Guckst du Duden! Migration und Sprachwandel
Shownotes
Wie verändert Migration die deutsche Sprache – und wie viel Vielfalt steckt eigentlich im heutigen „Kiezdeutsch“? Im neuen historycast spricht Almut Finck mit dem Soziolinguisten Ibrahim Cindark über die sprachlichen Spuren von Einwanderung und Integration. Cindark erläutert, wie Gastarbeiterdeutsch, Kanak Sprak und Jugendsprache entstehen, warum Begriffe wie „Lan“ und „Yallah“ ihren festen Platz im deutschen Alltag gefunden haben und weshalb die Aufnahme von fremden Wörtern ein Zeichen für die Lebendigkeit einer Sprache, nicht ihren Niedergang ist. Der Podcast beleuchtet, wie Migration schon immer zum Wandel von Sprache beigetragen hat – von französischen Lehnwörtern zur Zeit der Einwanderung der Hugenotten bis zur Gegenwart. Es wird diskutiert, wie Code-Switching sowie neue urbane Sprechstile unser Verständnis vom Deutschen und auch das, was im Duden steht, nachhaltig verändert haben.
Ibrahim Cindark forscht am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim zu Mehrsprachigkeit und interkultureller Kommunikation. Im historycast ordnet er Migration und Sprachwandel in die aktuelle Bildungsdebatte ein und zeigt, warum Sprache stets von Begegnungen und Vielfalt lebt.
Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.
Staffel 4, Folge 11 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.
In dieser historycast-Folge beleuchten Almut Finck und der Soziolinguist Ibrahim Cindark vom Mannheimer Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, wie Migration den deutschen Sprachwandel beeinflusst hat und weiterhin prägt. Die Episode setzt sich mit historischen und aktuellen Entwicklungen der deutschen Sprache auseinander, von französischen und türkischen Lehnwörtern bis hin zu urbanen Soziolekten wie Kiezdeutsch. Diskutiert werden die Rolle von Sprachvereinen, die Integration von Migrantensprachen, die Bedeutung von Jugendsprache und die gesellschaftliche Bewertung von Sprachvielfalt.
**Migration und Sprachwandel in Deutschland ** • Migration hat die deutsche Sprache seit Jahrhunderten immer wieder verändert. • Französische Lehnwörter gelangten besonders durch die Hugenotten und den Adel ins Deutsche und beeinflussten Alltagssprache, Architektur und Literatur. • Türkische und arabische Begriffe wie „Kaffee“, „Zucker“, „Kiosk“, „Döner“ oder „Hamam“ sind seit den 1960er Jahren Bestandteil des Deutschen, teils auch im Duden zu finden. • Jugendwörter wie „Aura“, „Talahon“, „Sheesh“ oder „Yallah“ spiegeln aktuelle Sprachtrends wider; sie vermischen Einflüsse aus arabischen, türkischen und englischen Sprachen. • Die Integration von Wörtern ins Deutsche ist ein fortlaufender Prozess, der nicht klar geregelt ist; Aufnahme in den Duden gilt häufig als „Ritterschlag“. Sprachvereine und Widerstand gegen Fremdwörter • Im 19. Jahrhundert entstand der Allgemeine Deutsche Sprachverein, der gezielt Neuschöpfungen wie „Landstraße“ oder „Bahnsteig“ erfand, um französische Begriffe zu ersetzen (Chaussee oder Perron). • Viele Ersetzungen, etwa „Nahrohr“ für Mikroskop und „Kraftwagenschuppen“ für Garage, konnten sich jedoch nicht durchsetzen. • Der heutige Verein Deutsche Sprache veröffentlicht seit 1997 einen Anglizismus-Index und schlägt alternative deutsche Begriffe vor, um den Einfluss englischer Wörter einzudämmen. • Der Widerstand gegen Fremdsprachen im Deutschen wird kontrovers diskutiert; Erfolge sind heute seltener als im 19. Jahrhundert.
Kiezdeutsch, Gastarbeiterdeutsch und Kanak Sprak • Die Gastarbeitergeneration prägte eine spezifische Lernersprache mit vereinfachten Strukturen, etwa dem Ausfall von Artikeln und Präpositionen. • Kiezdeutsch, ein urbaner Multi-Ethnolekt, entstand in den 1990er Jahren in jugendlichen Migrantenmilieus und verbreitete sich. • Jugendliche verfügen über ein vielfältiges sprachliches Repertoire und betreiben gezieltes Code-Switching zwischen Standarddeutsch, Soziolekt und Herkunftssprache. • Begriffe wie „Kanak Sprak“ wurden als Bezeichnung für migrantisch geprägte Jugendsprache populär, sind aber wegen rassistischer Konnotation umstritten. • Kiezdeutsch gilt nach Ansicht von Experten heute als eigenständiger Sprechstil, manche sprechen sogar von einem neuen Dialekt; der Begriff Soziolekt ist aber eher nacxh Ansicht Ibrahim Cindarks zutreffender.
Gesellschaftliche Bewertung und Klassismus • Die Wertung von Migrantensprachen ist oft von Klassismus geprägt; Türkisch und Arabisch stehen im gesellschaftlichen Ansehen deutlich hinter Englisch und Französisch. • Sprachliche Vielfalt durch migrantische Einflüsse wird von Teilen der Bevölkerung kritisch gesehen und als „falsches Deutsch“ bewertet; klassische Beschwerden über schlechte Jugendsprache sind seit Aristoteles belegt. • Sprachverbote auf Schulhöfen werden als pädagogisch und sprachwissenschaftlich fragwürdig kritisiert. • Das Konzept einer klar abgegrenzten deutschen Sprache wird als überholt betrachtet; in urbanen Räumen vermischen sich deutsche sowie migrantische Sprachformen zunehmend. Schriftsprache und Bildungschancen • Migration beeinflusst nicht nur die gesprochene, sondern auch die geschriebene Sprache; das Alphabet selbst entstand aus Wandarbeiter-Kontakten in der Antike. • Unterschiede in der Schriftsprache zwischen Migranten und Nicht-Migranten lassen sich eher auf Bildungsnähe als auf Herkunft zurückführen. • Das Repertoire der Jugendlichen umfasst Standarddeutsch, Herkunftssprache, verschiedene Dialekte und Formen des Mischens.
