Linker Antisemitismus
Shownotes
Gibt es linken Antisemitismus? Ja, sagt Klaus Holz. Weder bei Marx und Lenin, nie bei den deutschen Sozialdemokraten. Aber bei Stalin und im sogenannten real existierenden Sozialismus. Bei linken Splittergruppen der 68er Bewegung und heute, so Holz, bei Unterstützern von Terrororganisationen wie der Hamas in der aktuellen Gewalt-Eskalation im Nahen Osten. "Mit einfachen Schemata von Gut und Böse wird man diesem Konflikt nicht gerecht. In dem Fall ist die israelische Regierungspolitik wirklich kritik- und verurteilenswert. Aber das ist kein Argument, sich in irgendeiner Weise mit Organisationen wie der Hamas zu solidarisieren".
Dr. Klaus Holz ist Soziologe und Antisemitismusforscher. Er arbeitete als Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland und war an mehreren Büchern zum Thema Antisemitismus beteiligt und ist Mitherausgeber des 2024 erschienenen Bandes „Was ist Antisemitismus?“ .
Dr. Heiner Wember ist Radiojournalist und Historiker aus Münster.
Das Porträt eines jungen Juden in Deutschland und seine Erfahrungen finden Sie in dem Podcast der Berghof-Foundation: [https://open.spotify.com/episode/0e9zff3pjyJFelHi4vKEfd]
Links zum WDR ZeitZeichen:
RAF-Weggefährten. Terroristen legen Bombe in Jüdischer Gemeinde: [https://www1.wdr.de/mediathek/audio/zeitzeichen/audio-raf-weggefaehrten-terroristen-legen-bombe-in-juedischer-gemeinde-100.html]
Lieber im Kaffeehaus als in der Synagoge: Zionist Theodor Herzl: [https://www1.wdr.de/mediathek/audio/zeitzeichen/audio-lieber-im-kaffeehaus-als-in-der-synagoge-zionist-theodor-herzl-100.html]
Vor 75 Jahren: Die Staatsgründung Israels: [https://www1.wdr.de/mediathek/audio/zeitzeichen/audio-vor--jahren-die-staatsgruendung-israels-100.html]
Leopold Trepper, Chef der Roten Kapelle: [https://www1.wdr.de/mediathek/audio/zeitzeichen/audio-leopold-trepper-chef-der-roten-kapelle-todestag--100.html]
Die didaktischen Materialien finden Sie hier: [https://historycast.de/]
Staffel 3, Folge 9 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat.
Transkript anzeigen
HOLZ: Mit solchen einfachen Schemata von Gut und Böse wird man diesem Konflikt nicht gerecht. In dem Fall ist die israelische Regierungspolitik wirklich kritik- und verurteilungswert. Aber das ist kein Argument, sich in irgendeiner Weise mit Organisationen wie der Hamas zu solidarisieren.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus
Folge 9: Linker Antisemitismus
Heiner Wember im Gespräch mit Klaus Holz
WEMBER: Die deutschen Linken der frühen Bundesrepublik träumten vom Kibbuz. Vom gemeinschaftlichen Arbeiten in der Kommune, in Palästina. Land fruchtbar machen, das vorher brach lag. Solidarität mit den überlebenden Juden, das schien die einzige richtige linke Antwort auf den Holocaust. Doch das Bild änderte sich radikal um 1967 herum. Israel besiegte im Sechstagekrieg mit seinem Kriegshelden Moshe Dayan die Araber und besetzte Ostjerusalem und das Westjordanland, den Sinai und die Golanhöhen und den Gazastreifen. Die Rechten in der Bundesrepublik wurden plötzlich zu Israel-Bewunderern. Die Bildzeitung titelte: „Sieg: Dayan, der Rommel Israels“. Da wandten sich linke Gruppen den Palästinensern zu. Das Palästinensertuch wurde zu ihrem Fetisch. Warum so ein schneller und radikaler Seitenwechsel? Herr Holz?
HOLZ: Das hat, glaube ich, mehrere Gründe. Einer der Gründe ist tatsächlich, dass die Abwendung von der eher sozialdemokratischen Politik wichtig ist bis zur Bildzeitung, die rechts als Gegner empfunden wurde, was ja auch tatsächlich richtig ist. Denken Sie an den Mord an Benno Ohnesorg am 2. Juni 67, an die Hetze gegen Rudi Dutschke und alle damit verbundenen Studierenden und an die großen, zentralen politischen Themen, ganz zentral der Vietnamkrieg.
WEMBER: Der Vietnamkrieg war das zentrale außenpolitische Thema.
HOLZ: International das zentrale Thema. Demokratiefeindlichkeit innerhalb der Bundesrepublik. Das Erbe des Nationalsozialismus. Das waren also die großen Themen.
WEMBER: Und Entkolonialisierung.
HOLZ: Und Entkolonialisierung. Gegen die USA, gegen den Hegemon, die Weltmacht und damit eine Grundorientierung. Dann kommt das, was Sie gerade schon sagten: Mit dem Sechstagekrieg erscheint Israel als die übermächtige militärische Macht im Nahen Osten. Der Sechstagekrieg war ein Triumph des israelischen Militärs über alle arabischen Nachbarstaaten, sodass offensichtlich zu sein schien, wer hier der Starke und wer der Schwache ist.
WEMBER: Und links heißt, dass man häufig auf Seiten der Schwachen stehen möchte.
HOLZ: Damit passten die Palästinenser, Palästinenserinnen in diese Vorstellung eines um Befreiung kämpfenden, kolonialisierten, unterdrückten Volkes, ähnlich wie in Mosambik oder Angola oder Vietnam oder Kambodscha oder wo auch immer in der Welt. Das geht dann schnell, aber doch eher 69/70/71 haben wir das erst, also erst mit dem Zusammenbruch der APO radikalisieren sich bestimmte Teile der APO, werden eher stalinistisch und so hardcore antiimperialistisch und erklären dann die ganze Welt in einem Gut-Böse-Schema. Auf der einen Seite die bösen Imperialisten, auf der anderen Seite die armen, unterdrückten Völker. Und das ist, glaube ich, wichtig für alle Folgen, dass sich dann eine extreme Linke in Deutschland und vielen anderen Ländern etabliert, die den Volksbegriff als linken Begriff etabliert.
