Willkommen in Weimar? Migration in der ersten deutschen Demokratie
Shownotes
Die „Völkerwanderung“ nach Ende des Ersten Weltkriegs – Waren die Menschen willkommen in der ersten deutschen Demokratie? Heimkehrende Soldaten und Umsiedlerinnen aus den abgetretenen Reichsgebieten – notgedrungen, sagt der Migrationsforscher Jochen Oltmer. Weil sie Deutsche oder so genannte „Deutschstämmige“ waren. Russische Revolutions- und Bürgerkriegsflüchtlinge sowie Juden aus Osteuropa – eher nicht. Saisonale Arbeitsmigrantinnen wurden geduldet, eine Chance auf den deutschen Pass hatten sie nicht. Almut Finck spricht mit Jochen Oltmer über Migration in der jungen Weimarer Republik, über Lager, die sich gar nicht so sehr von denen für Geflüchtete heute unterschieden, über ausländerfeindliche Denkmuster, die im gesellschaftlichen Alltag und in der Politik noch immer, oder wieder, zirkulieren.
Jochen Oltmer ist Historiker und Migrationsexperte. Er lehrt und forscht am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Er ist Chefredakteur von focus migration der Bundeszentrale für politische Bildung und er tritt regelmäßig in den Medien auf, um in aktuellen Debatten ein Verständnis für die historischen Dimensionen von Migrationsprozessen zu wecken. Sein letztes Werk zum Thema erschien mit dem Titel Migration und Politik in der Weimarer Republik.
Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.
Staffel 4, Folge 1 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.
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TEASER:
OLTMER: Die Vorstellung ist: Eine Gesellschaft wird durch einen Nationalstaat gerahmt, und sie hat homogen zu sein. Eine homogene Gesellschaft ist eine gute Gesellschaft. Sie lässt sich gut regieren und ist am ehesten geeignet, den Stürmen der jeweiligen Zeit entgegenzutreten.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 1: Willkommen in Weimar? Migration in der ersten deutschen Demokratie
Almut Finck im Gespräch mit Jochen Oltmer
FINCK: Probleme hatte die junge Weimarer Republik mehr als genug. Alles war anders. Das meiste war neu. Vieles machte Angst. Der verlorene Krieg, der entflohene Kaiser. Plötzlich war der nicht mehr der Bestimmer. Das Volk durfte und musste entscheiden. Doch auf den Straßen prügelten sich Republikfeinde von rechts und von links. Geld war knapp und war bald nichts mehr wert. Reparationen sollten die Deutschen trotzdem zahlen. Zu alledem kam noch ein gewaltiger Zustrom von Menschen. Heimkehrende Soldaten, Umsiedler aus den abgetretenen Gebieten des Reichs, Elsaß-Lothringen, Posen, Pommern, Juden aus Osteuropa, russische Revolutions- und Bürgerkriegsflüchtlinge. Herr Oltmer, welche Auswirkungen hatte diese „Völkerwanderung“, in Anführungsstrichen, auf den Alltag der Menschen in den deutschen Städten und auf dem Land?
OLTMER: Was wir ausmachen können, ist tatsächlich, dass vor allen Dingen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, also unmittelbar nach dem Waffenstillstand, nach dem November 1918, diese Bewegung einsetzen und im Wesentlichen auch allerspätestens 1923 enden. Das heißt, wir haben eine relativ kurze Phase, in der es ziemlich viel an Bewegung gibt, und das in einer Konstellation, in der nicht nur die von Ihnen schon angesprochenen Demobilmachung eine Rolle spielen, also sehr viele Soldaten zurückkehren in ihre jeweiligen Herkunftsorte, sondern in der es eben so etwas wie eine Wohnungsnot gibt. Wir haben eine Konstellation, in der über vier Jahre, die Kriegsjahre nämlich, hinweg keine Wohnungen gebaut worden sind. Und hier in diese Wohnungsnot hinein kommen Menschen, die jetzt zurückkehren, aus abgetretenen Gebieten zuwandern in das verkleinerte Reich. Das ist ein Thema der frühen Weimarer Republik. Ein zweites Thema ist das Thema Arbeit. Und da haben wir eine Konstellation, die sich sehr stark unterscheidet, insofern, als es mit der De-Mobilmachung relativ viele Arbeitskräfte wieder in der Industrie gibt, aber weiterhin relativ wenig Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Das heißt, Menschen, die darauf hoffen, in Städten unterzukommen beziehungsweise in der städtischen Industrie unterzukommen, die haben erhebliche Probleme, während diejenigen, die in die ländlichen Distrikte gehen, eher unterkommen, sowohl was Wohnungen angeht, als auch was den Arbeitsmarkt angeht. Nur, sehr viele derjenigen, die da kommen, haben gar kein großes Interesse daran, in die Landwirtschaft zu gehen, wollen in die Städte, wollen eher in die Industrie. Und das ist etwas, was durchaus sehr intensiv diskutiert wird. Auf welche Art und Weise es gelingen kann, Menschen gewissermaßen umzulenken aus den Städten in die ländlichen Distrikte. Und immer dann, wenn in solchen Konstellationen über Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit gesprochen wird, dann taucht ja sehr schnell das Stichwort Lager auf. Das heißt, prekäre Unterbringungsmöglichkeiten, die eben in Lagern geschaffen werden. Und genau das ist eine Realität, insbesondere der frühen Weimarer Republik, die Einrichtung, die Aufrechterhaltung von Lagern, die über viele Jahre hinweg dann Unterkunftsmöglichkeiten für Schutzsuchende bieten, für Menschen bieten, die in dieses verkleinerte Reich, in diese Weimarer Republik gekommen sind.