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TEASER
CINDARK: Im Zuge der Nationenbildung im 19. Jahrhundert hat es dann der Allgemeine Deutsche Sprachverein als seine Aufgabe verstanden, Neuschöpfungen, deutsche Wörter, zu kreieren, und dadurch französische Entlehnungen zu ersetzen. Ein Beispiel ist Landstraße. Vorher hatte man das französische Wort Chaussee verwendet. Ein anderes Beispiel ist Bahnsteig. Vorher hatte man das Französische Wort Perron verwendet. Andere Beispiele waren aber nicht so erfolgreich, zum Beispiel haben die vorgeschlagen, nicht mehr Mikroskop zu verwenden, sondern Nahrohr. Ein Nah-Rohr. Oder nicht mehr Garage zu sagen, sondern Kraftwagenschuppen.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 11: Guckst du Duden! Migration und Sprachwandel
Almut Finck im Gespräch mit Ibrahim Cindark
FINCK: Aura, Talahon, Schere, das sind Jugendwörter des Jahres 2024. 2023 waren es Goofy, Side Eye und NPC. Es sind, das müssen wir, glaube ich, extra betonen, alles deutsche Wörter. Oder besser gesagt, sie sind Teil eines Jargons, den deutsche Jugendliche, viele deutsche Jugendliche, benutzen. Herr Cindark, kennen Sie diese Begriffe? Und könnten Sie die vielleicht mal aus dem einen in das andere Deutsch übersetzen?
CINDARK: Das sind ja Begriffe aus der Jugendsprache. Und da ich jetzt auch nicht mehr der Jüngste bin, kenne ich die nicht alle.
FINCK: Welche kennen Sie denn? Talahon?
CINDARK: Ja, das ist so der Ausdruck für einen gewissen Kleidungs- und Haltungsstil.
FINCK: Schere?
CINDARK Kenn ich nicht.
FINCK: Das habe ich nachgeguckt. Ich oute mich jetzt auch als nicht mehr Jugendliche. Schere ist ein Begriff aus der Gaming World. Und das ist so eine Art Schuldeingeständnis. Das heißt „meine Schuld“, wenn ich das benutze. – Dann, was hatten wir noch? Was auch oft benutzt wird: „Yallah“?
CINDARK: Das ist so die Aufforderung: Los, los geht's.
FINCK: Und Lan?
CINDARK Lan kenne ich auch. Weil – Ich habe auch eine Liste mir so erstellt, die ich abfragen wollte, welche Sie davon kennen. Da ist auch Lan dabei. Lan ist aus dem Türkischen, der Ausdruck für Typ, Mann, Kerl, Alter.
FINCK: Ja, jetzt fragen Sie nochmal Ihre Wörter. Ich hab‘ schon gefragt.
CINDARK: Okay. Also, es gibt ja aus früheren Zeiten türkische oder arabische Entlehnungen ins Deutsche. Da gibt es ja auch eine Menge, wie Kaffee, ist ja aus dem arabischen, türkischen. Das ist „kahve“. Zucker ist von „şeker” entlehnt. Joghurt ist türkischen Ursprungs, „yoğur”. Kiosk – hätten Sie das gewusst? Ist auch türkischer Entlehnung.
FINCK: Nein, das wusste ich nicht.
CINDARK: Im Türkischen heißt es „köşk“. Die Horde heißt auf türkisch „ordu“, das Militär. Dann – Tarif ist aus dem Türkischen, „tarifeler“. Und Kaviar auch, „havyar“. Also eine Reihe von türkischen, arabischen Entlehnungen schon in früherer Zeit, und in neuerer Zeit, klar, kennen Sie, Döner und Hamam. Weiterhin, im Duden habe ich mal nachgeschlagen, ist schon aufgenommen: „Börek“. Kennen Sie?
FINCK: Ja, Börek ist so eine Art Blätterteig.
CINDARK: Ayran und Köfte?
FINCK: Ja, Köfte ist klar, und ich hab‘ gefunden, jetzt sind wir wieder bei der Jugendsprache, dass das nicht nur den Schaschlik-Spieß meint, sondern auch etwas im übertragenen Sinne, wussten Sie das?
CINDARK: Ne, das wusste ich zum Beispiel nicht.
FINCK: Köfte-Spieß – angeblich soll das ein Rapper gesagt haben, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde: Oh, jetzt gönne ich mir erstmal einen Köfte-Spieß, und seither benutzen das viele Jugendliche, wenn Sie ausdrücken wollen, dass Sie gerne eine sehr schlichte, aber doch große Freude im Alltag sich gönnen wollen, dann, so: Jetzt mal einen Köfte-Spieß.
CINDARK: Okay, ja.
FINCK: Menschen, die nach Deutschland einwandern, müssen eine gewisse Zeit lang hier leben und dann bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um als Deutsche zu gelten, um eingebürgert zu werden auch. Wie ist das denn bei Sprache? Diese Wörter, die wir jetzt genannt haben, „yallah“, „Lan“, „sheesh“ ist auch so etwas, das habe ich gefunden, von „jeez“, aus dem Englischen, so ein Ausruf des Erstaunens. Sind das schon deutsche Wörter? Oder sind das noch fremde Wörter?
