Antijudaismus im Christentum
Shownotes
Der moderne Antisemitismus ist undenkbar ohne die 2000jährige Geschichte christlicher Judenfeindschaft. Allerdings, so Hubert Wolf, gab es Hass und Hetze gegen Juden schon lange, bevor es das Christentum gab, schon bei den Ägyptern, den Persern und Griechen. Ein spezifisch christlicher Antijudaismus entstand aus den frühen, noch innerjüdischen Auseinandersetzungen um die neue Lehre des Juden Jesus von Nazareth. Damals kamen bis heute bekannte Topoi und Stereotype auf, allen voran der Vorwurf des Gottesmordes. Wolf beleuchtet Ursprünge und skizziert Motive des Antijudaismus von den Kirchenvätern bis ins 20. Jahrhundert, in theologischen Diskussionen und in der Volksfrömmigkeit. Der katholische Theologe und Kenner der Vatikanischen Archive stellt im Podcast außerdem sein großes Projekt an der Universität Münster vor: #askingthepopeforhelp. Wolf und sein MitarbeiterInnen-Team haben in Rom rund 10.000 bislang unbekannte Bittschriften jüdischer Verfolgter an Pius XII., den Papst in der Zeit der Schoah, entdeckt. Diese Briefe, oftmals das letzte Lebenszeichen von Holocaustopfern, werden nun transkribiert und im Internet zugänglich gemacht. Außerdem soll versucht werden, Schicksal und Lebensgeschichte jedes und jeder einzelnen Verfolgten und/oder Ermordeten aufzuklären.
Hubert Wolf ist Leibniz-Preisträger, römisch-katholischer Priester und einer der renommiertesten Kirchenhistoriker Deutschlands. Er lehrt an der Universität Münster. Wolf ist u. a. bekannt für seine Forschung in und zu den vatikanischen Archiven, zu denen er schon seit Jahrzehnten Zugang hat. Seine mal abenteuerlichen, mal wirklich spektakulären Entdeckungen in den Vatikanischen Archiven hat er in zahlreichen, auch für Laien sehr spannenden Büchern veröffentlicht, etwa in „Die Nonnen von Sankt Ambrosius“ oder in „Krypta. Verborgene Traditionen der Kirchengeschichte!“.
Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.
Die didaktischen Materialien finden Sie hier: [https://historycast.de/]
askingthepopeforhelp: Projektseite der Universität Münster: [https://www.uni-muenster.de/FB2/aph/index.html]
Links zum WDR-ZeitZeichen mit ähnlichen Themen: Vatikan-Krimi: Die Weihnachtsansprache des Papstes 1942: [https://www1.wdr.de/mediathek/audio/zeitzeichen/audio-vatikan-krimi-die-weihnachtsansprache-des-papstes--100.html]
"Der Stellvertreter" von Rolf Hochhuth, Uraufführung: [https://www1.wdr.de/mediathek/audio/zeitzeichen/audio-der-stellvertreter-von-rolf-hochhuth-urauffuehrung-am--100.html]
Erklärung "Nostra Aetate": [https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/vatikanisches-konzil-dialog-104.html]
Staffel 3, Folge 8 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat.
Transkript anzeigen
TEASER (O-Ton Wolf):
WOLF: Der wichtigste Topos, der sich im Grunde genommen von den Vätern durchzieht, ist der Topos des Gottesmordes. Die Juden haben Christus umgebracht. Und da Christus Gottes Sohn ist, haben sie Gott ermordet.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus
Folge 8: Antijudaismus im Christentum
Almut Finck im Gespräch mit Hubert Wolf
FINCK: Ein Kirchenvater im vierten Jahrhundert, er hieß Chrysostomos, der beschimpfte und beleidigte Juden als Christusmörder, als blutrünstige Hunde und geile Hengste, Schweine und Böcke. Im Mittelalter war die sogenannte Judensau ein zentrales Motiv christlicher Kunst, auch in Kirchen, zur Dämonisierung und Entmenschlichung von Juden. Papst Paul IV. ließ 1555 die Juden Roms in ein Ghetto sperren, knapp 400 Jahre später tat Papst Pius XII. nichts, um die Deportation der römischen Juden durch die Gestapo zu verhindern. Dann aber, 1965, verabschiedete die katholische Kirche „Nostra Aetate“. Der Titel leitet sich wie üblich bei solchen Dokumenten von den Anfangsworten ab, das heißt übersetzt: in unserer Zeit. Die Erklärung wurde damals weltweit gefeiert, als ein radikaler Wendepunkt in der Beziehung der katholischen Kirche zu Juden. Herr Wolf, was sind denn die zentralen Aussagen des Dokuments?