FINCK: Sie haben jetzt schon ganz viele Punkte, Konfliktfelder, Friktionen, angesprochen, auf die wir noch näher eingehen wollen. Ich möchte Sie natürlich jetzt erst mal vorstellen.
Jochen Oltmer ist Historiker und Migrationsexperte. Er lehrt und forscht am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Er ist Chefredakteur von focus migration. Das ist eine Onlinepublikation der Bundeszentrale für politische Bildung, und er tritt regelmäßig in den Medien auf, um in aktuellen Debatten ein Verständnis für die historischen Dimensionen von Migrationsprozessen zu wecken. Ich freue mich, dass Sie heute mein Gast sind, Herr Oltmer. Ich habe hier vor mir liegen: Ihr dickes Buch, fast 600 Seiten, über, das ist der Titel, Migration und Politik in der Weimarer Republik. Auf dem Cover ist ein Foto, und es zeigt, in Mäntel und dicke Decken gehüllt, Koffer und Bündel schleppend, deutschstämmige, in Anführungsstrichen „deutschstämmige“ Bauern aus der UdSSR, die Ende der 1920 er Jahre vor der sowjetischen Zwangskollektivierung nach Deutschland flohen. Was für eine Zukunft erwartete sie dort?
OLTMER: Zumindest keine Zukunft in Deutschland, weil ab 1929 die Weltwirtschaftskrise herrscht. Deutschland ist besonders stark betroffen von dieser Weltwirtschaftskrise. Und die Vorstellung damals ist, dass am liebsten alle sogenannten Deutschstämmigen in den jeweiligen Herkunftsgebieten, in diesem Fall auch der UdSSR, Sibirien, Wolgagebiet, Ukraine, bleiben. Wenn sie sich aber in Richtung auf Deutschland bewegen, dann können sie nicht aufgehalten werden, vor dem Hintergrund dieser spezifischen ethno-nationalistischen Politik, die es damals in Deutschland gibt. In dieser Situation der Weltwirtschaftskrise bemüht sich Deutschland sehr darum, dass die Menschen, die über Moskau in Richtung Deutschland transportiert werden, dann weiterziehen. Das heißt, es gibt Gespräche mit Kanada, mit Paraguay, um diese Menschen nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland, wiederum in Lagern, weiter zu transportieren, in Richtung auf Süd- beziehungsweise Nordamerika. Und das gelingt tatsächlich auch bei dem größten Teil derjenigen, die zu diesem Zeitpunkt, ab 1929, von der Sowjetunion ausgehend nach Deutschland kommen.
FINCK: Das Foto, das ich beschrieben habe, auf ihrem Buch, das zeigt Einwanderer Ende der 1920 er Jahre. Das war ja dann schon eher ein bisschen ungewöhnlich, Sie haben gerade gesagt, die Hauptphase waren vier Jahre zwischen Ende Weltkrieg und dann 1923, vielleicht 24. Da gab es dann aber in der Tat sogenannte Heimkehrer-Lager. Die haben Sie erwähnt. Für wen waren die, und wo waren die? Waren die auf dem Land?
OLTMER: Genau. Diese Heimkehr-Lager, die finden sich insbesondere an der deutschen Ostgrenze, an der preußischen Ostgrenze Richtung Polen. Und es handelt sich um Einrichtungen, die meistens vorher schon als Lager genutzt worden waren. Das waren meistens Kriegsgefangenenlager gewesen, die standen also zur Verfügung. Und diese Lager sind dann genutzt worden, um sogenannte Grenzland-Vertriebene aufzunehmen. Das heißt ungefähr eine Million Menschen, die aus den abgetretenen Gebieten des Reiches nach dem Versailler Vertrag beziehungsweise zum Teil auch schon nach dem Waffenstillstand an Alliierte Mächte beziehungsweise an Polen abgetreten worden waren. Eine Million Menschen machen sich auf, aus Elsass-Lothringen, aus Posen, aus Westpreußen, aus Oberschlesien, und versuchen sich eben im verkleinerten Reich anzusiedeln. Da das nicht funktioniert oder nicht auf Anhieb funktioniert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Wohnungsnot in der Weimarer Republik, gibt es zunächst einmal die Lager-Unterbringung. Darüber hinaus, neben diesen sogenannten Grenzlandvertriebenen, also deutschen Staatsangehörigen, sind es auch Menschen aus den deutschen Minderheiten in Osteuropa, in Südosteuropa, in Ostmitteleuropa, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben, aber sich, gewissermaßen im Kontext des Krieges, der unmittelbaren Nachkriegszeit des Bürgerkrieges in Russland, auf den Weg gen Westen machen und dann eben auch zunächst einmal in diesen Lagern aufgenommen werden. Um wie viele Menschen es sich handelt, können wir gar nicht erschließen. Das sind unterschiedliche Bewegungen aus unterschiedlichen Regionen, die eben in diesem Chaos von Übergang – Krieg zur Nachkriegszeit – sich auf den Weg machen, zum Teil auch die deutschen Truppen, die sich dann zurückziehen, begleiten. Aber das ist eine gewisse Anzahl von wahrscheinlich mehreren 10.000 Menschen, die eben auch am Ende in diesen Heimkehrlagern landen.