CINDARK: Da müssen wir vielleicht trennen zwischen englischen Einflüssen und türkisch-arabischen Einflüssen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Englische durchgesetzt als die Weltsprache, als die Sprache der Globalisierung, natürlich auch als Jugendsprache. Schon in 70ern, 80ern hat es sich angefangen, in der Jugendsprache fest zu etablieren, und jetzt mit Internet und neuen Kommunikationsmöglichkeiten ist das noch mal viel stärker geworden. Das ist das eine. Und das andere sind natürlich die Einflüsse der Migrantensprachen. Das heißt, türkisch und arabisch haben wir hier erst seit den 1960er Jahren, seit der Arbeitsmigration, die Anwerbung der sogenannten Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen. Da muss man sagen, in den ersten zwei, drei Jahrzehnten, bis weit in die 90er, blieben diese Sprachen weg vom Deutschen. Das heißt, die Sprachen haben die Migranten in der Familie unter sich gesprochen, und erst in den 90er Jahren, als die zweite, dritte Generation der MigrantInnen hier aufwuchsen und erwachsen wurden, und über die Jugendsprache, haben sie dann auch Zugang ins Deutsche gefunden. Das heißt, erst als die jugendlichen MigrantInnen in ihrer Jugendsprache im Deutschen dann anfingen einzelne türkische, arabische Ausdrücke ganz selbstverständlich zu verwenden, wurde das dann auch von deutschen Jugendlichen aufgenommen. Da gibt es Belege bereits Anfang der 2000er, eine Arbeit von Înci Dirim und Peter Auer zum Beispiel, „Türkisch sprechen nicht nur die Türken“, da haben sie in Hamburg untersucht eine Reihe von deutschstämmigen Jugendlichen, die sehr viele türkische Wörter im Alltag gebraucht haben.
FINCK: Und ab wann gilt ein Wort, ein Begriff als deutsch? Ist der Duden sozusagen der Ritterschlag? Also wenn „Döner“ im Duden steht, dann ist es ein deutsches Wort?
CINDARK: Da gibt es keine klaren Linien oder Bestimmungen, wie jetzt bei der Staatsbürgerschaft. Da hat man den Pass, das gibt es bei der Sprache nicht. Der Duden, klar, ist eine Referenz, ich würde mal vermuten, dass sie abwägen, welchen Bekanntheitsgrad ein Ausdruck gewonnen hat. Also zum Beispiel, wenn es noch nur in der Jugendsprache ist, dann eher vorsichtig damit umzugehen, noch nicht in den Duden aufzunehmen. Aber zum Beispiel solche Sachen wie Döner, essen nicht nur die Jugendlichen, oder Hamam, gehen nicht nur ein paar Leute hin. Das sind dann die Wörter, die dann aufgenommen werden vom Duden, und dann gelten die auch als deutsch, wenn man so will.
Musikakzent
FINCK: Sprachwandel durch Migration ist ja kein neues Phänomen. Migration hat die deutsche Sprache schon immer und auch immer wieder verändert. Von französischen Lehnwörtern durch die Hugenotten über Anglizismen bis hin zu jetzt heutigen neuen, urbanen Varianten wie das Kiezdeutsch zum Beispiel. Also nicht nur die Menschen, auch die Sprache ist immer in Bewegung. Und darüber, wie Migration Sprache prägt und geprägt hat, wollen wir in der heutigen historycast-Folge sprechen. Aber zunächst möchte ich meinen Gesprächspartner vorstellen. Ibrahim Cindark ist Soziolinguist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Er forscht zu Themen rund um Mehrsprachigkeit, interkulturelle Kommunikation und die sprachliche Integration von Migranten und Migrantinnen in Deutschland. Herzlich willkommen, Herr Cindark.
CINDARK: Hallo, Frau Finck.
FINCK: Sprache ist kein starres System, sondern entwickelt sich ständig weiter. Das hat schon 1530 Martin Luther gesagt, nämlich: „Die Sprach‘ will sich ändern.“ Zitat Luther. Luther war es auch, der die deutsche Sprache überhaupt aufgewertet hat, nicht zuletzt durch seine Übersetzung der Bibel ins Deutsche. Er hat regelrecht gewettert gegen das Lateinische, in seinen Augen die Sprachen der Papisten, der verhassten Katholiken. Und auch bei Hofe war das Deutsche lange Zeit regelrecht verpönt. Man hat vorwiegend Französisch gesprochen. Es gibt einen Aphorismus, der Karl V. zugeschrieben wird. Ob er stimmt, wissen wir nicht. Er ist aber sehr schön, er lautet: „Ich rede Spanisch mit dem lieben Gott, Französisch mit Männern.“ – Französisch, also die ernsthafte Sprache. – „Italienisch mit Frauen und Deutsch nur mit meinem Pferd.“ Ab wann, Herr Cindark, und wodurch wurde denn eigentlich Deutsch dann hoffähig?
CINDARK: Ja, wie Sie schon gesagt haben, das Französische hat lange, lange, über mehrere Jahrhunderte, sehr, sehr großen Einfluss auf das Deutsche gehabt, als die Sprache der Höfe, des Adels, Prestigesprache, Bildungssprache. Und dann auch im 19. Jahrhundert, mit der Besatzung unter Napoleon, durch die Nachbarschaft zu Frankreich, waren die französischen Einflüsse immens. – Martin Luther ist natürlich ein wichtiger Schritt zur Standardisierung gewesen. Und in Bezug auf die Aufwertung, Etablierung, muss man sagen, dann im 19. Jahrhundert, im Zuge der Nationenbildung, als man auch eine deutsche Nation sein wollte, etablieren wollte, hat man sich besonnen, ja, dann muss man auch die deutsche Sprache etwas mehr quasi schützen, bereinigen, z.B. eben von den vielen, vielen französischen Lernwörtern, dachte man.
FINCK: Können Sie auch ein paar französische Lehnwörter nennen, so aus der frühen Zeit, aus dem 19. Jahrhundert oder sogar 18.?