WOLF: Dieses Dokument, auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedet, ist eines der umstrittensten Dokumente dieses Konzils gewesen. In der Vorbereitung des Konzils kam das Thema Juden so gut wie gar nicht vor. Dann hat aber Johannes XXIII., der ja als Delegat in Istanbul war, während des Zweiten Weltkriegs, und dort zahlreichen Juden geholfen hat, vor der Verfolgung der Nationalsozialisten zu fliehen, hat aber Johannes XXIII. gewünscht, dass man sich mit dem Thema Juden doch unbedingt auseinandersetzen müsse. Der Wunsch des Papstes kann natürlich auch von einer konservativen Mehrheit eines Konzils nicht ganz ignoriert werden. Deshalb wurde zuerst überlegt, ja, jetzt machen wir endlich mal eine sogenannte Judenkonstitution. Und jetzt passiert eins: Zu dieser Judenkonstitution kommt es nicht, und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Die Muslime und andere Religionen sagen, ja, jetzt machen die eine Konstitution für die Juden – aber wir kommen nicht vor! Die Rechten sagen, naja, wir wollen jetzt uns aber doch bitte nicht so grundlegend mit dem Thema Judentum auseinandersetzen. Und dann kommt so ein Kompromiss raus, das ist „Nostra Aetate“. „Nostra Aetate“ ist so eine Erklärung, naja, die Kirche positioniert sich jetzt mal generell zu den anderen Religionen und erkennt irgendwie in den unterschiedlichen Religionen auch was Positives. Und dann sagt man auch etwas über die Juden. Und da muss man auf jedes Wort achten. Da steht „deplorat“. Sie „beklagt“. Das ist ein Konjunktiv der Zurückhaltung. Wir „beklagen“ all diese Dinge, die mit dem Antisemitismus zusammenhängen. Wir verurteilen es aber nicht, sondern wir beklagen es. Mehr steht da erst mal nicht. Jetzt kann man natürlich sagen, ja, gut, dass sich die Kirche einmal auf dem Konzil in der Weise, aufgrund des gemeinsamen Erbes immerhin, das uns Christen mit den Juden verbindet, dass sie diese Exzesse und die Verfolgungssituation der Juden beklagt. Das ist ja schon mal was. Aber so‘n richtig fundamentaler Wandel ist das nicht.
FINCK: Ich würde Sie jetzt erst gerne mal vorstellen. Hubert Wolf ist Leibniz-Preisträger, ist römisch-katholischer Priester und einer der renommiertesten Kirchenhistoriker Deutschlands. Er lehrt an der Universität Münster. Wolf ist bekannt, unter anderem, für seine Forschung in und zu den vatikanischen Archiven, zu denen er schon seit Jahrzehnten Zugang hat. Seine mal abenteuerlichen, mal wirklich spektakulären Entdeckungen in den Vatikanischen Archiven –ich habe Sie mal, Herr Wolf, als „Trüffelschwein“ der Kirchengeschichte bezeichnet …
WOLF: Vielen Dank!
FINCK: Diese Entdeckungen hat er in zahlreichen, auch für Laien sehr spannenden Büchern veröffentlicht, etwa in „Die Nonnen von Sankt Ambrosius“ oder in „Krypta. Verborgene Traditionen der Kirchengeschichte!“. Herr Wolf, zurück zu „Nostra Aetate“. Ihr Historikerkollege hier in Münster, Olaf Blaschke, bestreitet, dass die katholische Kirche mit dem Dokument ihren jahrhundertalten Anti-Judaismus überwunden hat. Er spricht sogar von einem endogenen Antisemitismus der der katholischen Kirche innewohnt. Stimmen Sie ihm zu?