FINCK: Was ich interessant finde, ist, dass eine Diskussion geführt wurde um die Zustände in diesen Heimkehr- oder Heimkehrer-Lagern, die sich gar nicht so sehr unterscheidet von den Diskussionen, die wir heute haben um die Unterbringung von Asylbewerbern in Wohnheimen, wo wir auf der einen Seite Menschen haben, die die schrecklichen Zustände dort – menschenunwürdig – beklagen. Und auf der anderen Seite Politiker, die sagen, Um Gotteswillen, bloß nicht den Menschen zu viel Fürsorge angedeihen lassen, damit sie sich dort wohlfühlen. Sie kennen die relativ neuen, jetzt bei uns, Begriff „Brot und Bett“, mehr nicht. Und das finde ich spannend, dass wir das damals auch schon haben. Es gab Berichte von Gesundheitsbehörden, die sagen, das ist fürchterlich, wie die dort untergebracht sind. Ich habe mal hier ein kurzes Zitat aus Ihrem Buch: „Die Notdurft-Anstalten sind schließlich in einem miserablen Zustande. Die Bewohner mehrerer Baracken haben einen gemeinsamen Abort, dazu nicht einmal für die Geschlechter getrennt.“ Es gab alle möglichen Krankheiten, Ruhr, Typhus und so weiter. Dazu kam die schwierige Ernährungssituation. – Und andererseits gibt es Stimmen, die sagen, Zitat, „Es ist falsch, den Flüchtlingen das Leben zu bequem zu machen und ihnen eine allzu ausgedehnte Fürsorge angedeihen zu lassen.“ Man wollte sie nicht zu, wie hieß das, „Staatsrentnern“ machen. Also möglichst schnell da raus und nur das unbedingt Erforderliche. – Ist das so eine ganz gängige Art und Weise, mit dem Thema Migration umzugehen?
OLTMER: Es ist auf jeden Fall eine ganz gängige Art und Weise, mit dem Thema „Lager“ umzugehen. In der Tat könnte man fast meinen, das sei etwas überzeitliches, weil genau solche Konstellationen, wie Sie sie gerade zitiert haben, und Sie haben es ja auch deutlich gemacht, immer wieder aufkommen. Wir kennen das nicht nur aus der unmittelbaren Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs. Wir kennen das in Hinsicht auf die Frage, wie wird mit Lagerinsassinnen, -insassen nach dem Zweiten Weltkrieg umgegangen? Und wir kennen das eigentlich auch aus der gesamten Asylgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Immer dann, wenn Menschen in solche Erstaufnahmeeinrichtungen, in solche Gemeinschaftsunterkünfte kamen, dann sehen Sie sehr schnell, dass es entsprechende Äußerungen gibt. Es sind eben tatsächlich immer prekäre Unterkunftsverhältnisse. Und diese prekären Unterkunftsverhältnisse tragen vor allen Dingen dann, wenn sie über viele Jahre auch noch herrschen, dazu bei, dass sich sehr schnell auch im Umfeld, aber auch darüber hinaus, eine spezifische, sehr stark ablehnende Haltung ergibt. Und da gibt es, man könnte es fast so formulieren, so eine Art Schuldumkehr. Sie werden zwar in diese Lager gepackt und dürfen nicht arbeiten, aber ihnen wird vorgeworfen, dass sie im Lager leben und dass sie nicht arbeiten. Und genau solche Zusammenhänge haben sie eben auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs. Da spielt es auch faktisch überhaupt keine Rolle, dass diese Menschen in aller Regel deutsche Staatsangehörige sind oder eine deutsche Staatsangehörigkeit haben – es gibt ja noch keine deutsche Staatsangehörigkeit – also, meinetwegen, preußische Staatsangehörige sind. Sie werden als diejenigen klassifiziert, die als fremd, als anders gelten und – das ist eine Perspektive, die vor dem Hintergrund von diversen großen Polizeieinsätzen in diesen Lagern auch auszumachen ist – sie werden eben auch als Gefahr, ganz explizit als Gefahr und Bedrohung verstanden.