CINDARK: Wie ich sagte, lange Zeit hatte das Französische einen großen Einfluss auf das Deutsche, das beginnt schon ab dem 12. Jahrhundert, in den Höfen. Das heißt, einige Beispiele, was Kultur und das höfische Leben betrifft, wie Manieren, Flöte, Lanze, Turnier…
FINCK: Flöte?
CINDARK: Genau. Flute. Flöte, Turnier, Puder, Parfüm, diese Sachen, aber auch, was die Architektur betrifft, wie Fassade oder Terrasse, sind reihenweise aus dem Französischen entlehnt worden. Und dann hat sich das dann ab dem 17. Jahrhundert intensiviert. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, 1618 bis 48, dominierte Frankreich politisch und kulturell in Europa. Da hat man dann auch als Bildungssprache das Französische genutzt. Und was nach dem Dreißigjährigen Krieg passierte, war, dass zehntausende Hugenotten aus Frankreich geflohen sind, protestantische Hugenotten, vor allem nach Berlin, aber auch in Hessen haben sie eine neue Heimat gefunden. Diese Geflüchteten waren zu großen Teilen Kaufleute, Handwerker und Gelehrte, die dann sehr schnell Fuß fassten auf deutschem Gebiet und dann auch in besonderem Maße den Fachwortschatz in Handwerk, Gewerbe und auch das Alltagsvokabular prägten. Aus dieser Zeit stammen Ausdrücke wie Boutique, Bluse, Kostüm, Krawatte, Kneipier, Friseur, Manchette, Pastete, Kotelett, Ragout, Buletten usw. Es gibt da sehr, sehr viele französische Lehnwörter, die aus dieser Zeit stammen.
FINCK: Das ist Alltagssprache, Handwerk, Architektur haben sie schon genannt. Aber man findet es interessanterweise auch in der Literatur. Wenn man zum Beispiel Goethe-Romane liest oder Fontane. Ist mir auch immer aufgefallen. Bei Fontane, die sitzen im Märkischen und unterhalten sich, die alten Männer, und in jeder dritten Zeile findet sich ein französisches oder auch ein englisches Wort. Das ist wirklich erstaunlich.
CINDARK: Insbesondere die französischen Wörter waren sehr wichtig als Ausdruck der Bildungssprache, die zu der Zeit vorhanden war.
FINCK: Also auch eine Frage von Hochsprache und Alltagskommunikation.
CINDARK: Genau. Einen krasseren Fall zwischen der Sprache der Oberschicht und der Alltagssprache haben wir z.B. in England gehabt, als die Normanen im 11. Jahrhundert die britischen Inseln eroberten, die waren ja aus Frankreich, die Normannen. Danach, knapp 300, 400 Jahre lang, hat die Oberschicht französisch gesprochen. Und das Volk irgendeine Form von Englisch. Und im Zuge dieser Jahrhunderte hat sich das dann auch immer mehr vermischt. Aber am Anfang war das lange Zeit so, dass die Oberschicht eine andere Sprache sprach als das Volk.
FINCK: Nicht nur bei uns, auch in England.
CINDARK: Auch in England, auch im Osmanischen Reich z.B., als das Osmanische Reich im 14. Jahrhundert gegründet wurde. Die Turkvölker stammen ja ursprünglich aus der Gegend der Mongolei, sind dann Richtung Europa gewandert und hatten keine so großen Kulturen hervorgebracht, waren eher so Reiter- und Steppenvölker. Und als dann das Osmanische Reich immer größer und größer wurde, hat man viele Entlehnungen aus dem Arabischen und Persischen gerne aufgenommen, weil das eben die Kulturvölker waren. Und am Ende, im 19. Jahrhundert, war das dann so, dass die Osmanischen Eliten nur noch zu einem Drittel türkisch gesprochen haben. Die zwei anderen Drittel waren persisch und arabisch. Das heißt, wenn ein Osmanischer Heeresführer mit seinen Leuten reden wollte, dann haben sie sich nicht unbedingt gleich verstanden.
FINCK: Sie haben im Vorgespräch mir erklärt, dass Kurdisch und Deutsch näher beieinander liegen, als Kurdisch und Türkisch. Warum?
CINDARK: Das Deutsche ist ja eine indo-europäische Sprache, gehört zur indo-europäischen Sprachfamilie. Die Indo-Europäer stammen ursprünglich aus Südrussland, Ukraine, aus dem Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres, und sind dann über verschiedene Wellen nach Europa gewandert. Und im Zuge dessen haben sich dann verschiedene Sprach- und Völkerzweige entwickelt. Also die Romanischen Sprachen, Germanischen Sprache und so weiter und so fort. Während ein Teil eben Richtung Europa wanderte, von den Indo-Europäern, ist der andere Teil Richtung Osten gewandert, Richtung Iran und Indien. Deswegen indo-europäisch, das heißt, auch indisch ist eben verwandt mit dem Deutschen. Und persisch ist mit dem Deutschen darüber verwandt, und kurdisch eben auch, weil es auch eine indo-europäische Sprache ist. Von der Struktur her ist kurdisch viel enger verwandt mit dem Deutschen als mit dem Türkischen.
Musikakzent
FINCK: Im 19. Jahrhundert, kommen wir dahin mal wieder zurück, gab es auch Gegenbewegungen, vor allem gegen diese französischen Lehenwörter. Es wurde etwa der Allgemeine Deutsche Sprachverein gegründet. Was wollte der?
CINDARK: Ja, im Zuge der Nationenbildung im 19. Jahrhundert, wo man der Meinung war, dass zu viele französische Entlehnungen im Deutschen existierten, hat es dann der Allgemeine Deutsche Sprachverein als seine Aufgabe verstanden, Neuschöpfungen, deutsche Wörter zu kreieren, und dadurch französische Entlehnungen zu ersetzen. Das war so die Aufgabe des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins.