WEMBER: Und Israel galt nicht als Volk, sondern als staatliches Gebilde.
HOLZ: Als koloniale, imperialistische, dem Westen, den USA zugehörige Macht.
WEMBER: Jetzt stelle ich Sie aber erst mal vor. Dr. Klaus Holz ist Soziologe und Antisemitismusforscher. Er arbeitete als Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland. Klaus Holz zwar an mehreren Büchern zum Thema Antisemitismus beteiligt und ist Mitherausgeber des 2024 erschienenen Bandes: „Was ist Antisemitismus?“ Herr Holz, Antisemitismus von rechts, das kennen wir, aber von links? Ungewöhnlich.
HOLZ: Ja, das muss man auch nach wie vor sagen, wenn man über linken Antisemitismus spricht, dass man da nicht in die Verzerrung gerät. Bis heute ist es so, dass wir weitgehend den Antisemitismus im rechten politischen Feld haben. Das zeigen alle sozialwissenschaftlichen Studien, und zwar durchgängig ohne Unterschied. Das macht den linken Antisemitismus natürlich nicht gut. Nur gesamtgesellschaftlich bewertet muss man das, glaube ich, deutlich sagen. Bei der Linken ist es insofern besonders skandalös, weil eine Linke ja eher so was wie den Universalismus, die Emanzipation aller Menschen, Freiheit, Gerechtigkeit, solche Begriffe im Mund führt, so dass es da natürlich besonders skandalös ist, wenn sich Linke gegen Israel oder Juden und Jüdinnen auf eine antisemitische Art und Weise wenden.
WEMBER: Fangen wir mal bei Karl Marx an, dem Urvater. Der hat ja nun sehr viel geschrieben. War auch Antisemitisches darunter?
HOLZ: Das ist heftig umstritten.
WEMBER: Ich zitiere mal einen Aufsatz von 1843 „Zur Judenfrage“. Wörtlich erklärt er dort - wird ganz gerne von Rechten immer zitiert: „Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld?
HOLZ: Das klingt, wenn man das so einzeln zitiert, natürlich wie antisemitische Stereotypen. Die Identifikation der Juden mit Geld. Das wird aber dem Text von Marx nicht gerecht. Der Text ist eine Auseinandersetzung der Junghegelianer, also von Karl Marx gegen Bruno Bauer. Tatsächlich ein antisemitischer Autor. Der hat auch einen Text antisemitischer Couleur geschrieben, und die junghegelianische Auseinandersetzung funktioniert im Grunde so, dass die sich immer wechselseitig überboten haben. Was Marx in dieser Frühschrift versucht, ist, mit noch mehr Hegelscher Dialektik Religionskritik zu treiben. Das ist ihm gründlich schiefgegangen. Der Text ist nicht haltbar, und er ist auch für Marx einfach nur eine Zwischenstation. Das heißt, Sie finden nirgendwo im späteren Werk, nirgendwo, schon gar nicht in den großen Schriften der Kapitalismuskritik, irgend vergleichbare Aussagen. Das heißt, die Behauptung, Marx etwa sei der Ahnherr eines linken Antisemitismus, ist ganz definitiv falsch.
WEMBER: Im Manifest der Kommunistischen Partei heißt es ja, die Arbeiter haben kein Vaterland.
HOLZ: Richtig, das muss man sehen. Das ist eine Entwicklung. Marx war ein junger Intellektueller mit einem in der Verbindung zu einigen anderen jungen Intellektuellen, Max Stirner, Bruno Bauer, Friedrich Engels und andere. Und war in einer intellektuellen Bewegung drin, die sich sehr schnell und sehr radikal im Kopf philosophisch radikal entwickelt hat. Und zwischen der Judenfrage, dem Text und dem Kommunistischen Manifest liegen inhaltlich Welten. In Jahren ausgedrückt sind es fünf.
WEMBER: Ja, er konnte schnell denken.
HOLZ: Das Kommunistische Manifest und kurz davor die deutsche Ideologie. Das sind die Texte, die dann prägend bleiben für das, was man dann als eigentliches Werk von Marx in den Vordergrund rücken müsste. Also ganze drei Bände zum Kapital, zur Kritik des Kapitalismus. Und dort, wie gesagt, findet sich schlichtweg gar kein Antisemitismus.
WEMBER: Lenin war der Antisemitismus offenbar auch sehr fremd. Sogar während des Bürgerkriegs hat er auf Schallplatte gesprochen. Zitat; „Nicht die Juden sind die Feinde des werktätigen Volkes, sondern die Kapitalisten“. Da wurden sogar Menschen, die Pogrome befürworteten, standrechtlich erschossen. Ein sehr harter Anti-Antisemitismus in der Frühphase der bolschewistischen Revolution.
HOLZ: Lenin und auch Trotzki waren beide sehr klar und sehr entschieden in der Frage. Es ist wirklich bemerkenswert, was Sie gerade sagen, dass er 1918 eine Rede auf Schallplatte gegen Antisemitismus hat aufnehmen lassen, dass Plakate gedruckt worden sind mitten in einem Bürgerkrieg, der für die Bolschewisten fast nicht zu gewinnen war. Kurz vor Ende machen sie trotzdem solche Sachen,
WEMBER: Die hatten gerade andere Probleme.
HOLZ: Allerdings, das hätte man leicht entschuldigt. Aber sie machen es nicht. Und man muss dazu sagen Wir haben in den Spätjahren des zaristischen Russlands massive Gewalt gegen Juden, unvergleichlich härter und mehr Tote als etwa im westlichen Europa.
WEMBER: Das ist ja auch bei Trotzki sehr deutlich, der selber aus der Ukraine stammt, selber jüdischstämmig war. Ihm wird zugerechnet dieses Bonmot: „Die Trotzkis machen die Revolution und die Bronsteins zahlen den Preis“. Was hat das zu bedeuten?