FINCK: Kommt einem alles bekannt vor.
OLTMER: In der Tat.
Musikakzent
FINCK: Die Menschen, die Bauern auf dem Cover Ihres Buches, waren, noch mal wieder in Anführungsstrichen, „deutschstämmig“. Was hieß das denn in der Weimarer Republik? Wer war da Deutscher oder Deutsche?
OLTMER: Zunächst einmal gibt es das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913, das sagt, dass diejenigen, die eine der Staatsangehörigkeiten der verschiedenen Staaten des Deutschen Reiches haben, von Preußen über Bayern, über Württemberg bis hin zu Oldenburg, dass diese Menschen Deutsche sind. Und in diesem Zusammenhang gibt es seit vielen Jahrzehnten zu diesem Zeitpunkt schon intensive Debatten darüber, in welchem Verhältnis Deutschland zu Deutschen, als deutsch verstandene Minderheiten, in weiten Teilen des östlichen Europas steht.
FINCK: Wenn ich da noch mal dazwischenfragen darf, weil ich das nicht ganz verstanden habe. Wie kann ich denn als ein Deutschstämmiger, ich bleib jetzt mal bei den Männern und Frauen und Kindern auf ihrem Buchcover, wie kann ich denn da Deutscher sein, oder, Sie sagen eben Preuße oder Hesse, wenn ich in der Sowjetunion lebe?
OLTMER: Wie gesagt, diese Menschen, die beispielsweise in der UdSSR leben, die haben nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Aber vor dem Hintergrund der Vorstellung, diese Menschen seien vor zum Teil vielen Jahrhunderten, im Zweifelsfall im Hohem Mittelalter, ausgewandert aus deutschen Territorien, und vor dem Hintergrund der Annahme, sie würden Deutsch sprechen und eine sogenannte deutsche Kultur pflegen, in expliziten deutschen Minderheitengebieten leben, wird angenommen, dass es eine enge Verbindung zwischen diesen deutschen Minderheiten im Ausland und dem Deutschen Reich gäbe. Das hat tatsächlich Deutschland, die deutschen Staaten lange Zeit überhaupt nicht interessiert, dass es solche deutschen Minderheiten gibt. Aber in Zeiten des Nationalismus, des Imperialismus in der späten im späten 19. Jahrhundert, werden diese Minderheiten immer wichtiger, weil sie als politische Instrumente gelten.
FINCK: Wie kann ich mir das denn praktisch vorstellen? Diese Menschen, die dann kamen, mit ihren Koffern und ihren Bündeln, mussten die auf irgendein Amt gehen und beweisen, dass sie Deutsch sprechen? Oder mussten die irgendwie ein deutsches Weihnachtslied singen? Wie wollte man das beweisen?
OLTMER: Es gibt natürlich in diesem Zusammenhang auch sehr intensive Diskussionen, damals auch schon, später immer wieder, auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg, wer da in diesem Zusammenhang als deutschstämmig gilt. Und da spielen dann eben auch Aspekte der Herkunft eine Rolle. Wir haben es ja mit dem deutschen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 mit einer Perspektive zu tun, die über das Blut geht, also über Vorfahren, die als deutsch gelten. Und Sie finden sowohl der Zwischenkriegszeit, als auch den nach dem Zweiten Weltkrieg Diskussionen darüber, inwieweit denn Jüdinnen und Juden, die Deutsch sprechen, auch Deutschstämmige oder sogenannte Volksdeutsche seien. Und das wird regelmäßig abgelehnt. Weil sie zwar Deutsch sprechen, aber allein das Deutsch sprechen nicht ausreicht, sondern die spezifische deutsche Herkunft, die blutsmäßige Herkunft – wir leben in einem Zeitalter, in dem tatsächlich ja Menschen eingeteilt werden entlang von Rassen – eine ganz zentrale Rolle spielt bei der Frage, wem eben dieser Status als Deutschstämmige zugewiesen wird. Aber wichtig bleibt dabei, auch wenn es ein großes Interesse seit dem späten 19. Jahrhundert an diesen Deutschstämmigen gibt, an diesen Minderheiten, in der Weimarer Republik ist die Perspektive, sie sollen möglichst da bleiben, wo sie herkommen. Nicht nur, weil die Vorstellung ist, dass das Reich überlastet ist vor dem Hintergrund von permanenten Krisen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen Krisen, sondern auch, weil die Vorstellung da ist, diese Minderheiten müssten sich – auch ein Zitat – „in den Schützengräben des Nationalitätenkonfliktes“ weiterhin bewegen. Sie sollten eben einen Beitrag dazu leisten, dass das sogenannte Deutschtum im östlichen Europa weiterhin eine hohe Bedeutung hat.
FINCK: Das hatte ja auch außenpolitische Gründe und mit dem Versailler Vertrag zu tun. Man wollte natürlich, dass die dablieben, denn wenn die alle gekommen wären, hätte man ja nicht mehr sagen können, wir wollen unsere verlorenen Gebiete zurück.
