkrieg gab es ja einen massiven Einsatz von Frauen in den Rüstungsbetrieben. Das wollten die Nazis aus ideologischen Gründen ja nicht so.

HERBERT: Das stimmt also vor allem zu Anfang des Krieges 1939, dass explizit von den NS-Behörden gesagt wurde Wir wollen keinen massenhaften Einsatz von Frauen. Begründet wurde das ideologisch mit rassistischen Elementen. Das war aber ein bisschen vorgeschoben. Es ging auch darum, dass im Ersten Weltkrieg der Fraueneinsatz bei den deutschen Arbeitern an der Front, den Soldaten, so viel Unmut erregt hat, dass die Nazis der Überzeugung waren. Eine der Faktoren für die Aufstände am Ende des Ersten Weltkriegs und die großen Streiks der Arbeiter seien darauf zurückzuführen, was nicht völlig falsch war.

WEMBER: Die Heimatfront, die dann zusammengebrochen war angeblich.

HERBERT: Und daraus schlossen die Nazis: Das machen wir besser nicht, sonst sind die deutschen Männer sauer, dass ihre Frauen arbeiten müssen. Das hat sich aber im Grunde nur bis 41 gehalten, weil: Dann ist die Zahl der weiblichen Beschäftigten doch sehr stark gestiegen. Und der Anteil der Frauen, die dann 1943/44 erwerbstätig waren, erreicht dann fast die Größenordnung der Westalliierten. Ja, aber das Problem war natürlich, dass die Deutschen vorhatten, gegen den Rest der Welt Krieg zu führen.

WEMBER: Und der totale Krieg brauchte unglaublich viele Arbeitskräfte und da wurden auch viele ideologische Vorbehalte über Bord geworfen.

HERBERT: Wenn man die Ideologie erst mal zur Seite nehmen will, dann sehen wir, dass ein Land wie Deutschland, 60 Millionen Einwohner damals mit Österreich, dann vielleicht 70 oder 75 gegen die Sowjetunion, gegen England, Frankreich, den Rest der Welt und schließlich auch dann seit Dezember 41 auch gegen die USA Krieg führt, eine völlige Überdehnung der eigenen Kräfte. Das geht nur und ging nur zwei, drei Jahre gut aus heroischen Anstrengungen einerseits und eben vollständiger Ausbeutung der besetzten Länder und der Arbeitskräfte, die man zum Teil in den besetzten Ländern für die eigene Rüstung eingesetzt hat und eben auch in Deutschland selbst. Und es gab eine gewisse Auseinandersetzung, ob es günstiger ist für die deutsche Wirtschaft, zum Beispiel französische Facharbeiter in ihren Heimatbetrieben für Deutschland arbeiten zu lassen oder nach Deutschland zu bringen. Da gab es etwa zwischen Speer und dem Sauckel, zwei der dafür zuständigen NS-Spitzen, heftige Auseinandersetzungen. Was ist besser? Kann man nicht so richtig entscheiden? Gibt es für beides Argumente. Die Kriegsgefangenen wurden fast alle auf dem Land, also Landwirtschaft eingesetzt. Und dann wurden ab 1940 in zunehmendem Maße auch polnische Zivilarbeiter eingesetzt und vorher erst mal rekrutiert, das heißt eingefangen. Die wollten nämlich nicht, obwohl im Grunde vorher, vor 39, das Interesse für polnische Arbeiter, nach Deutschland zu kommen, sehr hoch war. Für Russen, Ukrainer, Weißrussen und Polen war Deutschland in den 20er und dreißiger Jahren so ein bisschen das, was die USA für Deutschland waren. Aber dann, als es zwangsweise war, dann wurden die Arbeiter systematisch eingefangen, indem man Schulen umstellt hat, Kirchen umstellt hat und die Leute dann direkt zum Bahnhof gebracht hat. Und dann kamen die in Gelsenkirchen an, und dort standen schon die Vertreter der Unternehmen, und die haben sich die Leute dann ausgesucht wie auf dem Sklavenmarkt. Das war richtig Zwangsarbeit.

WEMBER: Wissen wir, wie viele Menschen ungefähr umgekommen sind?