HOLZ: Dass die Revolution den Juden in die Schuhe geschoben wird. Das wird dann sogenannter jüdischer Bolschewismus, also: hinter der bolschewistischen Revolution, steckt als eigentlicher Strippenzieher das internationale Judentum und nicht eine kommunistische oder proletarische Idee, sondern der Jude sozusagen ist der, der den Bolschewismus verursacht. Und Trotzki ist dann das Beispiel, weil Trotzki der Herkunft nach Jude war.
WEMBER: Genau das änderte sich dann mit dem Antijudaismus oder Antiantisemitismus unter Stalin. Führende jüdischstämmige Bolschewiken: Lew Kamenew, Grigorij Sinowjew, Karl Radek, die wurden nicht alt, wurden Opfer von Stalins Säuberungswellen. Und so ging das dann auch weiter. Stalin hatte ein massives antijüdisches Problem. Später sagte auch mal Chruschtschow: „In Stalins eigenem Hirn wuchs der Antisemitismus wie ein Tumor.“
HOLZ: Ja, Stalin selbst war als Person offensichtlich Antisemit, ganz im Unterschied zu Lenin etwa. Das aber erklärt natürlich nicht alles, sondern was dazukommt, ist, dass sich mit der erfolgreichen bolschewistischen Revolution im Zuge der 20er Jahre der Stalinismus in der Sowjetunion durchsetzt. Das hat sehr wenig mit Trotzki und Lenin zu tun. Und dieses Durchsetzen ist verbunden mit einer massiven Veränderung der sowjetischen Ideologie, die sich von Marx weg entwickelt. Der sogenannte Marxismus/Leninismus ist eine stalinistische Erfindung, und die beruht darauf, um das Kernwort zu sagen: Sozialismus in einem Land. Also ursprünglich tritt die Revolution mit einem internationalen und universalen Anspruch an.
WEMBER: Vertreten durch Trotzki.
HOLZ: Trotzki, auch durch Lenin. Daraus wird aber ein Sozialismus in einem Land, und dieses sozialistische neue Land legitimiert sich jetzt wieder mit einer nationalen Kategorie, nämlich einem werktätigen Volk, und braucht dafür die geeigneten Feinde. Das ist das, was Stalin dann macht und dann insbesondere in den großen Säuberungsprozessen, insbesondere wieder gegen die Juden und Jüdinnen richtet, um diese als Feinde anzubieten, um zu erklären, was alles in diesem Land schief geht. Dahinter stecken wieder Juden, die den Aufbau des Sozialismus sabotieren.
WEMBER: Das wurde bei ihm ja nicht besser, sondern eher schlimmer. Es gab ein Jüdisches Schwarzbuch im Zweiten Weltkrieg, wo die Verbrechen des Holocaust dokumentiert wurden. Das wurde 1947 verboten, als Stalin keine Rücksicht mehr auf seine westlichen Verbündeten nehmen musste. Das Jüdische Antifaschistische Komitee wurde verboten, 15 seiner Mitglieder in Schauprozessen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Hinzu kam dann noch kurz vor seinem Tod eine sogenannte jüdische Ärzteverschwörung. Da war ein groß angelegtes staatliches Pogrom offensichtlich in der Vorbereitung.
HOLZ: Und zwar in allen sogenannten Volksdemokratien waren ähnliche Prozesse in Vorbereitung. Vor allem der Slansky-Prozess in der Tschechoslowakei. Das muss man sich ungefähr so vorstellen: Mit dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland werden ja eine Reihe osteuropäischer Länder in den Machtbereich der Sowjetunion eingruppiert. Und um die Macht dort zu stabilisieren, ist wieder sozusagen die Frage der Ideologie und die Frage des Feindbildes wesentlich. Die relative Ruhe in dieser Frage während des sehr brutalen Kriegs mit Millionen von toten Sowjetbürgern - ich glaube etwa 25 Millionen in der Sowjetunion getöteten Menschen - wie legitimiert man diese neue Ordnung? Wie legitimiert man ein sozialistisches Polen, eine sozialistische Tschechoslowakei? Und dazu sind die Schauprozesse ein Mittel, das heißt, die richten sich weniger oder fast gar nicht gegen so was wie reale Gegner. Die gibt es überhaupt nicht mehr, sondern sind ein ideologisches Angebot und natürlich auch eine Machtdemonstration. Und da reingewoben wird dann systematisch und massiv der Antisemitismus. Das endet nur dadurch, dass Stalin dann 53 stirbt. Sonst hätten wir auch zum Beispiel in Ostberlin so einen Schauprozess erlebt.
WEMBER: Es wurden sogar Pläne kolportiert, die 2 Millionen Juden in der Sowjetunion hinter den Ural zu deportieren. In Lager.
HOLZ: Auch das ist genauso richtig. In der DDR haben wir ganz wenige Juden, die dann, 52 vor allem, in den Westen fliehen, weil sie sehen, was auf sie zukommt.
WEMBER: Nun könnte man meinen, Stalin war weg, das ist ein persönliches Problem von seiner Auffassung von Kommunismus. Es gibt ein schönes Beispiel. Leopold Trepper war ein Meisterspion der Sowjets im Zweiten Weltkrieg, Begründer der oder Führer der Roten Kapelle. Kam aus dem heutigen Polen, hatte jüdische Wurzeln, spionierte dann für Stalin, landete nach dem Krieg im Gulag bis zu Stalins Tod, ging zurück nach Polen in seine ursprüngliche Heimat. Lehnte eigentlich den Zionismus ab, weil er sagte: Er widerspricht dem marxistischen Denken der klassenlosen Gesellschaften. Und musste dann erleben, in der 68er Zeit, dass es eine massive Verfolgung von Juden in Polen gab. 15.000 Menschen mussten ins Exil gehen. Das heißt, es ging wieder los. Es hatte kein Ende mit Stalin, sondern dieser Topos des Antijüdischen lebte dann weiter.