FINCK: Haben Sie da mal ein paar Beispiele?
CINDARK: Die waren sehr fleißig, und einige, nicht wenige Fälle waren dann auch erfolgreich. Ein Beispiel ist Landstraße, war eine Neuschöpfung vom Deutschen Sprachverein. Vorher hatte man das französische Wort Chaussee verwendet. Ein anderes Beispiel ist Bahnsteig, haben die auch neu kreiert. Vorher hatte man das Französische Wort Perron verwendete. Andere Beispiele waren aber nicht so erfolgreich, und das ist dann auch ganz witzig, wenn man sich mal die Liste so anschaut, was der Allgemeine Deutsche Sprachverein damals vorgeschlagen hat und was aber dann doch nicht so verwendet wurde. Zum Beispiel haben die vorgeschlagen, nicht mehr Mikroskop zu verwenden, sondern Nahrohr.
FINCK: Ein was?
CINDARK: Ein Nahrohr. Nah-Rohr. Das war so der Vorschlag vom Allgemeinen Deutsche Sprachverein für ein Mikroskop. Oder ein anderes Beispiel ist, nicht mehr Garage zu sagen, das französische Wort, sondern Kraftwagenschuppen. Also das können wir ja noch verstehen, oder wenn wir das so gehört hätten, hätten wir uns das vorstellen können, dass es eventuell für Garage steht. Aber es gibt auch solche skurrilen Beispiele wie Nahrohr für Mikroskop. Was dann die Sprachgemeinschaft doch lieber sich entschieden hat, bei den französischen Entlehnungen zu bleiben und nicht die Neuschöpfung zu verwenden.
FINCK: Es gibt heute den Verein Deutsche Sprache. Der wurde, habe ich nachgeguckt, 1997 in Dortmund gegründet, und der richtet sich ähnlich wie im 19. Jahrhundert der Allgemeine Deutsche Sprachverein gegen das „Undeutsche“, in Anführungsstrichen, in der deutschen Sprache, heute ist es vor allem der Widerstand gegen Anglizismen. Was macht dieser Verein?
CINDARK: Soweit ich weiß, seit Anfang der 2000er jetzt mittlerweile, bringen die jedes Jahr so einen Anglizismus-Index raus.
FINCK: Verbotene Wörter sozusagen.
CINDARK: Genau, so einen Index von Anglizismen, wo sie, wie eben im 19. Jahrhundert der Allgemeine Deutsche Sprachverein, Vorschläge machen. Deutsche Wörter vorschlagen, die man statt den englischen Wörtern verwenden sollte. Ich glaube weniger als früher.
FINCK: Hat das Erfolg?
CINDARK: Ich glaube weniger als früher.
FINCK: Ist das Ausdruck von Kulturpessimismus? Oder ist das vielleicht sogar sinnvoll?
CINDARK: Ich denke, in manchen Fällen ist das sinnvoll. Mir geht es zum Beispiel manchmal so, wenn ich Stellenanzeigen anschaue, gerade in der freien Wirtschaft, wo viele, viele Ausdrücke, Berufsbezeichnungen, mittlerweile englische Bezeichnungen sind, wo ich dann nicht auf Anhieb weiß, was das denn jetzt für ein Beruf sein soll. In der Jugendsprache wird man das nicht verhindern können. Die Jugend wird immer so reden, wie sie geredet hat. Das heißt neue und coolere Sachen aufnehmen.
Musikakzent
FINCK: Wir haben gerade über die Anglizismen heute gesprochen und auch viel über die heutige Jugendsprache. In der Nachkriegszeit hat sich das Gastarbeiterdeutsch entwickelt mit den sogenannten Gastarbeitern. Welche typischen Merkmale hat denn das Gastarbeiterdeutsch?
CINDARK: Das Gastarbeiterdeutsch der ersten Generation zeichnete sich durch Merkmale aus wie Ausfall von Artikel, Ausfall aus Präpositionen.
FINCK: Was wir auch heute aus der Kiezsprache kennen: Ich gehe Schule, oder ich bin Schule.
CINDARK: Das ist jetzt ein ganz interessanter Punkt, den Sie ansprechen. Ja. Also oberfältig betrachtet, ja. Wobei es da einen sehr, sehr wichtigen Unterschied gibt. Der Unterschied in Kürze ist, im Kiezdeutschen, also im Multi-Ethnolekt von den Jugendlichen, gibt es Variation. Das heißt, es gibt Fälle, wo Präpositionen und Artikel weggelassen werden. Aber sie verfügen genauso im Repertoire auch über die Möglichkeit, Präpositionen und Artikel zu verwenden. Das heißt, wenn man die Kommunikation von Migranten und Jugendlichen aufnimmt und untersucht, was auch jetzt gemacht wird seit geraumer Zeit, dann sieht man, dass circa 10% der Präpositionen weggelassen werden, aber in 90% die Präpositionen vorhanden sind. Auch in Bezug auf die Artikel, da ist es, glaube ich, noch geringer. Das ist sehr interessant, weil – bei der Gastarbeitergeneration war das eben nicht der Fall. Die GastarbeiterInnen, die haben in der Regel Artikel weggelassen, in der Regel Präpositionen weggelassen.
FINCK: Vor allem in der ersten Generation oder auch in der zweiten?
CINDARK: Vor allem in der ersten Generation. Die zweite Generation, wozu übrigens auch ich gehöre – ich bin mit neun Jahren nach Deutschland gekommen. Mein Vater und meine Mutter waren GastarbeiterInnen in Deutschland – die zweite Generation hatte dann Deutsch als quasi zweite Muttersprache erworben. Das bezieht sich vor allem auf die erste Generation, die durch Übergeneralisierung von Infinitiven, keine Flexion, Übergeneralisierung von einigen Verben, wie „machen“, und eben, wie gesagt, Ausfall von Präpositionen, Artikeln, sich kennzeichnete.