HERBERT: Die Todesraten bei den Zwangsarbeitern bis 45 sind nicht höher als die durchschnittliche Mortalität. Die größte Bedrohung für die waren die alliierten Bombenangriffe. Da hatten die nämlich nur weniger Schutz, durften nicht in die Schutzräume, hatten nur so Splitterschutzgräben. Die Todeszahlen waren am größten bei den russischen Kriegsgefangenen, die zunächst ja nicht zur Arbeit eingesetzt werden sollten, weil die Deutschen, die deutsche Führung war der Überzeugung: Wir haben den Krieg gewonnen, so im Herbst 41. Und diese Millionen von Gefangenen, mit denen kann man nix anfangen. Und dann haben die die in riesigen Lagern im Hinterland der Ostfront verrecken lassen, anders kann man das nicht ausdrücken. Und Lager ist auch der falsche Begriff. Da muss man sich ein Tal vorstellen mit sechs oder sieben Maschinengewehr-Nestern drumherum und 100.000 Leute, die da drin waren. Und von denen sind dann die meisten gestorben an Unterversorgung und Durst und Hunger und Kälte und Krankheiten. Insgesamt 3 Millionen. Eines der größten Verbrechen der Nazizeit, über das nach wie vor wenig reflektiert wird.

HERBERT: Aber dann hat man dann Jahreswende 41/42 gemerkt: Der Krieg ist jetzt doch nicht so schnell vorbei. Es wird noch ein paar Wochen dauern. Die waren ja von ihrer Siegeszuversicht geradezu besoffen. Und wir brauchen also jetzt Arbeitskräfte in rauen Mengen, weil wir die deutschen Arbeiter doch an die Front schicken müssen. In den geschützten Arbeitsbereichen, also im Rüstungsbereich, da waren ja die Arbeiter eigentlich geschützt vor Einziehung zum Militär. Die wurden jetzt doch eingezogen zum großen Teil, und darauf kamen nun in riesigem Ausmaß vor allem Arbeitskräfte aus der Sowjetunion, Männer wie Frauen. Übrigens auch bei den Polen, halbe-halbe. Das nun wiederum aus ideologischen Gründen, damit die polnischen Arbeiter ihre sexuelle Gewalt nicht auf die deutschen Frauen richteten. Das ist alles ziemlich furchtbar und erbärmlich, was man da so zu lesen bekommt. Und die sowjetischen Zivilarbeiter wurden dann auch 42 in riesigen Ausmaßen nach Deutschland gebracht. Die Reichsbahn hatte ja alle mit den Zügen von Osten nach Westen gebracht und die Züge sind aber von Deutschland nach Osten nicht länger gefahren mit Rüstungsgütern.

WEMBER: Nein?

HERBERT: Juden.

WEMBER: Ach so.

HERBERT: Da sind die Juden deportiert worden. Der Götz Aly hat das mal genau aufgefangen und gezeigt, wie das funktioniert hat. Die sind in Deutschland in diese Waggons eingepfercht worden, nach Auschwitz gebracht worden oder Treblinka oder andere. Und dann sind die bis zum nächsten Kriegsgefangenenlager oder andere Sammelstelle für Zivilarbeiter. Und mit denen sind die wieder zurück, um die Arbeitskräfte nach Deutschland zu bringen.

WEMBER: Also ein unglaubliches Ausmaß an Zwangsarbeitereinsatz. Lassen sie uns mal in die Nachkriegszeit springen. Da drehte sich ja plötzlich die Situation völlig um, weil plötzlich in der Bundesrepublik, in Westdeutschland nicht nur die Menschen waren, die Deutschen, die vorher da schon gelebt haben, sondern auch ein Riesenheer an Vertriebenen und Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten.

HERBERT: Die Arbeitslosigkeit unter Flüchtlingen, Vertriebenen war am Anfang sehr hoch. Aber in Deutschland, der Bundesrepublik insgesamt. Das hat sich dann ab 53/ 54 schnell geändert und dann bis 57 noch schneller.

WEMBER: Da hat es sich dann fast gedreht. Trotzdem finde ich interessant: Das erste Anwerbeabkommen mit Italien 1955, da schien, dass die Initiative gar nicht von der Bundesrepublik ausging, sondern von Italien, dass nämlich dort eine hohe Arbeitslosigkeit herrschte, dass man Angst hatte vor kommunistischen Aufständen, und was auch ein wichtiges Argument war: Dieses Handelsbilanzdefizit der Italiener. Dass man Angst hatte, dass die Italiener irgendwann keine deutschen Produkte mehr kaufen würden, dass da viele Ministerien mitgemischt haben.

HERBERT: Es wird überschätzt, weil: der Zufluss von ausländischen Arbeitskräften geht eigentlich richtig 1961 los mit dem Mauerbau und nicht vorher. Die Zahlen vorher sind ganz gering. Denn bis dahin gab es diesen wunderbaren Zufluss von Zehntausenden, ja zum Schluss fast 300.000 in einem Jahr.

WEMBER: Sogar Fachkräfte, die schon Deutsch sprachen, Da brauchte man keine Italiener.