HOLZ: Ja, das gibt dann 68 so eine Welle, vor allem in Polen, in der das immer wieder in dem sowjetischen Machtbereich aufbricht. Es hat eigentlich immer wieder die gleiche Funktion. Es werden innere Krisen: Ungarn, der ungarische Aufstand, in der DDR, Polen 68, wird immer wieder versucht, in inneren Krisen die Macht zu stabilisieren, indem man einen Feind anbietet, dass die internationale imperialistische Macht versucht, durch eingeschleuste Saboteure, die nicht wirklich zum werktätigen Volk gehören, Polen etwa zu zersetzen. Und das ist eine Art von Stereotyp, das ganz typisch für den Antisemitismus ist: Der Jude, der hinter den Kulissen beeinflusst, zersetzt, auflöst, sabotiert, und dieses Stereotyp wird dann auch von den sowjetischen Staaten immer wieder benutzt und bedient.
WEMBER: Das heißt ja nicht Antisemitismus, sondern Antizionismus und Kosmopolitismus.
HOLZ: Das sind beides Tarnbegriffe. Also Kosmopolitismus ist zunächst in der linken Tradition bei Lenin, Trotzki usw. ein positiver Begriff, weil: Kosmopolitismus war gegen den Nationalismus, war Universalismus. Das wird dann erst in den 40er, 50er Jahren im Zuge des Stalinismus praktisch umgepolt. Dass Kosmopolitismus das Gegenteil davon sei, also etwas, was sich gegen das werktätige Volk richte, das kann man in der Sowjetunion sehr gut sehen. Und Antizionismus meint ursprünglich und ist tatsächlich eine linke Tradition, meint ursprünglich nur, dass die Befreiung der Juden und Jüdinnen vom Antisemitismus durch einen jüdischen Nationalismus, nämlich Zionismus, dass das aus linker Perspektive ein falscher Weg ist. Das heißt: Es war zunächst weithin in der Linken Konsens zu sagen: Nein, die Perspektive gegen Antisemitismus ist die sozialistische internationale universalistische Revolution und nicht nationale Befreiung für die Juden und Jüdinnen. Das war etwa Karl Kautsky in der Sozialdemokratie und so fort.
WEMBER: Sagte auch Leopold Trepper. Er ist am Ende dann doch nach Israel gegangen, weil er sich nur dort sicher fühlte.
HOLZ: Insofern ist Antizionismus was wirklich anderes wie Antisemitismus. Der wird dann aber später, weil natürlich die Sowjetunion ja schlecht sagen konnte als Gegner des Faschismus: Wir sind jetzt Antisemiten - das hätte Hitler gesagt, aber nicht Stalin - hat man versuchen müssen, das zu verschleiern. Das heißt, man hat also so getan, als würde man sich eben nicht gegen Juden, sondern nur gegen imperialistische Juden, gegen bourgeoise Juden, gegen zionistische Juden usw. richten. Das heißt, der Begriff nimmt dann eine andere Färbung an. Er wird zu einer Verschleierung von Antisemitismus.
WEMBER: Wir haben vorhin schon kurz über die 68er gesprochen. Danach fing das ja erst so richtig an, wie Sie vorhin schon berichtet haben. Es gab 1969 einen geplanten Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Berlin bei einem Gedenktag zu der Pogromnacht. Die Bombe ging Gott sei Dank nicht hoch, und Dieter Kunzelmann, der Exkommunarde, der diese Gruppe wohl anführte, formulierte in dem Bekennerschreiben: „Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem amerikanischen Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen.“ Da wollte man in Berlin Überlebende des Holocaust umbringen, sie dafür verantwortlich machen, dass Israel diese Politik angeblich betrieb. Das war schon mal schweres Geschütz.
HOLZ: Das ist allerdings wirklich schweres Geschütz. Es ist zum Glück nicht gelungen, dieses Attentat. Das wäre natürlich furchtbar gewesen. Es bleibt auch zum Glück in der Linken marginal und auch sehr umstritten. Es war keineswegs so, dass weite Teile der Linken so was begrüßt hätten. Aber an dem Beispiel wird etwas deutlich, was tatsächlich für den Antisemitismus jetzt zunehmend prägend geworden ist, nämlich: Wir nennen das in der Forschung Täter-Opfer-Umkehr. Das hat das, was Sie gerade sagten, ganz deutlich gemacht. Man erklärt die Juden von heute Schrägstrich, die Israelis von heute zu demselben, was damals die Nazis waren. Und wenn das natürlich jemand, ein Deutscher sagt, Nachkomme dieser Nazis, dann hat es eine stark entschuldigende Funktion, weil der Sinn, und das macht dieses Attentat ja deutlich, der Sinn ist, wenn ich als Nachfahre meiner Nazieltern etwas aus dieser Geschichte lerne. Wenn ich heute Antifaschist bin, muss ich gegen die Juden sein. Das ist ja die Konsequenz, die sich daraus ergibt. Das heißt, man landet wieder beim gleichen Feindbild und entschuldet damit natürlich die eigene Situation, Geschichte, und rechtfertigt sie antifaschistisch. Dass ist das, was Kunzelmann mit dem Brief damals gemacht hat. Das ist aber eine Art der Pseudobegründung von Antisemitismus, die Sie inzwischen gesellschaftlich komplett weit durch alle politischen Spektren hindurch finden.
WEMBER: Ich kenne es aus meiner eigenen Familie, dass meine Eltern sagten, die Juden müssten es doch besser wissen. Sie sind doch selber Opfer geworden. Wie können sie so eine Besatzungspolitik betreiben?
HOLZ: Das ist natürlich eine absurde Vorstellung. Als wäre das, was die Nazis mit den Juden gemacht haben, eine moralische Verbesserungsveranstaltung gewesen. Warum sollte jemand dadurch besser werden, indem man ihn verfolgt? Absurde Vorstellung.