FINCK: Können Sie erkennen, wenn jemand aus der ersten, zweiten oder dritten Gastarbeitergeneration Deutsch spricht, können Sie sofort sagen, aha, der ist dann und dann gekommen?
CINDARK: Ja, ich kann das erkennen. Ich denke, viele andere können das auch erkennen. Da muss man kein Linguist sein. An der Aussprache, an der Lautung erkennt man das sehr häufig. Und natürlich eben auch, wie ich sagte, an der Variation der Phänomene. Das heißt, die jungen Migrantengenerationen verfügen über die Möglichkeit, beides zu sprechen. Kiezdeutsch, wie Heike Wiese, Professorin aus Berlin, Humboldt-Universität, diesen Multi-Ethnolekt nennt, zeichnet sich dadurch aus, dass es vor allem ein In-Group-Kommunikationscode ist. Das heißt, wenn die Jugendlichen untereinander reden, dann ist es der präferierte Sprechstil. Aber sie können daneben auch Formen, also viele, die meisten, Formen von Standarddeutsch.
FINCK: Also sie betreiben dieses, ich glaube, der Fachbegriff ist: Code-Switching. Die können also hin und her switchen.
CINDARK: Genau. Ja.
FINCK: Nochmal zu dem Gastarbeiterdeutsch. Gibt es denn Strukturen oder auch Wörter, die sich durch die Generationen erhalten haben?
CINDARK: Gastarbeiterdeutsch ist eine Lernersprache. Die Gastarbeiter haben ja, was man vielleicht heutzutage auch nicht mehr so weiß, als sie kamen, keine Deutschkurse bekommen. Die Integrationskurse, die Sprachkurse haben wir erst seit 2005. Aber die ersten Gastarbeiter wurden ja schon in den 60er Jahren angeworben. Das heißt, über vier Jahrzehnte sind die Menschen hier angeworben worden, kamen nach Deutschland und haben Deutsch im Alltag gelernt, bei der Arbeit gelernt, ohne irgendwelche Sprachkurse. Deswegen ist das so eine fossilisierte, auf gewisse Funktionen hin ausgerichtete Lernersprache geblieben, die dann mit der Generation selbst quasi verschwindet. Und fast keine Einflüsse auf die Sprache der zweiten, dritten Generation hat, die hier aufwächst und Deutsch als zweite Muttersprache quasi erwirbt.
FINCK: Was ist denn Kanak Sprak?
CINDARK: Oh, Kanak Sprak!
FINCK: Oh, ich hab's falsch ausgesprochen, Entschuldigung. Kurzes A. Kanak-Sprak.
CINDARK: Es gibt kein Falsch. Sie sprechen es so aus, wie Sie denken, dass man es ausspricht. Kanak Sprak – Ende der 90er, Anfang der 2000er, als die zweite, dritte Generation sich immer mehr hier bemerkbar machte und man aufmerksam wurde auf deren Sprechstil, hat Feridun Zaimoglu, ein Literat damals, ein Buch herausgegeben mit Interviews, die er stilisiert, überarbeitet hat und das Buch dann eben Kanak Sprak genannt hat. Und das hat sich dann damals eingebürgert, zum Glück nicht für lange Jahre, aber für die Anfangszeit, dass man die Sprache der jungen MigrantInnen als Kanak Sprak bezeichnet hat.
FINCK: Warum sagen Sie „zum Glück“?
CINDARK: Ja, Kanake ist ja ein rassistischer Begriff. Es gab zwar oder gibt immer noch bei den Jugendlichen, Migrantenjugendlichen, den Versuch, das umzudeuten, das als positive Selbstbezeichnung untereinander zu verwenden. Das bedeutet aber nicht, dass eine Kommunikation in Mehrheitsangehörigen das Wort seine rassistische Konnotation verloren hätte. Genauso wie zum Beispiel bei den Schwarzen in den USA. Da ist es mittlerweile auch normal, dass die sich untereinander als „Nigger“ ansprechen, aber das darf natürlich ein Weißer nicht ohne Weiteres so dann tun.
FINCK: Würden Sie sagen, Kanak Sprak ist so zwischen, jetzt chronologisch, zwischen Gastarbeiterdeutsch und dem Kiezdeutsch in den Metropolen heute?
CINDARK: Ne, ne, also mit der sogenannten Kanak Sprak hat man genau das in der ersten Zeit benannt, was später Heike Wiese als Kiezdeutsch benannt hat. Das ist die gleiche Sprachform, der gleiche Sprechstil. Und zwar der Sprechstil der zweiten, dritten Generation von Migrantenjugendlichen, der eben in Deutschland kreiert wurde.
FINCK: Heike Wiese geht ja so weit, dass sie sagt, das ist nicht nur eine Variation, sondern sie sagt, das ist inzwischen ein eigenständiger deutscher Dialekt. Sehen Sie das auch so?
CINDARK: Dialekt würde ich nicht sagen. Dialekt als Begriff, als Konzept in der Linguistik – im amerikanischen, angelsächsischen Raum, da ist es gebräuchlich, dass man dialect, auch social dialect verwendet. Da ist das kein Problem, aber im kontinentaleuropäischen Raum, Kontext, und auch in den Linguistiken, hat sich das eher für so areale Varietäten etabliert. Von daher ist das in Deutschland eher irreführend, wenn man zum Kiezdeutschen Dialekt sagt. Es ist in vielen, vielen Städten, ich würde sagen in allen Städten mit Migrantenanteilen unter Jugendlichen etabliert und nicht auf gewisse Areale oder Regionen beschränkt. Deswegen ist das eher ein Soziolekt, wobei man da auch vorsichtig sein muss. Ich würde eher noch von einem Sprechstil sprechen, der noch nicht so ganz sich fest etabliert hat.