HERBERT: Und dann haben die Anwerbeabkommen, die man schon geschlossen hatte und weitere mit der Türkei zum Beispiel wurden dann abgeschlossen, dann gewirkt, so dass man in relativ kurzer Zeit ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland holen konnte, konnte und wollte. Jetzt waren die Deutschen noch recht zögerlich am Anfang, bis dann die Wirtschaft in den 60er Jahren in der Bundesrepublik so stark nach oben gegangen ist, dass der Arbeiterbedarf immer größer wurde und dann zunächst also Italiener und Spanier, dann Jugoslawen und Griechen, die Zahl der Jugoslawen war bei uns relativ hoch. Eine Zeit lang waren sie, glaube ich, die größte Gruppe und dann erst ab 1970.

WEMBER: Da wurden die Türken die stärkste Gruppe.

HERBERT: Wichtig ist dabei die sogenannte Wirtschaftskrise 66/67. Das war eine winzige kleine Veränderung der Zahlen. Wir wären froh, wenn man heute so eine Wirtschaftskrise hat.

WEMBER: Hat aber Panik ausgelöst, weil man dachte: Weltwirtschaftskrise, Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, es kommt alles wieder.

HERBERT: Alles wieder. Und dann hat sich aber gezeigt, dass durch die Verschlechterung der Wirtschaftsdaten und die großen Befürchtungen die Zahl der ausländischen Arbeiter innerhalb von kurzer Zeit erheblich um 300.000 gesunken ist. Und das ist für die weitere Entwicklung der Ausländerbeschäftigung in Deutschland von großer Bedeutung, weil die deutschen Behörden - ich spreche immer von westdeutschen Behörden, wenn ich Deutsche sage - die waren aber fest davon überzeugt: Das ist ja super. Wenn Krise ist, gehen die von alleine, und wenn Hochkonjunktur ist bei uns, dann holen wir wieder welche. Und dann wurden allerhand Maßnahmen ergriffen, also dass die alle paar Jahre ausgetauscht werden müssen, damit die sich nicht daran gewöhnen. Nach dem Vorbild der guten alten Saisonarbeiter aus dem Kaiserreich, damit die also nicht sich heimisch fühlen sollten, sollten die nach fünf Jahren ausgetauscht werden. Die Unternehmen waren damit gar nicht einverstanden, weil sie sagten: Wir brauchen mindestens ein, zwei Jahre, um die anzulernen. Und wenn die richtig gut dabei sind, dann müssen sie schon wieder raus. Und das war nachher bei den fünf Jahren auch so: Das wurde dann alles gelassen. Und dementsprechend sind dann die Zahlen ab 1968 richtig nach oben geschossen, bis wir dann 1973 ich glaube knapp 4 Millionen ausländische Arbeitskräfte, inklusive Familien allerdings, in Deutschland und in der Bundesrepublik hatten. Vor allen Dingen verändert es die volkswirtschaftliche Rechnung. Denn wenn die mit 21 nach Deutschland kommen, hier zehn Jahre arbeiten und dann wieder zurückgehen, dann haben wir als Deutsche nur Vorteile davon.

WEMBER: Die zahlen in die Rentenversicherung ein, brauchen keine Kindergärten.

HERBERT: Keine Schulen usw., das brauchen die alles nicht, die brauchen auch keine Altersheime, die ganze Infrastruktur. In dem Moment, wo die hierbleiben und ihre Kinder, ihre Familien nachholen: Hier beginnt das politische Problem des Ausländereinsatzes, weil es plötzlich nicht mehr ein Zufluss von Arbeitskraft ist ohne zusätzliche Belastung, sondern die gesamte Infrastruktur, soziale Infrastruktur ist da mit drin. Aber selbst das war kein Hinderungsgrund, immer weitere zu holen. Schon Anfang der 70er Jahre verändert sich die gesamte Wirtschaftsstruktur in Deutschland, in Europa, in den USA und Russland schon ein bisschen früher, weil der Wiederaufbau-Boom der Nachkriegsjahre zu Ende ist. Aber viel wichtiger: Die Grundlage dieses Wirtschaftsaufschwungs war ja Schwerindustrie, Elektrochemie, das sind die großen Bereiche.

WEMBER: Man brauchte damals ganz viele niedrig qualifizierte Menschen, die am Anfang, die Drecksarbeit gemacht hat, wenn man so will.

HERBERT: Schichtarbeit. Ja.

WEMBER: Als Akkord.

HERBERT: Fließbandarbeit der ausländischen Arbeitskräfte in sogenannten Feuerbetrieben, also wo Hitze ist, und Untertage waren weitaus überproportional ungelernte Arbeitskräfte. Mit ungelernten Arbeitskräften ist aber die industrielle Wirtschaft in Europa und in Deutschland groß geworden. Interessant ist, dass zur gleichen Zeit seit Anfang der 60er Jahre der Anteil der Realschüler und Gymnasiasten drastisch steigt und dann plötzlich.