WEMBER: Sie sagten gerade selbst, dass es einzelne linke Gruppen waren, die so dachten, dass es umstritten war. Links heißt ja nicht linksextrem, sondern wir müssen auch mal über die Sozialdemokratie sprechen. Noch mal kurz einen Rückschritt ins 19. Jahrhundert. Viktor Adler, hatte selbst jüdische Wurzeln, was ihn nicht davon abhielt, in der Arbeiterzeitung ständig gegen die Rothschilds zu polemisieren. Zum Beispiel hieß es dort, „dass der Stallmops Rothschilds, wenn er sich überfressen hat, bessere Pflege hat als ein Proletarierweib“. Dieses Thema des Antisemitismus zog auch im sozialdemokratischen Spektrum, zumindest in Österreich.
HOLZ: In Österreich viel stärker als in Deutschland. Das würde ich deutlich sagen, ist trotzdem selbst noch für Österreich eher marginale Stimmen und auch kein Zufall, dass es ein jüdischer Sozialist sagt, der damit sehr unschön rumlaboriert.
WEMBER: Der Name Rothschild kam 998 Mal in der Arbeiterzeitung vor, zum Ende der Kaiserzeit. Also Rothschild war schon ein Thema.
HOLZ: Das kann man sich heute kaum noch vorstellen, obwohl es auch heute ja noch ein sehr bekanntes Stereotyp ist. Rothschild war der Inbegriff des Finanzkapitalisten: Reich wie Rothschild. Galt als der reichste Mann der Welt und dergleichen mehr und war natürlich immer in der Gefahr, wenn man das so formuliert wie Adler, dass damit der jüdische Bankier und nur der jüdische und nicht alle Bankiers gemeint waren. Adler kann man zugutehalten: Er zielte eigentlich auf das Bankwesen, hat es aber in einer ideologischen Weise ausgedrückt, die hochgradig gefährlich - und missverständlich kann man das schon nicht mehr nennen - das Stereotyp geradezu nahelegt.
WEMBER: Da wurde der Klassenfeind personalisiert.
HOLZ: Jüdisch konnotiert. Aber für die deutsche Sozialdemokratie kann man sagen, dass die sich von solchen Sachen wirklich weitgehend ferngehalten hat. Und sie ist von allen großen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts, also großen Strömungen, meine ich, christlich, sozial, liberal, konservativ, sozialdemokratisch, sozialistisch, ist diese sozialdemokratisch sozialistische Tradition, also verkörpert durch die SPD, die einzige große politische Strömung, die sich tatsächlich weitgehend vom Antisemitismus ferngehalten hat und damit nie systematisch Politik gemacht hat. Einzelne Vorkommnisse sind keine Frage, das will ich nicht beschönigen. Die deutsche Sozialdemokratie hat früh kapiert, das sind so Entwicklungen der 1870er Jahre, dass sie davor warnen muss. Und sie hat sich immer wieder aktiv gegen Antisemitismus positioniert.
WEMBER: Auch ein historisches Verdienst. Das die ganze Zeit durchzuhalten.
HOLZ: Das ist ein echtes historisches Verdienst der Sozialdemokratie, dass sie alles in allem bis heute sich weit freigehalten hat, viel, viel freier gehalten hat als zum Beispiel der Liberalismus.
WEMBER: Lassen Sie uns mal in den Nahen Osten schauen. Es gab einen deutschen Sender in der NS-Zeit, der täglich dorthin ausgestrahlt hat antisemitische Propaganda in Zusammenhang mit dem Koran. Meine Kollegin Almut Finck hat das jetzt in einem historycast schon mal intensiv beleuchtet. Dass dadurch auch viel NS-Denken in den arabischen Raum hineingetragen worden ist. Und tatsächlich, wenn man sich die Charta der Hamas anschaut, werden dort die Protokolle der Weisen von Zion zitiert. Außerdem behauptet, Juden hätten den Ersten Weltkrieg begonnen, auch am Zweiten seien sie Schuld und sie hätten sich an allen Kriegen mit Rüstungsgütern bereichert. Und nach dem Weltkrieg habe der Feind dann die Vereinten Nationen und den UN-Sicherheitsrat gegründet. Zitat: „Wo immer auf der Welt Krieg geführt wird, haben sie die Finger im Spiel“. Das klingt wenig nach Koran, sondern viel nach NS-Ideologie.
HOLZ: Ja, ist auch völlig richtig. Die Charta der Hamas hat wenig mit dem Koran und noch weniger mit dem Islam zu tun. Das ist dort eher Staffage und Zierde. Die wesentlichen Anschuldigungen gegen Israel und die Judenheit stammen aus den großen europäischen antisemitischen Texten. Die Protokolle der Weisen von Zion werden explizit benannt und auch inhaltlich ganz massiv verwendet. Nur der Bezug zum Nationalsozialismus ist, wäre ich ein bisschen vorsichtiger. Die Charta der Hamas ist von 1988, also 40, 50 Jahre später. Die Nationalsozialisten versuchen natürlich, Einfluss zu gewinnen im Nahen Osten. Der Krieg hat ja auch in Nordafrika stattgefunden. Die Kolonialmächte Frankreich und England im Nahen Osten, das waren die beiden Gegner des Nationalsozialismus auch in Europa. Das heißt, was dort stattfindet, ist ein Teil dieses Konfliktes auch im Nahen Osten und auch der Versuch des Nationalsozialismus, propagandistisch Einfluss darauf zu nehmen. Nur die Studien zeigen doch sehr deutlich, dass das nur begrenzt gelungen ist. Man muss, glaube ich, auch da sagen, dass erhebliche Teile der dortigen Bevölkerung, und zwar deutlich größere, auf Seiten der westlichen Demokratien gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben und nicht umgedreht.
WEMBER: Tatsächlich?
HOLZ: Ja, tatsächlich auch die Zahl der Toten zum Beispiel. am Krieg Beteiligten, der Soldaten und Soldatinnen auf Seiten der Alliierten gegen den Nationalsozialismus, sind die Muslime weit, weit überrepräsentiert. Wir denken immer nur an diese eine SS-Brigade aus bosniakischen Muslimen mit dem Mufti aus Jerusalem als Kopf. Das waren, wenn ich das richtig im Kopf habe, etwa 25.000 Männer, die da für die SS gekämpft haben. Da sind auf Seiten der Alliierten ganz andere Zahlen. Bekannt ist zum Beispiel, um ein Beispiel festzumachen, der Soldat, der auf dem Brandenburger Tor die rote Fahne hisst bei der Eroberung Berlins. Das war ein Muslim.