Musikakzent
FINCK: Wir haben bisher, Herr Cindark, vor allem über den Sprachwandel durch Migration gesprochen, mit dem Blick aus der Mehrheitsgesellschaft raus. Also wie sprechen die, wie sprechen die anderen? – Wie sehen sich Migranten und Migrantinnen selber? Wie beurteilen sie dieses Code-Switching zum Beispiel, das Hin- und Herwandern zwischen den Sprachen? Und wie reagieren sie auf die Kritik, die ihnen ja auch immer wieder begegnet, daran, dass sie falsches Deutsch sprechen?
CINDARK: Sie, also die Migrantenjugendlichen, haben ein Wissen darüber, wie das Kiezdeutsche gesehen wird von der deutschen Mehrheitsbevölkerung, bewertet wird, eben negativ. Deswegen ist das untereinander, als Ingroup-Sprache total problemlos, wird verwendet. Aber sie wissen schon dann genau, mit wem sie das möglichst nicht tun sollten, also nicht reden sollten. Wenn man das Repertoire der MigrantInnen untersucht, sieht man, die Repertoires sind sehr reichhaltig. Die Herkunftssprachen sind vorhanden, in Standardform, in Dialekten. Das Switchen zwischen diesen Dialekten und Standardformen und zwischen verschiedenen Sprachen, wie das Deutsche, Türkische, Kurdische, wird sehr oft betrieben bis hin zum Mixing. Das heißt, da gibt es dann auch so kombinierte Strukturen für die Entlehnungen. Zum Beispiel aus dem Deutschen, wenn die dann mal türkisch reden, dann wimmelt es da auch an deutschen Wörtern, Nomen, Verben, die einfach dann in das Türkische integriert werden. Das sind alles aus der Binnen-, Eigenperspektive sehr positive, normale Sprechformen für die MigrantInnen. Aber sie wissen sehr wohl, dass das Kiezdeutsche zum Beispiel aus der deutschen Mehrheitsbevölkerung eher negativ bewertet wird.
FINCK: Was sagen Sie Menschen, die argumentieren, das ist doch kein Deutsch, das ist falsch, das leitet den Niedergang der deutschen Sprache ein, und hoffentlich verschwindet das bald wieder. Wie begegnen Sie dem?
CINDARK: Die Beschwerden über die Jugendsprache ist ja so alt wie die Sprache selbst.
FINCK: Auch unabhängig von Migration, ja.
CINDARK: Ich habe irgendwann mal gelesen, dass sogar bei Aristoteles zu finden ist, sich über die Jugendsprache zu beschweren. Und seitdem hat das, denke ich, nicht aufgehört, dass das immer ein Zeichen für Verfall sei. Wir sehen, bezogen auf das Deutsche und auf die Einflüsse der letzten Jahrhunderte der verschiedenen Sprachen, dass das Deutsche nach wie vor sehr vital ist. Es ist sogar ein Kennzeichen von vitalen, lebendigen Sprachen, Elemente aufzunehmen und für verschiedene Register, situative Sprachverwendungen zum Beispiel zu nutzen. Also das ist eher ein Zeichen für Lebendigkeit einer Sprache, als ein Zeichen für Verfall.
FINCK: Wie sehr spielt denn, darüber haben wir noch gar nicht geredet, wie sehr spielt denn auch Klassismus eine Rolle? Also diese Opposition von einer Hochsprache, die eine Bildungssprache ist, und dann einer niederen Sprache der Ungebildeten, der armen Menschen, der „Gossenjargon“?
CINDARK: Klassismus spielt eine sehr große Rolle. Wenn man auch jetzt im Schulkontext betrachtet, wo häufig in Bezug auf türkische oder andere MigrantInnengruppen gesagt wird, ja, sprechen Sie doch zu Hause auch mit den Kindern Deutsch und nicht die Herkunftssprachen. Auf die Idee würde man bei einer englisch-deutschen Familie nie kommen. Man würde nie einer englisch-deutschen Mixfamilie sagen, sprechen Sie zu Hause kein Englisch, sondern Deutsch. Oder eine Beobachtung von mir war, als meine Tochter noch klein war, hatte sie einen Schulkameraden, der einen US-amerikanischen Hintergrund hatte, und der hieß natürlich Michael. Also geschrieben wurde ja Michael, aber wir wissen alle, dass es Michael ausgesprochen wird, und der wurde auch Michael genannt. Aber in Bezug auf die türkischen Namen hat man sich diese Mühe nicht immer gegeben. Irgendwann dachte ich, ich höre sowas wie Vati, also die Koseform von Vater, und erst später kam ich darauf, dass das der türkische Name Fatih ist, der damit irgendwie gemeint ist. Was ich damit sagen will, ist, auf jeden Fall spielt Klassismus in Bezug auf die Bewertung, Beurteilung der verschiedenen Sprachen eine sehr große Rolle. Und das sieht man auch in Studien, die zur Beliebtheit der verschiedenen Sprachen durchgeführt werden. Das Türkische und Arabische landen relativ weit unten, im Gegensatz zu anderen Sprachen wie Englisch und Französisch.
FINCK: Was halten Sie denn davon, wenn gefordert wird, dass auf Schulhöfen, auf „deutschen“, in Anführungsstrichen, Schulhöfen möglichst nur noch deutsch gesprochen werden soll?
CINDARK: Man kann es verstehen, damit die Lehrer und Lehrerinnen auch alles mitkriegen, was die Schüler untereinander sprechen, ob sie sich beschimpfen und so weiter. Aber es ist auf jeden Fall aus sprachlicher Perspektive in keinster Weise sinnvoll. Das geht eher in die falsche Richtung. Das geht in Richtung sowas wie Sprachverbot. Das heißt, die Schulen, Kindergärten sind dafür da, und wenn der Input auch dann da ist, dann lernen die Kinder dort auch genug Deutsch, ausreichend Deutsch. Und man sollte nicht sie zwingen untereinander, wenn sie in den Pausen reden, Deutsch zu reden.