OLTMER: Das gilt insbesondere für Polen. Ganz eindeutig. Wir haben es in der Weimarer Republik ja mit einer Situation zu tun, die sehr stark geprägt ist durch Spannungen zwischen Deutschland und Polen. Es ist in der Literatur von einer Art Kaltem Krieg die Rede. Es gibt alle paar Jahre dann Auseinandersetzungen nicht nur über Grenzen, sondern auch über Zölle. Die Minderheitenpolitik spielt eine ganz große Rolle. Auch im Völkerbund beharken sich gewissermaßen Deutschland und Polen permanent, wenn es um solche Perspektiven der Minderheitenpolitik geht. Und ja, hier geht es darum, deutlich zu machen: Diese abgetreten Gebiete, nach dem Versailler Vertrag, das sind letztlich deutsche Gebiete, und es ist wichtig, dass dort deutsche Minderheiten leben, damit eben dieser Anspruch auf diese Gebiete weiterhin aufrechterhalten werden kann. Bei anderen Minderheiten, etwa in der UdSSR, ist die Konstellation etwas anders. Da geht niemand davon aus, dass man irgendwelche Gebiete in der Ukraine oder an der Wolga gewinnen kann. Da ist vielmehr die Perspektive auf Aspekte der Wirtschaft zu setzen. Das heißt, die Vorstellung ist, wenn dort starke deutsche Minderheiten leben, dann sind das wichtige Gebiete für uns, aus denen wir zum Beispiel Nahrungsmittel importieren können oder Industriegüter hin exportieren können. Vor dem Hintergrund eben dieser spezifischen Bindung über, ja, letztlich das Blut, so die Vorstellung.
FINCK: Die Menschen, die dort sich auf den Weg machen oder nicht auf den Weg machen sollen – eigentlich interessiert sich niemand dafür, wie es denen geht. Sie sind politische Manövriermasse. Ein Einsatz. Ein Pfand.
OLTMER: Genau. Es geht tatsächlich um sehr große Politik. Es geht um Außenpolitik. Es geht darum, Vorstellungen zu pflegen wie die, dass das Reich überlastet sei, niemanden aufnehmen kann. Dass der nationale Arbeitsmarkt dringend geschützt werden müsse vor weiteren Arbeitskräften. Und es geht eben permanent darum, wie immer im Kontext von Migration beziehungsweise Migrationspolitik, so etwas, was die Soziologinnen, Soziologen Humandifferenzierung nennen, durchzuführen. Das heißt, es wird eben kategorisiert. Menschen werden kategorisiert. Sie werden in erwünscht oder nicht erwünscht kategorisiert. Es wird ihnen ein spezifischer Status zugebilligt, der dazu führt, dass sie sich zum Teil in der Weimarer Republik aufhalten durften, zum Teil eben auch nicht, zum Teil eben weiterwandern mussten oder zurückkehren mussten.
Musikakzent
FINCK: Zurück zum Konzept von Deutsch und Deutschtum. Ich vermute mal, dass es nicht einfach war bis ganz unmöglich, Deutscher zu werden.
OLTMER: Genau. Deutscher kann man sein, aber nicht werden. Das heißt also, dieser Status, diese Staatszugehörigkeit, -angehörigkeit, die wird vererbt. Aber sie zu bekommen, wenn man von außen zugewandert ist – und mag dieser Prozess auch viele Jahrzehnte zurückliegen – diese Möglichkeit, an die Staatsangehörigkeiten heranzukommen, die besteht so gut wie nicht. Es gibt wenig Einbürgerungen. Und wenn es Einbürgerungen in der Weimarer Republik gibt, dann beziehen sie sich in der Regel auf diese schon mehrfach zitierten Deutschstämmigen. Das heißt also, wenn Sie deutlich machen können, ich bin deutscher Herkunft, oder wie es damals hieß: Ich bin deutschen Blutes, dann gibt es eben bessere Chancen, tatsächlich an die deutsche Staatsangehörigkeit heranzukommen. Und das ist sozusagen das Grundkonzept dieses Reichs und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913: die Staatsangehörigkeiten zu schützen, gewissermaßen, vor Zugewanderten, und in diesem Zusammenhang nur dann eine Ausnahme zuzulassen, wenn es um Menschen geht, die irgendwann mal aus Deutschland weggegangen sind, irgendwo dann in der Welt leben oder eben auch zurückkehren wollen nach Deutschland.
FINCK: Wie rassistisch dieses Konzept von Deutschtum war, sieht man ja auch daran, dass die Kinder, die im Zuge der sogenannten „Schwarzen Schmach“ entstanden sind, in den französisch besetzten Gebieten im Rheinland – da waren marokkanische und senegalesische Kolonialtruppen, und die haben Schwarze Kinder hinterlassen, uneheliche – Die waren nicht Deutsche, die mussten erst mal Deutsche werden. Ist das richtig?
OLTMER: Sie waren nicht Deutsche, und sie hatten auch faktisch keine Chance, Deutsche zu werden.