WEMBER: Tatsächlich?
HOLZ: Das Bild hinterher ist allerdings gefälscht. Das ist hinterher, zwei, drei Tage später, noch mal nachgespielt worden mit anderen Soldaten, um es filmisch aufzeichnen zu können. Der, der das tatsächlich gemacht hat, war ein sowjetischer Muslim.
WEMBER: Im Jahr 2005 entstand die BDS: Boykott, Divestment and Sanctions, auf Deutsch: Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen. Das ist eigentlich eine Organisation oder ein Zusammenschluss, die als Ziel vorgibt, mit friedlichen Mitteln den Staat Israel zu bekämpfen. Halt durch Boykott. Die Menschenrechte werden auch zitiert. Ist das nicht ein legitimer Zusammenschluss, um politische Interessen, in diesem Fall der Palästinenser, zu artikulieren und durchzusetzen?
HOLZ: Grundsätzlich sind Boykottmaßnahmen eine zivilgesellschaftliche Möglichkeit und prinzipiell auch völlig legitime Mittel, um dieses oder jenes zu erreichen. Insofern kann man nicht sagen, dass die Boykottaufrufe als solche ein Problem sind. In diesem Fall liegt der Fall aber anders. Bei BDS liegt der Fall grundsätzlich anders. Das wird 2005 von einer Gruppe, von einem Zusammenschluss von 15 palästinensischen sogenannten zivilgesellschaftlichen Organisationen, in die Welt gerufen. Zu diesen vermeintlich zivilgesellschaftlichen Organisationen gehört unter anderem die Hamas, der Dschihad und die PFLP, also genau die Organisationen, die seit Jahrzehnten mit terroristischen Mitteln gegen Israel und gegen die israelische Zivilbevölkerung vorgehen. Also, von zivilgesellschaftlichen Organisationen kann da einfach nicht die Rede sein. Die haben, ich sage es jetzt mal so salopp, Kreide gefressen. Mit Menschenrechts- und solchen Dingen zu kommen, als wäre jetzt die Hamas eine Menschenrechtsorganisation, das ist natürlich alles Vorwand. Die reagieren 2005 darauf, dass auch die zweite, ja sehr gewaltförmig verlaufende, Intifada verloren gegangen ist. Das heißt Intifada eins, Intifada zwei, vorher die Kriege. Letztlich hat alles nicht geklappt, und darauf reagieren die politischen Strategen dieser Organisation mit dem Versuch, eine internationale Solidaritätsbewegung gegen Israel vom Zaun zu brechen.
WEMBER: Bitte nur mal kurz. Intifada ist was?
HOLZ: Intifada war ursprünglich der Aufstand, eher jetzt ein zivilgesellschaftlicher Aufstand von sehr, sehr vielen Palästinensern und Palästinenserinnen in den 90er Jahren gegen die elendigen Lebensverhältnisse in den besetzten Gebieten, in den Lagern usw.
WEMBER: Und daraufhin entsteht dann eine neue Bewegung.
HOLZ: Darauf entsteht eine Intifada zwei, die im Unterschied zur ersten. Die erste war relativ gewaltarm. Die zweite ist dann sehr gewaltförmig. Was dann mit Selbstmordattentaten gegen israelische Zivilisten, also dass sich Selbstmordattentäter, Attentäterinnen in Bussen Israels in die Luft sprengen oder dergleichen an Tankstellen in die Luft sprengen. Das ist für eine Intifada zwei typisch. Auch das geht schief. Auch das führt zu keiner Verbesserung der Situation. Und darauf reagiert man mit einem internationalen Boykott-Aufruf, der wiederum als Vorbild den internationalen Boykott gegen das Apartheidregime in Südafrika hat. Das ist das große Vorbild, das ja sehr erfolgreich war. Zunehmend wird Südafrika von Kirchen, Gewerkschaften, allen möglichen Organisationen bis hin zur Olympiade boykottiert und sozusagen als Paria-Staat marginalisiert. Und genau an diesem Vorbild orientiert sich die BDS-Bewegung bis in die sprachlichen Formulierungen ins Einzelne hinein. Im Versuch also, jetzt wieder so eine breite Solidarisierung zu erreichen im Wissenschaftsbereich, im Kunstbereich, in den Kirchen, Gewerkschaften. Nur wenn man hinguckt, wer das ist, verbietet sich meines Erachtens, das so zu glauben, was da ist. Also sich mit BDS zu solidarisieren, heißt eben auch, sich mit Gruppen wie der Hamas zu solidarisieren.
WEMBER: Und BDS ist sehr linksorientiert. Kann man das sagen?
HOLZ: Nein, ich würde sagen, es wird eher in den westlichen Staaten wird der eher von Linken akzeptiert und unterstützt, hat relativ viel Rückhalt im künstlerischen Bereich. Hie und da auch mal im Wissenschaftsbereich, aber eher im künstlerischen Bereich. Ich würde das eher diffus links nennen. Es gibt auch kirchliche Bereiche, die damit sympathisieren. Aber es gibt auch sehr starke Gegenstimmen, die ähnlich argumentieren, wie ich gerade argumentiere. Man muss ja noch mal klar machen: Man unterstützt damit Organisationen, die definitiv frauenfeindlich, schwulenfeindlich sind, die islamistisch sind, die mit Menschenrechten überhaupt nichts am Hut haben. Man kann sich ja mal angucken, wie die Hamas-Regierung war, die haben ja da regiert. Also das zu verkaufen als emanzipatorisch, ist absurd. Und umgedreht ist es auch meines Erachtens absurd, pauschal Israel boykottieren zu wollen, insbesondere gerade im Kunst-, Bildungs- und Wissenschaftsbereich. Da findet der Boykott am ehesten Rückhalt. Damit werden insbesondere auch eher linke und liberale und kritische Leute boykottiert. Ich kann ja nicht jede Künstlerin Israels für die Regierungspolitik ihres Landes verantwortlich machen.