WEMBER: Unsere Kinder sollen es besser haben.

HERBERT: Hatten Sie ja auch. Und in diese Lücke stießen dann die sogenannten Gastarbeiter. Und nun, Ende der 60er, Anfang der 70er, ändert sich die gesamte Struktur. Die klassische Industrie verliert an Bedeutung, und die Zahl der ungelernten Arbeiter ist viel zu hoch. Die braucht man nicht mehr. Und das ist Ende der 70er Jahre. Anfang der 80er spitzt sich das zu, dass die Zahl der ungelernten Arbeiter, Deutsche wie Ausländer, den größten Teil der Arbeitslosen stellen. Mit Abstand.

WEMBER: Vorher gab es noch 1973 die Ölkrise, damit verbunden die Wirtschaftskrise und dieser Anwerbestopp. Dass die sozialliberale Koalition gesagt hat: Jetzt ist Stopp, es kommen keine neuen mehr rein. Auch wegen dieser sogenannten Krise der standardisierten Massenproduktion. So hieß das dann, was Sie gerade angeführt haben. Dass die Nachfrage nach ungelernten Industriearbeitern dauerhaft die Grundlage entzogen war. Da gab es etwa 2,6 Millionen ausländische Arbeitnehmer, und die Rotation wurde dann faktisch allerdings abgeschafft, weil ja auch die Arbeitnehmer dann sich überlegen mussten: Bleibe ich in Deutschland, gehe ich zurück. Wenn ich zurückgehe, komme ich nicht mehr rein. Das heißt, dass eigentlich dieser Abschottungseffekt dazu führte, dass noch viel mehr wahrscheinlich geblieben sind.

HERBERT: Italien zum Beispiel, da sind sehr viele von diesen Arbeitskräften zurückgegangen. In anderen Fällen, zum Beispiel Türken, auch Jugoslawen, eher nicht. Die haben aber die Familien nachgezogen. Und da geschieht nun etwas. Nachdem der Anwerbestopp 73 begründet worden war mit den Scheichs und Öl, was aber absurd ist, weil, letztlich ging es um die Verschiebung des wirtschaftlichen Schwerpunktes in Deutschland, in Europa. In anderen Ländern ganz genauso. Aber nun ab 73 sinkt zunächst mal die Zahl der ausländischen arbeitenden Frauen wie Männer. Aber die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung, die sinkt nicht. Die bleiben hier und holen ihre Familie nach. Und ihre Kinder auch. Da beginnen die großen Debatten über Ausländer und Ausländerfeindlichkeit in dem Moment.

HERBERT: Als dann Helmut Kohl Bundeskanzler war, war das einer der vier Schwerpunkte seiner Regierung. Also Integration einerseits, Abschiebung andererseits.

HERBERT: Hat viel Geld gekostet, hat aber nicht viel gebracht.

WEMBER: Die blieben.

HERBERT: Ja. Vor allem die, die gegangen sind, haben gewartet, bis sie dann diese Rückführungs-Zuschüsse bekommen haben. Und danach ist die Zahl der Zurückgehenden ganz gering geworden. Mitnahmeeffekt nennt man das. Dann hat man 10.000 Mark bekommen und konnte sich dafür ein Taxi in Istanbul kaufen. So ist jedenfalls die Legende. Was immer damit geschehen ist.

WEMBER: Noch mal kurz einmal zu den Zahlen. Ich habe gelesen: 14 Millionen insgesamt, die nach Deutschland gekommen sind.

HERBERT: Das sind alles Schätzberechnungen, dass es erhebliche Zahlen sind und man etwa die Zahl der Wohnbevölkerung mit 4,2 Millionen, was man sicher einfach mal probehalber mit drei multiplizieren kann, um mal so eine Größenordnung zu kommen, ist richtig, aber genaue Zahlen sind das nicht.