FINCK: Obwohl sie die deutsche Mutter hatten.
OLTMER: Obwohl sie die deutsche Mutter hatten, vollkommen richtig. Aber die Staatsangehörigkeit wurde ja nie über die jeweiligen Mütter, sondern immer über die Väter vererbt. Und es war eben auch eine Regel des deutschen Staatsangehörigkeitsgesetzes, dass Frauen, die einen Ausländer heirateten, dann die deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben. Also, rassistisch und frauenfeindlich.
FINCK: Hat man damals auch unterschieden zwischen legaler und illegaler Migration? Das ist ja heute ein Thema. Das eine wollen wir, das andere wollen wir möglichst eindämmen. Gab es so etwas schon? Und wenn, wie wurde diese Art von Illegalität konstruiert, geschaffen?
OLTMER: Na ja, klar. Es gibt immer dann Illegalität, wenn es entsprechende gesetzliche Regelungen gibt. Und wenn man sich die damals sogenannte Ausländerpolitik der Weimarer Republik anschaut, dann sieht man: Es wird doch ein sehr erheblicher Rechtekanon gewissermaßen geschaffen, der einen Beitrag dazu leisten soll, die Migrationsverhältnisse zu regeln. Etwa, dass das Visum durchgesetzt wird als neues Instrument der Migrationskontrolle. Gut, und wenn es solche rechtlichen Regelungen gibt, dann gibt es immer wieder auch Konstellationen, in der Menschen diese Regelungen versuchen zu unterlaufen oder diese Regelung nicht erfüllen können. Und dann passiert eben das, was tatsächlich illegal oder irregulär genannt wird. Und das kann dann eben, vor dem Hintergrund der damaligen Regelungswut der Weimarer Republik in Hinsicht auf diese Ausländerpolitik, sehr schnell auch dazu führen, dass Sie eine relativ günstige Situation, auch wirtschaftlich, sozial hatten, aber sehr schnell auch abgeschoben werden konnten in ein vorgebliches Herkunftsland, das Sie möglicherweise nie kennengelernt haben, weil bereits ihre Eltern nach Deutschland gekommen waren. Die Eingriffsmöglichkeiten, die Zugriffsmöglichkeiten des Staates waren sehr weitreichend. Einen echten Aufenthaltsstatus gab es für Menschen, die aus dem Ausland kamen, in der Weimarer Republik nicht. Und weil es keinen verfestigten Aufenthaltsstatus gab, waren eben die Möglichkeiten, Menschen außer Landes zu schaffen, faktisch unbegrenzt.
FINCK: Unsere Folge heißt „Willkommen in Weimar?“ Wir haben schon extra ein Fragezeichen dahinter gesetzt. Man müsste vielleicht davorsetzen: Klammer auf, Nicht! Willkommen in Weimar.
OLTMER: So ist es. Tatsächlich sieht man, dass zwar mancherlei an Bewegung zugelassen wird, beispielsweise das Grenzüberschreiten von Arbeitskräften in der Landwirtschaft, auch in der Industrie, aber ein ganz zentrales Element der Migrationspolitik damals war, dass diese Bewegungen möglichst nicht zur Niederlassung führen. Bewegungen, die saisonal orientiert waren, weil es darum ging, beispielsweise landwirtschaftliche Arbeitskräfte für die jeweilige Erntesaison zu gewinnen, die waren erwünscht, aber die Arbeitskräfte sollten möglichst vor Weihnachten wieder das Land verlassen, um zu verhindern, dass sie sich wirklich dauerhaft in Deutschland ansiedeln.
FINCK: Wie hat denn im Alltag die einheimische Bevölkerung reagiert?
OLTMER: Wir haben nicht sehr viel an Informationen darüber. Im Vergleich zu heute oder in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ist die Zahl der Menschen, die in dem Weimarer Republik Grenzen überschreiten oder in die Republik kommen, relativ beschränkt. Es ist also kein Thema, das gewissermaßen Tag um Tag medial, aber auch in der öffentlichen Diskussion, umgeht. Aber in jedem Fall wird unterschieden, in jedem Fall sehen Sie diese antipolnische Politik, diese anti-polnische Migrationspolitik oder, wie es im Kaiserreich heißt, die antipolnische Abwehrpolitik, durchaus auch im Alltag. Polinnen, Polen gelten als Menschen, die wenig Rechte haben, die im Alltag massiv diskriminiert wurden und die letztlich möglichst schnell wieder verschwinden sollten.
Musikakzent
FINCK: Insgesamt ist die Migration als Bedrohung und als Belastung empfunden worden. Das ist ja heute auch so, dass vielfach Migration bezeichnet wird als eine enorme Herausforderung. Wir sprechen über die „Grenzen“ der Migration: Jetzt ist das Boot voll, jetzt ist es genug. – Heute gibt es dennoch gleichzeitig auch ein Verständnis von Migration als einer kulturellen Bereicherung, als etwas, was gerade demokratische Strukturen auch stärken, aufbauen helfen kann. Die Weimarer Republik war ja nun die erste deutsche Demokratie. Gab es damals auch schon Menschen, die derartige Überlegungen angestellt haben, die gesagt haben, Ja, kulturelle Vielfalt gehört zum Wesen unserer neuen Demokratie dazu?