FINCK: Es ist ja auch eine falsche Vorstellung, die dahintersteckt, dass es das Deutsche gibt, und man könne das klar trennen, vom Türkischen oder vom Arabischen. Sie haben ja mehrfach schon wunderbar jetzt geschildert, wie sehr sich die einzelnen Soziolekte, Dialekte, Sprachen mischen, und man kann das gar nicht mehr trennen. Also, wenn jetzt ein Jugendlicher auf dem Schulhof sagt, komm her, Lan, statt komm her, Alter, oder komm her, Kumpel, da ist ja beides enthalten. Was soll man damit machen? Darf er das nicht? Muss er sagen, komm her, Mensch, Junge?
CINDARK: Da haben wir auch eine ganz interessante, witzige Beobachtung mal gemacht, als wir im Unterricht waren. Fünfte Klasse war das, glaube ich, wo ein Mädchen dann den Finger hob und die Lehrerin fragte, kann ich mal Toilette? Und die Lehrerin dann antwortete, wie heißt das nochmal? Und erst dann nach der Aufforderung kam dann die Frage, kann ich bitte auf die Toilette? Mit Präposition und Artikel. Das sind dann Kontexte, wo Kinder darauf aufmerksam gemacht werden können, auch die Standardformen in gewissen Situationen, in so einem Schulkontext, zu verwenden, aber wenn die untereinander reden, auf Präposition und Artikel verzichten, weil das ja auch geht. Heike Wiese hat das gezeigt, dass diese Form der Auslassung von Präposition und Artikel wunderbar funktioniert, und auch im Deutschen als marginale Regel existiert. Sie hat gezeigt, dass zum Beispiel in Bezug auf Haltestellen im gesprochenen Standarddeutschen es ganz normal ist, dass wir zum Beispiel sagen, ich gehe Paradeplatz, oder ich steige Marktplatz um und nicht am Marktplatz, wenn man Haltestellen meint. Und das tun ganz normale Deutsche, auch Erwachsene, die Auslassung von Präpositionen. Was die Kiezdeutschsprecher, die MigrantInnen, hier gemacht haben, ist einfach diese marginale Regel zu nehmen und zu generalisieren. Das heißt auch in anderen Kontexten das dann zu tun. Und inhaltlich, semantisch, funktioniert das ja. Das ist ja der Punkt. Wenn sie sagen, ich gehe Schule, dann verstehen wir ja, was gemeint ist. Das heißt, wenn diese marginale Regel, die im gesprochenen Deutschen existiert, sie nehmen und generalisieren, ist das eine Entwicklung des Deutschen. Also eine Form, wie man im gesprochenen Deutschland sich unterhalten kann, dass man in manchen Präpositionalphrasen Präpositionen, Artikel weglassen kann. Michael Klein, einer der größten Soziolinguisten – er war der Erste, der das Gastarbeiterdeutsch 1968 in einem Aufsatz untersucht hat – und an einer Stelle schreibt er in Bezug auf die Auslassung der Präpositionen, wofür braucht man eigentlich die Präpositionen? Sind die so wichtig?
FINCK: Herr Cindark, Wir haben vor allem jetzt über die gesprochene Sprache gesprochen. Gibt es denn auch Beobachtungen, wie Sprache sich verändert durch Migration – als Schriftsprache?
CINDARK: Ja, sehr, sehr spannend, gibt es. Sehr spannend finde ich den Fall der kananäischen Wanderarbeiter. Aus dem Gebiet des heutigen Syrien, Libyen, Israel, Palästina stammten die. Und zwar haben die 1500 vor Christus in Ägypten als Wanderarbeiter gearbeitet und sind so eben dann in Kontakt mit den Hieroglyphen gekommen. Die Hieroglyphen zu lesen, war sehr schwierig für sie, weil die Hieroglyphen sehr komplex sind und aus bis zu 1000 Bildzeichen, Lautzeichen bestehen. Also kamen diese Migranten auf die geniale Idee, diese Bildinhalte zu ignorieren und die Zeichen dann für einzelne Laute umzudeuten. Also ein Beispiel, das Zeichen der Ägypter für den Ochsten war so ein stilisierter Kopf mit zwei Hörnern. Das war der Ochse, ein Hieroglyph bei den Ägyptern. Auf kananäisch lautete der Ausdruck für Ochse Alp, also das Wort Alp beginnend mit dem Anfangslaut A. Also legten die Wanderarbeiter dann fest, dass das Zeichen für den Ochsten den Lautwert A haben soll. Das heißt, sie haben unser heutiges Alphabet quasi erfunden. Und das waren kananäische Wanderarbeiter.
FINCK: Sehen wir denn heute einen Unterschied in der Schriftsprache zwischen migrantischen Jugendlichen im Kiez und nicht-migrantischen, deutschen Jugendlichen? Oder sind diese Unterschiede in der Schriftsprache, sagen wir mal, im Schulaufsatz, vollkommen aufgehoben?
CINDARK: Es ist, glaube ich, weniger ein Aspekt, ob jemand Migrant oder nicht Migrant ist, sondern eher, ob jemand mit Bildungssprache in Kontakt kommt oder nicht in Kontakt kommt. Das heißt, als Soziolekt-Sprecher sind es, denke ich, in gewissen Stadtteilen auch Deutschstämmige, die eher bildungsfern sind, die sich schwer tun mit der Schriftsprache.
FINCK: Ganz herzlichen Dank, Herr Cindark, für das Gespräch heute.
CINDARK: Ja, gerne.
Musik
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 11: Guckst du Duden! Migration und Sprachwandel
Almut Finck im Gespräch mit Ibrahim Cindark
Eine Kooperation mit der Stiftung Orte der Deutschen Demokratiegeschichte
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