HERBERT: Anfang der 60er Jahre gab es ein Unbehagen an dem Begriff Fremdarbeiter. Und wieso? Also, Erhard spricht immer noch von Fremdarbeiter. Ja. Und dann gab es eine Zeit lang oder vom WDR einen Wettbewerb, was der richtige Begriff ist. Und dann hat sich der Begriff durchgesetzt, der ohnehin schon von den Politikern genannt wurde. Das verbunden mit so einer Art, ich würde fast sagen kolonialen Attitüde. Der Italiener aus Süditalien, der kommt hier zu uns, arbeitet und lernt hier Kultur und Sitte kennen, gewissermaßen mit Messer und Gabel zu essen. Und das ist ein Stück Entwicklungshilfe für die südosteuropäischen Länder. Wörtlich. Der Arbeitsminister Blank hat das gesagt. Damit ist der Begriff Gastarbeiter, der hat diese Konnotation, die kommen zu uns, gewissermaßen wie ein Praktikant in Western Civilization. Ausgerechnet nach Deutschland. Ja, also das Ganze ist schon ziemlich absurd. Und der Begriff Gastarbeiter wurde dann schon in den 60er Jahren von Journalisten sehr bekannt. Ulrike Meinhof, die damals bei der Konkret gearbeitet hat, bei der Zeitung Zeitschrift Konkret und ziemlich interessante und auch aufrüttelnde Berichte über die Wohnverhältnisse der Gastarbeiter und sich dann eben auch über den Begriff Gastarbeiter kritisch hergemacht hat. Also die Soziologen und die mit ihnen übereinstimmende Öffentlichkeit: Sie haben den Begriff dann in den 70er Jahren praktisch für obsolet erklärt.

WEMBER: Und ersetzt durch was? Ersetzt durch welchen Begriff?

HERBERT: Gar nicht. Sondern das Wort Gastarbeiter wurde in Anführungszeichen ein Begriff der Zeit. Man hat sich davon distanziert. Das seien eben Migranten und der Begriff.

WEMBER: Arbeitsmigranten, ja ausländische Arbeitnehmer.

HERBERT: Der Begriff Migrant kommt in der Wissenschaft erst relativ spät auf. Ich habe gerade letztes Jahr ein neues Buch herausgegeben über Migration in Europa. Da habe ich das mal genau aufgeführt, wann das ist. Anfang der 70er Jahre. Vorher war der Begriff entweder für wandernde Naturvölker oder in der Biologie also für einwandernde Vogelsorten oder was weiß ich.

WEMBER: Anfang der 70er Jahre war nicht nur eine Zeit, wo dann auch der Begriff stark diskutiert wurde Gastarbeiter, sondern es gab dann 1973 400 nicht genehmigte Streiks. Wilde Streiks sagen wir auch gerne. Etwa 300.000 Beschäftigte waren beteiligt. Oft ging es um Arbeitsbedingungen von Arbeitsmigranten, zum Beispiel 1973 bei den Ford-Werken in Köln. Wird immer so ein bisschen heute gehyped diese Vorstellung, dass sie dann endlich angekommen wären und der Gastarbeiter dann zum Kollegen wurde. Da ist aber auch viel Mythos dabei.

HERBERT: Es ist vor allen Dingen der Lieblingsmythos der deutschen Linken, die endlich wieder ein Subjekt, ein revolutionäres Subjekt der Arbeiterklasse erkannt haben. Indem diese wilden Streiks, die Streiks bei Ford in Köln dann zum Gegenstand gewissermaßen nicht nur intensiver Beobachtung, sondern auch Verklärung gemacht haben. Und die Zahl der Streiks war insgesamt zu dieser Zeit relativ hoch, ob mit oder ohne Gastarbeiter. Ich würde das insgesamt historisch für eine interessantes, aber nicht besonders entscheidendes Element ansehen. Jedenfalls ist daraus eine Art linker Mythos entstanden. Internationale Arbeiterklasse, die kommt jetzt ganz groß auf die Bühne. Das ist ein Phänomen, das wir ja etwa im Gender Pay Gap nur zu gut kennen, also die unterschiedliche Bezahlung für gleiche Arbeit. Das ist ein Element des Integrationsprozesses, der in Deutschland ja zweifellos stattgefunden hat, obwohl der Begriff genauso umstritten ist wie die Gastarbeiter selber. Und was heißt schon Integration? Und was heißt Assimilation? Das sind akademische Debatten, auf die ich jetzt mal gar nicht eingehen will. Interessant ist, dass das Bezugssystem für einen Großteil der ausländischen Arbeitskräfte und ihrer Familie nach einigen Jahren, spätestens nach zehn Jahren, spätestens an den ersten Kindern, die da sind, die deutschen Verhältnisse werden. Oder die Verhältnisse im Einwanderungsland. Und dann entsteht natürlich auch Protest. Dann steigt der Anteil der ausländischen Arbeitskräfte in den Gewerkschaften. Die Gewerkschaften spielen dann seit Ende der 70er Jahre eine positive Rolle. Vorher waren sie sehr, sehr deutsch, also sehr, sehr stark auf Schutz der deutschen Arbeit.

WEMBER: Sie waren auch für diesen Anwerbestopp 1973, die Gewerkschaften und Arbeitgeber.