WEMBER: Judith Butler ist eine amerikanische Philosophin, und sie hat die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah 2006 als progressiven Teil der globalen Linken bezeichnet.
HOLZ: Das war einerseits ein übler Irrtum. Allerdings, das muss man sagen, sie hat es dann zurückgenommen, sie hat es zurückgenommen. Aber der Irrtum war leider nicht ganz zufällig bei ihr. Es war nicht einfach ein Versprecher oder ein Irrtum, sondern sie hat das leider mit Gründen gesagt. Und das ist eher der Punkt, den ich an ihr kritisieren würde. Bei Butler gibt es eine Tendenz, alles, was als antirassistisch und antikolonial betrachtet werden kann, auch für gut zu halten. Und dann hat man genau dieses Problem von vorhin. Das dichotome Schwarz-Weiß, Gut und Böse, ist sehr einseitig. Auf der einen Seite die bösen Mächte, eben auch Israel. Und alles, was sich dagegen wehrt, auch als nationaler Widerstand erscheint, erscheint dann als gut. Und das halte ich für das eigentliche Problem. Anders gesagt: mit solchen einfachen Schemata von Gut und Böse wird man diesem Konflikt nicht gerecht. In dem Fall ist die israelische Regierungspolitik wirklich kritik- und verurteilungswert. Aber das ist kein Argument, sich in irgendeiner Weise mit Organisationen wie der Hamas zu solidarisieren.
WEMBER: Zum 7. Oktober 2023, dem Terrorangriff der Hamas auf Israel, auch noch ein Zitat von Judith Butler „Der Aufstand vom 7. Oktober war ein Akt des bewaffneten Widerstands. Es ist kein terroristischer Angriff, und es ist keine antisemitische Attacke.“
HOLZ: Ja, da kann ich ihr nur frontal widersprechen. Es ist eigentlich skandalös, dass sie solche, solche Sachen jetzt wieder von sich gibt. Sie war zwischendurch mal etwas reflektierter, fand ich. Nein, es war ein antisemitischer Terrorakt. Was denn sonst? Er war demonstrativ darauf ausgerichtet, möglichst viele Juden und Jüdinnen zu töten und das eben auch in einer klaren propagandistischen Absicht. Deswegen diese unendlich vielen Videomitschnitte. Täterbilder, die überall im Netz jetzt kursieren. Angeblich gibt es 60.000 Videomitschnitte von Täterbildern. Das heißt, die Hamas macht das alles absichtlich, zelebriert das und hat überdies ja auch sehr zelebriert, dass sie ihre Verachtung und ihren Vernichtungswunsch gegenüber Juden und Jüdinnen auch dadurch ganz typisch ausdrückt, indem sie mit massiver sexistischer Gewalt gegen Frauen vorgegangen ist. Wer sich das ansieht, wird sehr ekelhafte, Frauen vergewaltigende, verneinende Bilder finden, das wird sehr demonstriert. Das demonstriert einen Hass auf Juden und Jüdinnen, die ich als Vernichtungsabsicht nur verstehen kann.
WEMBER: Was hat die Hamas damit als Ziel gehabt, mit dieser Attacke?
HOLZ: Auch das scheint mir offensichtlich. Und deswegen ist es wirklich komisch, dass so schlaue Leute wie Butler darauf nicht kommen. Der Hamas war natürlich völlig klar, dass wenn sie irgend so etwas macht, selbst wenn sie nur 10 Prozent der Toten produziert hätte oder 10 Prozent der Geiseln. Dass die israelische Regierung darauf sehr, sehr, sehr massiv reagieren wird, war völlig klar. Und genau das war der Plan der Hamas. Israel sollte provoziert werden zu einem derart harten militärischen Vorgehen, um dann wiederum die internationale Öffentlichkeit gegen Israel zu bekommen. Dieser Plan ist wunderbar aufgegangen. Wir haben überall jetzt eine Stimmung gegen Israel. Angesichts des wirklich übermäßigen und brutalen Vorgehens und des Leidens der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, im Westjordanland. Das ist wirklich verurteilenswert. Und genau das aber war der Plan der Hamas, das heißt, eine internationale Solidarisierung gegen Israel zu erreichen. Den Vorwurf des Genozids, den Vorwurf der Kriegsverbrechen, der Menschenrechtsverbrechen zu provozieren. Und die Hamas weiß ganz genau, dass sie nicht militärisch gegen Israel gewinnen wird. Sie wird nur gewinnen gegen Israel, wenn Israel die internationale Unterstützung verliert.
WEMBER: Das war der Plan, der offenbar aufgegangen ist. Aber das hätten die Israelis ja auch nicht machen müssen. Sie sind ja trotzdem verantwortlich für ihre eigene Politik. Und Amnesty International spricht neuerdings von einem Genozid, relativ unverdächtige Organisation. UN-Organisationen, andere, gehen in dieselbe Richtung. Wir rechnen inzwischen mit weit über 100.000 Opfern, vor allem Frauen und Kindern, die verletzt oder getötet worden sind. Das alles muss man ja auch sehen. Man kann ja jetzt nicht sagen, dass es die Hamas gewesen ist. Verantwortlich dafür ist doch auch die israelische Regierung, für ihre Politik.