OLTMER: Solche Menschen hat es gegeben, aber es blieb dann am Ende bei sehr wenigen Stimmen, die solche Auffassungen vertraten. Am ehesten wird so etwas dann noch diskutiert in Kreisen, die sehr stark ausgerichtet sind eben auf die deutschen Minderheiten in Osteuropa. Das heißt also, da wird dann sehr stark darüber diskutiert, inwieweit es so etwas wie eine deutsche Kultur gibt, eine die Staatsgrenzen der Weimarer Republik und eben auch des Deutschen Kaiserreiches weit überschreitende deutsche Kultur. Wie diese deutsche Kultur aussieht, letztlich auch, wie heterogen diese deutsche Kultur ist. Aber Sie finden kaum Stimmen, die am Ende auf so etwas, wie es dann beispielsweise in 1990er Jahren in der Bundesrepublik heißt, Multikulturalismus, ausgerichtet werden. Oder die davon ausgehen, dass durch Migration, durch Einwanderung eine Gesellschaft entsteht, die andere Perspektiven mit sich bringt als eine homogene Gesellschaft. Die Vorstellung ist, eine Gesellschaft wird durch einen Nationalstaat gerahmt, und sie hat homogen zu sein. Eine homogene Gesellschaft ist eine gute Gesellschaft. Sie lässt sich gut regieren und ist am ehesten geeignet, den Stürmen der jeweiligen Zeit entgegenzutreten.
FINCK: Wie verhielten sich denn die Gewerkschaften der ganzen Thematik gegenüber?
OLTMER: Ja, das, was wir ausmachen können, ist, dass die Migrationspolitik ein wesentliches Element von Arbeitsmarktpolitik ist. Das gibt es im Kaiserreich nicht. Es gibt faktisch keine Arbeitsmarktpolitik im Kaiserreich, es gibt auch keine entsprechenden Institutionen, die sich darum reichsweit kümmern. Aber das ändert sich in der Weimarer Republik, beziehungsweise, das ändert sich schon während des Ersten Weltkriegs. Es geht explizit darum, Migrationspolitik als Arbeitsmarktpolitik zu verstehen. Die Arbeitsmarktpolitik wird seit der Revolution von 1918/1919 zu einem guten Teil bestimmt durch die sogenannten Arbeitsmarktparteien, also sowohl Unternehmer, Unternehmerverbände als eben auch die Gewerkschaften. Und die Gewerkschaften sind tatsächlich ganz rigide Vertreter der Perspektive, den sogenannten nationalen Arbeitsmarkt schützen zu wollen. Wir haben es ja in nicht unerheblichem Maße mit Erwerbslosigkeit in der Weimarer Republik zu tun. Und die Vorstellung ist eben: Jede Zuwanderung ist ein Problem, weil sie einen Beitrag dazu leisten könnte, dass weniger Arbeit für Deutsche zur Verfügung steht. – Immerhin tragen die Gewerkschaften, trägt die Arbeiterbewegung insgesamt dazu bei, dass es gleiche Löhne sowohl für Inländer als auch für Ausländer gibt und dass es zumindest eine Basis an Sozialleistungen gibt für ausländische Beschäftigte.
FINCK: Diese gleichen Löhne – Das geschah aber jetzt nicht aus humanitären Gesichtspunkten, sondern einfach, weil man Lohndumping sonst fürchtete.
OLTMER: Das ist ein riesiges Thema im Kaiserreich. Da ist dieses Lohndumping ein alltägliches Thema. Das heißt, die Unternehmer, insbesondere die Großgrundbesitzer im preußischen Osten, versuchen ganz explizit Löhne zu drücken, indem sie ausländische Arbeitskräfte einsetzen. Und genau eine solche Politik wollte man dann aber in der Weimarer Republik nicht, dafür setzt sich die Arbeiterbewegung ein.
FINCK: Meine letzte Frage, Herr Oltmer. Insgesamt waren ja die Zuwanderungszahlen in der Weimarer Republik deutlich niedriger als vorher, als vielleicht um 1900, und auch deutlich niedriger natürlich als nach 1945 oder etwa in der Bundesrepublik, vielleicht in den 70er Jahren, auf dem Höhepunkt der sogenannten Gastarbeiterbewegung. Sie sagen trotzdem in Ihrem Buch: Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren von ganz zentraler Bedeutung für die Herausbildung wesentlicher Entwicklungslinien in Wanderungsgeschehen und in Migrationspolitik. Können Sie uns das mal skizzieren? Diese Entwicklungslinien – welche sahen wir denn in den 1960er, 70er Jahren, welche sehen wir heute noch?