HERBERT: Die Rechtsradikalen haben sich darüber ja politisiert, neu politisiert, indem sie ein neues Thema hatten, das sie vorher nicht hatten. Und nun bekommen sie über die Anwesenheit der Ausländer, der Gastarbeiter und ihrer Familien ein neues Thema bis heute, an dem sie sich gewissermaßen neu konstruieren oder neu erfinden. Europäisch überall. In allen Ländern ist das so, dass der Rechtsradikalismus mit der Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften seit den 60er Jahren massiv in Holland, in Italien, überall zunimmt.

WEMBER: Man könnte ja sagen, Deutschland wäre ein Einwanderungsland geworden. Das hat tatsächlich Heinz Kühn von der SPD 1979 gesagt, dass Deutschland faktisch ein Einwanderungsland sei. Die CDU und Helmut Kohl haben es aber ganz anders gesehen.

HERBERT: Ja, auch Kühn war innerhalb seiner Partei isoliert. Der hatte den Auftrag von der Regierung bekommen, eine Art von Bestandsaufnahme. Und da standen erstaunliche Dinge drin: die Widersprüche, die Integration, die Problematik, die Perspektiven für die nächste Generation. Und darüber wurde lange diskutiert. Und die politische Linke hat sich darüber ebenfalls stark politisiert oder auf dieses Thema stark bezogen. Und bei den Konservativen war spürbar, dass sie einerseits unter dem Druck der Unternehmer standen, die eben ausländische Arbeiter immer weiter wollten bis heute, in der Krise, und auf der anderen Seite ihre eigene Mitgliedschaft und ein Großteil der eher konservativen Bevölkerung, die die Anzahl der Ausländer als zu hoch ansehen. Und das geht nun in der großen Krise 1982.

WEMBER: Die neue Regierung aus Union und FDP vereinbart: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Zitat: „Es sind daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden.“

HERBERT: Das ist Tenor dessen, was Kohl zu dieser Zeit sagt. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere Seite ist, dass wir einen bis dahin nie erlebten Umschwung in der öffentlichen Meinung haben. Während noch Ende der 70er Jahre eine Minderheit in Deutschland der Meinung war, die Gastarbeiter sollten wieder nach Hause gehen, wechselt das bis Anfang der 80er Jahre auf über 70%. Eine unglaublich schnelle Entwicklung. Das heißt, die Union und Kohl reagieren hier auf starke Entwicklungen in der Bevölkerung, die natürlich mit der massenhaften Arbeitslosigkeit zu tun haben, denn wir haben 1982 diese zweite große Wirtschaftskrise nach 73/74, und die ist nun richtig tiefgreifend.

WEMBER: Und noch 100.000 Asylbewerber 1980.

HERBERT: Ja, die kommen dazu, die werden jetzt erst mal nicht wahrgenommen. Hier geht es erstmal nur darum, dass die Zahl der Gastarbeiter oder dass die Gastarbeiter zurückgehen sollen. Das ist plötzlich eine massenhaft vertretene Parole, und darauf reagiert die Regierung mit dieser. „Deutschland ist kein Einwanderungsland“, weil es ja Forderungen gegeben hat: „Wir sind ein Einwanderungsland“. Zum Beispiel von den Migrationshistorikern in der ZEIT, weil das so eine verbreitete Position war: Wir müssen uns wie Kanada als Einwanderungsland einstellen. Das haben die schlaueren Konservativen alle längst gewusst, aber dann gesagt: Kriegen wir sofort um die Ohren gehauen, geht nicht. Wir können zwar Integrationsprozesse in Gang setzen und auch unterstützen, aber öffentlich sagen können wir es nicht.

WEMBER: So zaghaft begann das dann ja auch in den Achtzigern.

HERBERT: Von unten begannen die Integrationsprozess viel heftiger, als wir das heute glauben. Das kommt vor allem von den Betrieben. Der Begriff vom Gastarbeiter zum Kollegen kommt eigentlich von Betrieben her, weil, schon in den 60er Jahren war die Kooperation zwischen deutschen und ausländischen Arbeitern Untertage oder im Stahlwerk oder in Fabriken viel, viel besser.

WEMBER: Da, wo man sich begegnet, funktioniert es viel schneller.

HERBERT: Obwohl, in den Wohnbezirken war es anders. Die Ausländerghettos in den schlechten Stadtteilen von Duisburg. Konnte man gewissermaßen Straße für Straße genau sehen, wer in Marxloh lebte usw. In den Bezirken gab es doch viel Ärger, auch wenn dann bestimmte Gegenden verwahrlost sind, die Deutschen weggezogen sind. Dieser übliche Kreislauf, den wir ja kennen, und diese Prozesse der Integration von unten gehen natürlich auch von den Kindern, von der Schule aus. Man merkt das auch an anderen wichtigen Daten der Integration, zum Beispiel Heiratsverhalten. Wie hoch ist der Anteil der Heiraten zwischen Deutschen und Ausländern? Nicht sehr hoch, aber er steigt also vor allem unter Gastarbeitern. Und der Besuch höherer Schulen von den Kindern steigt auch in den einzelnen nationalen Gruppen etwas unterschiedlich. Steigt bei den Türken dann auch seit den 80er Jahren und geht Anfang der 90er Jahre rabiat zurück. Warum? Na, wegen der Pogrome der frühen 90er Jahre, als die Ausländerheime und Asylbewerberheime angezündet worden sind.