HOLZ: Definitiv. Die derzeitige israelische Regierung verdient nun wahrlich sehr massive Kritik. Sie ist leider auf diesen Plan der Hamas eingestiegen. Sie scheint im Moment ja auch nur noch eine Strategie zu kennen, nämlich die der Gewalt, Gewalt. Gewalt als Perspektive, um sich zu schützen. Bekanntlich ist ja auch zumindest ein erheblicher Teil der israelischen Regierung als rechtsextrem zu bezeichnen. Umgedreht muss man auch wieder sagen: Das ist alles Kalkül auch der Hamas. Das heißt, die Hamas nimmt auch die eigene Bevölkerung. Die 100.000 Verletzten und Toten oder wie viele es immer sein mögen, gehen insofern nicht alleine auf die israelische Regierung, sondern auf diesen Machtkampf zwischen denen, wo die Menschen dazwischen zerrieben werden. Aber das war das Kalkül. Und es ist extrem bedauerlich, dass die israelische Politik inzwischen so rechtslastig ist, dass keine Perspektive mehr besteht, wie irgendeine politische Lösung herbeigeführt werden könnte. Das heißt, es ist im Moment schwierig. Angesichts der israelischen Politik, muss man sagen, muss man die massiv kritisieren. Allerdings noch mal, ohne in dieses entweder oder zu verfallen. Die Kritik an der israelischen Regierung ist keine Sympathie-Erklärung für die Hamas.
WEMBER: Umgekehrt gilt ja auch, dass der Terroranschlag vom 7. Oktober auch eine Vorgeschichte hatte. Der Konflikt fing nicht an dem Tag an, sondern es ist ja fast wie sich aufschaukelnde Parteien, die immer radikaler werden.
HOLZ: Ja, aber das gilt im Grunde immer. Den Konflikt können Sie zurückverfolgen über ziemlich genau 100 Jahre. Deswegen ist völlig klar: Es wird in diesen Gewaltlogiken, Gewaltdynamiken immer so weitergehen. Es wird einfach immer so weitergehen. Das heißt, die einzige prinzipielle Alternative ist, diesen Prozess zu stoppen. Wir sind längst raus aus einer Situation, wo man noch sagen kann, das ist legitime Gegengewalt oder sowas, sondern immer weitere Schleifen, wie Sie sagen, die da gedreht werden. Das muss gestoppt werden.
WEMBER: Im Schatten dieses Krieges im Gazastreifen passiert auch einiges im Westjordanland. Dass es dort Übergriffe gibt, Dörfer annektiert werden, Menschen vertrieben werden. Das ist auch ein rechtsextremes Problem in der israelischen Regierung, dass sie die Leute nicht mehr in Zaum halten kann.
HOLZ: Im Zaum halten kann oder aktiv unterstützt. Teile der israelischen Regierung werden ja auch von den Siedlern entsprechend gewählt und unterstützt. Man spricht von Hunderten von Toten inzwischen, die dort, die das israelische Militär, die israelische Polizei duldet und die von Siedlern ausgeübt wird. Das ist sehr einfach, was da passiert. Die nutzen einfach die jetzige Situation aus, um immer weiter Boden gut zu machen, immer mehr Palästinenser und Palästinenserinnen zu vertreiben. Die Lebensbedingungen für die Menschen dort sind inzwischen unerträglich.
WEMBER: Und jedes neue besetzte Dorf macht auch eine Zweistaatenlösung unwahrscheinlicher und unmöglicher.
HOLZ: Man müsste ja diesen Prozess irgendwie zurückdrehen, das heißt, die Siedler müssten weg, damit wenigstens einigermaßen so was wie ein Gebiet zustande kommt, das man dann als palästinensischen Staat begreifen könnte. Inzwischen aber ist das derartig zersiedelt, durchmischt und auch mit so viel Gewalt natürlich behaftet, dass man eigentlich nicht sieht, wie dieser Prozess rückgängig gemacht werden kann. Da findet eine schleichende Annexion statt.
WEMBER: Haben Sie irgendeine Idee, wie eine linke Lösung aussehen könnte? Ein linker Weg hin zu Frieden im Nahen Osten?
HOLZ: Also im Moment nicht. Man muss sagen, dass die linken Lösungen, die in den 70er, 80er Jahre sehr wohl greifbar nahe schienen, das muss man noch mal deutlich sagen, die waren greifbar nahe.
WEMBER: Sie meinen den Oslo-Prozess? Zweistaatenlösung.
HOLZ: Genau das meine ich. Zu einer Zeit als es vorstellbar war, dass eine klare Mehrheit in der israelischen Bevölkerung das wirklich akzeptiert hätte und gewollt hat. Davon sind wir jetzt himmelweit weg. Das heißt, ich kann mir im Moment keine solche Lösung vorstellen, weil es nicht im Ansatz eine Mehrheit in Israel gibt, die das akzeptieren würde. Deshalb kann ich im Moment keinen Vorschlag sagen, wie das gelöst werden kann. Das ist das Erste, was passieren müsste, die aktuelle Gewaltdynamik zunächst mal zu stoppen. Aber ich bin außerordentlich skeptisch über das, was da im Moment passiert. Das ist vor Jahrzehnten schon gesagt worden, dass diese Dynamik tatsächlich von Jahr zu Jahr mehr zu einer Zerrüttung Israels führt. Das heißt, das Problem dieser ganzen Geschichte ist nicht einfach nur, dass Israel militärisch verlieren könnte. Das sehe ich weniger als Problem, sondern dass ein Land, das permanent im Kriegszustand ist, permanent unter Terrorismusbedrohung steht, das permanent seine komplette Jugend in die eine oder andere Form von Krieg schicken muss. Dass das innenpolitisch für ein Gemeinwesen, für die Gesellschaft massive Folgen hat. Und genau da stecken wir im Moment drin.
WEMBER: Herr Holz, vielen Dank.
HOLZ: Sehr gerne.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus
Folge 9: Linker Antisemitismus
Heiner Wember im Gespräch mit Klaus Holz
Gefördert vom Bundesministerium des Innern und für Heimat.
WEMBER: Wenn Sie sich mit dem Thema der gerade gehörten historycast-Folge weiter beschäftigen wollen, haben wir noch zwei Tipps für Sie. Im Podcast "Gefangen im Netz. Gute Ideen gegen extreme Ansichten" beschreibt ein junger Mann, auf welche Reaktionen er als Jude in Deutschland stößt. Ergänzt mit einem Expertinnengespräch zu Antisemitismus. Oder hören Sie doch mal beim WDR-Zeitzeichen rein. Dort finden Sie eine Reihe von spannenden Sendungen zu ähnlichen Themen. Die Links zu beiden Podcasts haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt.
Neuer Kommentar