OLTMER: Ich denke, ganz wesentlich ist zunächst einmal, dass diese Bedeutung, ich habe es gerade erwähnt, der Arbeiterbewegung ja sehr stark wächst mit dem Beginn der Weimarer Republik. Wir sehen, dass es zu der Entwicklung einer staatlichen Verantwortung für den Arbeitsmarkt kommt, dass sich das Reichsarbeitsministerium eben als Migrationsministerium gewissermaßen versteht, dass Migration zu einem Thema der Arbeitsmarktpolitik wird. Und genau das ist etwas, was wir für den Kontext der Bundesrepublik eben auch sehen können. Wir sehen, dass dann später das Bundesarbeitsministerium ein wesentlicher Akteur in Hinsicht auf die Formulierung von Migrationspolitik wird. Man kann hier ganz unmittelbar eine Linie gewissermaßen von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik ziehen. Und wir sehen eben auch, dass es eine ganze Anzahl von weiteren Instrumenten gibt, die in der Konstellation des Ersten Weltkriegs, der unmittelbaren Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs entwickelt wird, die eben sowohl für die Weimarer Republik als auch für die Bundesrepublik eine hohe Bedeutung haben. Das heißt also, das moderne Visum wird während des Ersten Weltkriegs erfunden und wird zu einem ganz zentralen Element von Migrationspolitik in der Zwischenkriegszeit. Und es bleibt eben bis heute ein ganz zentrales Element Migrationspolitik. Wir haben die Entdeckung gewissermaßen von „Obergrenzen“, so könnte man es formulieren. Das heißt, in der Migrationspolitik der Weimarer Republik wird sehr stark mit Kontingenten gearbeitet Es wird von Jahr zu Jahr festgelegt, wie viele Menschen in den landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt beispielsweise kommen können. Und das sind Elemente, die eben auch in der Bundesrepublik eine Rolle spielen. Zwar nicht unmittelbar im Kontext der sogenannten Gastarbeiterpolitik, aber etwa in den 1990 er Jahren im Zusammenhang der Zuwanderung von Menschen aus Osteuropa in die Bundesrepublik. Die Diskussion um Obergrenzen, die beherrscht ja die Diskussion um Migration bis heute, gewissermaßen.
FINCK: Und das war ja auch nicht nur eine Diskussion in der Weimarer Republik in Deutschland, das war ja global. Denken wir an 1924.
OLTMER: Absolut.
FINCK: USA.
OLTMER: Vollkommen richtig. Die Quotengesetzgebung 1921 bzw. 1924 in den USA, die hat weltweite Bedeutung. Und was auch wichtig ist, vielleicht als dritter Punkt, das ist die Diskussion um asylrechtliche Regelungen, die Diskussion um die Frage, wie soll mit Schutzsuchenden umgegangen werden? Und das ist tatsächlich eine neue Diskussion. Es gibt schon asylrechtliche Regelungen vorher, ohne Frage. Aber dass es so eine intensive nationale und internationale Diskussion darüber gibt, auf welche Art und Weise Schutzsuchende versorgt werden sollen, aufgenommen werden sollen, inwieweit sie einen spezifischen Status bekommen sollen, das ist neu, und das hat eben sehr explizit mit den gerade erwähnten Quotenregelungen in den USA 1921 bzw. 1924 zu tun. Denn die europäische Auswanderung nach Nordamerika in die USA wird massiv blockiert eben durch diese Quotenregelung. Und das heißt, viele politisch Verfolgte der Zeit vor 1914 hatten eigentlich keine großen Probleme, ein Unterkommen zu finden in den Vereinigten Staaten vor dem Hintergrund der sehr offenen Einwanderungsregelung. Aber jetzt, mit dem Schließen der Wege in die USA, bleiben viele in Europa stecken. Menschen etwa aus den ganz klassischen Auswanderungsgebieten in Polen, in der Ukraine, in anderen Teilen des ehemaligen Zarenreiches, Menschen aus Osteuropa, die sich bis dahin mehr oder minder ohne Begrenzung auf den Weg machen konnten über den Atlantik, sind jetzt gefangen in Europa gewissermaßen. Und das führt dazu, dass eine Notwendigkeit besteht, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, national wie international, wie gehen wir mit dem Thema Asyl um?
FINCK: Herr Oltmer, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
OLTMER: Sehr gern. Vielen Dank.
Musik
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 4: Demokratie und Migration. Wege und Stationen in der deutschen Geschichte
Folge 1: Willkommen in Weimar? Migration in der ersten deutschen Demokratie
Almut Finck im Gespräch mit Jochen Oltmer
Eine Kooperation mit der Stiftung Orte der Deutschen Demokratiegeschichte
FINCK: Wenn Sie sich mit dem Thema der gerade gehörten historycast-Folge noch weiter auseinandersetzen wollen: Hören Sie doch mal beim WDR-Zeitzeichen rein. Dort finden Sie eine Reihe von spannenden Sendungen zu ähnlichen Themen. Die Links dazu haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt.
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