WEMBER: Nach der Wende.

HERBERT: Mit zig Toten. Und dann ist aber die Zahl der türkischen. Kinder, die auf höhere Schule gegangen, wieder gestiegen oder der Abiturienten, kann man heute sehr schön beobachten.

WEMBER: Gerade die Mädchen sind bildungsbeflissen.

HERBERT: Sehr beeindruckende Entwicklung. Also, der Integrationsprozess wird stärker von unten forciert, und die Politik muss darauf reagieren. Tut sie aber nicht, weil Deutschland ist kein Einwanderungsland ist zum Mantra der Union geworden bis Ende der 90er Jahre.

WEMBER: Sie haben 1991 diese Aussage „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ aus dem Dresdner Manifest gestrichen.

HERBERT: Das hat auch damit zu tun, dass unter Innenminister Schäuble ein neues Ausländergesetz gekommen ist, das wesentlich liberaler war. Seit 1980 kommt ein neues Phänomen, das man vorher gar nicht kannte. Der Begriff Asyl war in Deutschland völlig unbekannt. Wenn man mal googelt nach Asyl und oder noch besser in den Bibliotheken. Man schaut, wie viele Begriffe Asyl kommt eigentlich in den Büchern vor? Vor 1980 fasst überhaupt keiner. Das geht mit den Türken los und mit den Boatpeople aus Vietnam. Dass nämlich mehrere Millionen Vietnamesen nach dem Krieg in den Vietnamkrieg aus Südvietnam fliehen, meistens mit Booten. Und die meisten kommen in den USA unter. Die Amerikaner verlangen dann ziemlich ostentativ von den anderen Ländern, dass sie auch welche aufnehmen. Und dann hat der damalige Ministerpräsident Albrecht es auch getan in Niedersachsen. Aber jetzt war die Frage: Können die denn Asyl bekommen? Die sind doch gar nicht politisch verfolgt, ist nur wirtschaftlich. Und daraufhin wurde eine neue Kategorie eingeführt, die sogenannten Kontingentflüchtlinge. Damit gab es dann Sonderregelungen. Später mit den Jugoslawen auch noch mal.

WEMBER: Und mit den Juden aus Osteuropa.

HERBERT: Kontingent auch. Dieser Begriff ist da entstanden und später dann auf die Juden aus Osteuropa übertragen worden. Durch den Zerfall der Sowjetunion, und die Flüchtlinge kommen zu 65 % aus Osteuropa, aus Rumänien, aus Russland, aus Polen, vor allem aus der Sowjetunion oder Ex-Sowjetunion. Die Protestwelle, die sich nun gegen die richtet, seit 1990, besonders seit der Wiedervereinigung, richtet sich aber vor allem gegen Schwarzafrikaner. Die aber waren eigentlich nur eine Minderheit, aber die erkannte man. Nun entstehen diese schrecklichen Pogrome, und die Rechtsradikalen in West und Ost, haben nun Aufwind, weil sie glauben, sie sind im Auftrag des Volkes unterwegs, indem sie die Asylbewerberheime anzünden und die Leute verfolgen. Und was bis heute keiner weiß, dass in den 90er Jahren über 70 Menschen dabei zu Tode gekommen sind. Man redet immer nur über Rostock Lichtenhagen. Da ist aber keiner zu Tode gekommen. Und diese Pogrome der frühen 90er Jahre, an denen die Union nicht ganz unbeteiligt war, weil sie das Asylgesetz ändern wollte und dazu eine Zweidrittelmehrheit brauchte und die SPD da erst mal dagegen war. Und hat dann diese Proteste mit angestoßen und befeuert. Natürlich nicht aufgerufen zu Pogromen, aber das hat sich daraus entwickelt. Das war auch innerhalb der Union umstritten. Also Geißler hat sich da sehr, sehr häufig und sehr deutlich gegen gewendet, aber andere eben nicht. Und das hat dann dazu geführt, dass das Asylgesetz, der Asylartikel geändert worden ist. Und wer aus einem Land kam, in dem es keine Verfolgung gab, der bekam kein Asyl mehr. Asylkompromiss hat nicht viel gebracht, obwohl die Zahl der Asylbewerber dann deutlich zurückgegangen ist. Aber nicht etwa aus diesem Grund, sondern die Zahl der Asylbewerber steht in direkter Korrelation zur wirtschaftlichen Entwicklung. Man kann also gewissermaßen die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts nehmen und die Zahl der Asylbewerber und eine vollständige und nahezu vollständige Parallele finden.

WEMBER: Es gibt keine einfache Antwort.

HERBERT: Na ja, wenn man mal sieht. Das ganze was wir jetzt besprochen haben, ist ein europäisches, zum Teil sogar weltweites Problem. In dem Maße, in dem man merkt oder feststellt, wie sehr das ein gesamteuropäisches und westeuropäisches Problem ist, verliert man die Überzeugung, dass man das durch nationale Gesetze einfach so ändern kann und dass solche massenhaften Prozesse, die ja sehr stark politisch und wirtschaftlich getriggert sind, wie schwer die steuerbar sind. Häufig ist das ja auch miteinander verbunden, zum Beispiel wenn man sieht, eine syrische Familie im Jahr 2011 wird vom IS bedroht. Außerdem ist sie arbeitslos.

WEMBER: Gibt es zwei Gründe wegzugehen?

HERBERT: Sehr häufig ist das ja so. Ich halte also diese Differenzierung politisch und wirtschaftlich häufig für nicht genau genug oder zu pauschal. Mittlerweile 30 % der Deutschen haben eine Migrationsgeschichte. Nimmt man die Flüchtlinge und Vertriebenen von 45 hinzu, ist es die Mehrheit. Dann würde ich auch dazugehören. Meine Mutter kam aus Ostpreußen, und die ersten Gastarbeiter-Familien, die empfinden sich überhaupt nicht mehr als Migranten. Dann ist die Situation etwa im Schnitt der ausländischen oder Migrationsbevölkerung in Deutschland wesentlich besser als in den meisten anderen europäischen Ländern. Nach den ganzen Maßstäben Heiratsverhalten, Aufstieg, sozialer Aufstieg, Kinder usw. Im Grunde ist es so, dass die Migrationsgeschichte eine Erfolgsgeschichte ist.

WEMBER: Okay, ganz zum Schluss habe ich noch ein Zitat, was immer wieder vorkommt von Max Frisch 1965. Kennen Sie natürlich. Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Menschen. Ist aber nur ein Ausschnitt aus dem Zitat. Ganz heißt es: „Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr. Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Menschen. Sie fressen den Wohlstand nicht auf. Im Gegenteil, sie sind für den Wohlstand unerlässlich.“

HERBERT: Ja, dazu könnte man viel sagen. Ob sie für den Wohlstand unerlässlich waren, ist auch noch mal die Frage. Also volkswirtschaftlich gibt es gute, seriöse Berechnungen, die zeigen, dass die Gastarbeiter in den frühen 60er Jahren vor allem in die Bereiche gebracht worden sind, die eigentlich rationalisierungspflichtig waren und dadurch zu einem rationalen Modernisierungsdefizit der westdeutschen Industrie geführt haben. Auch das muss man berücksichtigen, will man der ganzen Sache gerecht werden und das Ganze nicht nur mit so einer moralischen Tränenperspektive betrachten, sondern gibt es auch harte Fakten, die zeigen, dass das Ganze komplizierter ist und nicht auf einen Nagel und auf einen Leisten zu schlagen.

WEMBER: Auf jeden Fall müssen wir mit Migration leben.

HERBERT: Nein, wir freuen uns darauf, weil: Unter Migration wird ja in Sozialwissenschaftlern zum Beispiel auch Tourismus gefasst, und die Vorstellung, die Welt wäre plötzlich migrationsfrei. Nicht mal die DDR hat das geschafft, obwohl sie sich sehr bemüht hat. Die wäre ja ganz schrecklich. Also differenzieren, genau hingucken. Aber insgesamt ist die in Deutschland die Migrationsgeschichte der letzten 40, 50 Jahre eine Erfolgsgeschichte.

WEMBER: Herr Herbert, vielen Dank!

HERBERT: Ich bedanke mich auch.

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 4: Demokratie und Migration: Wege und Stationen in der deutschen Geschichte

Folge 12: Saison-, Fremd- und Gastarbeiter. Migration nach Deutschland

Heiner Wember im Gespräch mit Ulrich Herbert

Eine Kooperation mit der Stiftung Orte der Deutschen Demokratiegeschichte.

WEMBER: Wenn Sie sich mit dem Thema der gerade gehörten historycast-Folge noch weiter auseinandersetzen wollen: Hören Sie doch mal beim WDR-Zeitzeichen rein. Dort finden Sie eine Reihe von spannenden Sendungen zu ähnlichen Themen. Die Links dazu haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt.

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