WOLF: Also ich stimme ihm so pauschal nicht zu. Es gibt ganz viele Menschen, die nach den schrecklichen Erfahrungen des Holocaust gelernt haben, dass ein grundlegend anderer Umgang mit den Juden notwendig ist, und der wird auch praktiziert. Ich kenne ganz viele Gläubige, auch viele Bischöfe, die immer wieder diesen wunderbaren Satz, den Edith Stein 1933 Pius XI. geschrieben hat, zitieren. „Ist nicht unser Erlöser Jesus Christus seiner menschlichen Natur nach ein Jude? Ist nicht die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter Maria eine Jüdin? Sind nicht alle Apostel Juden gewesen?“ Also, ganz viele sind nach „Nostra Aetate“ überzeugt: Es kann Judentum geben ohne Katholizismus, aber es kann keinen Katholizismus geben ohne Judentum. Aber wir müssen jetzt historisch – was Blaschke eigentlich meint, und da hat er recht, im 19. Jahrhundert kann man tatsächlich in bestimmten Bereichen von einem endogenen katholischen Antisemitismus sprechen. Wir müssen uns jetzt vorstellen, die Französische Revolution ist vorbei. Jetzt haben wir Judenbefreiung. Jetzt entwickelt sich sowas wie Neuzeit. Und jetzt sind viele Katholiken auf der Seite der Verlierer. Sie sind also nicht die, die die Fabriken machen. Sie sind nicht die, die in der Wissenschaft präsent sind. Sie sind auf der Seite der Verlierer. Und da gibt es jetzt so etwas, was Blaschke in seiner Dissertation zeigt: Wenn du richtig gut katholisch bist, dann weißt du auch, wer an allem schuld ist, warum es uns so schlecht geht. Es sind die Juden. Da passiert ein neuer Antisemitismus, der heißt, gut katholisch sein heißt irgendwie antisemitisch sein.
FINCK: Nochmal, „Nostra Aetate“, 1965. Die sehr umstrittene, so genannte Karfreitagsfürbitte, eine Fürbitte in der katholischen Karfreitagsliturgie, die wurde nicht geändert damals. Warum nicht?
WOLF: „Nostra Aetate“ hat ja dies, ich habe ja es zitiert: Die Kirche „weist das zurück“, diesen Antisemitismus, „beklagt“ ihn. Da steht aber nicht drin, dass das bedeutet, dass man jetzt die eigene Liturgie ändert. Das steht nicht drin, sondern im Zuge der Arbeiten an dem neuen Messbuch Pauls des Sechsten, das dann 1970 auf Latein und 1975 auf Deutsch erscheint. In dem Zuge ist etwas ganz Massives passiert.
FINCK: Erzählen Sie mal, zitieren Sie doch mal die alte Form vielleicht und dann die Änderung.
WOLF: Die alte Form heißt: „Lasst uns auch beten für die treulosen Juden.“ Da steht lateinisch „perfides“, perfiden Juden. Dass Gott der Herr den Schleier der Verblendung von ihrem Herzen wegnehme, auf dass auch sie erkennen unseren Herrn Jesus Christus. Also! Die klassische Karfreitagsfürbitte sagt, die Juden als Juden sind kein Heilsweg. Sie werden nicht in den Himmel kommen, sondern, wenn sie sich nicht zu Christus bekehren, wenn sie also nicht Christen werden, Katholiken, sind sie in der Hölle. Vorbei. Und jetzt – wenn wir das in Erinnerung halten und uns klar machen, wie diese Formulierung in „Nostra Aetate“ war. Die war ja eher so, naja, wir beklagen diese antisemitischen – jetzt heißt die Neuformulierung so: „Lasst uns auch beten für die Juden.“
FINCK: Das „treulos“ ist also verschwunden.
WOLF: Genau, das ist verschwunden, es geht aber noch weiter: „… zu denen Gott unser Herr zuerst gesprochen hat. Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen.“ Also, was wird da gesagt? Die Juden sollen treu bleiben zu seinem Bund, den Gott, der Herr zuerst mit ihnen geschlossen hat. Sie dürfen dem Bund nicht untreu werden, dem Bund mit Moses. Also von einer Bekehrung zum Christentum gar nichts. Jetzt ist das Judentum, anders als in „Nostra Aetate“, eindeutig ein eigener Heilsweg. Von einer Konversion, einer Notwendigkeit, dass sie Christen werden, keine Rede mehr.
FINCK: Und auch nicht von der Ablösung des alten Bundes durch Christen.
WOLF: Nichts, keine Substitution, nicht das eine durchs andere, sondern sie sollen in der Treue zu diesem Bund bleiben.
FINCK: Jetzt kommt 2008 Benedikt, Papst Benedikt. Der hat das zwar nicht alles wieder rückgängig gemacht, aber er hat dann erlaubt, dass man unter bestimmten Bedingungen, in bestimmten Situationen, diese alte, eigentlich 1970/75 aufgehobene Fürbitte wieder bittet. Das hat einen riesigen Sturm der Entrüstung gegeben. Michael Wolffsohn, der Historiker, hat gesagt, das ist der größte Rückschritt im katholisch-jüdischen Verhältnis seit 1945. Warum hat Benedikt das gemacht? War das ein Antisemit?
WOLF: Also ich glaube, ganz ehrlich gesagt, dass es ihm gar nicht um die Karfreitagsfürbitte für die Juden ging, sondern, der Benedikt wollte einfach diese alte Form der Messe, also die tridentinische Messe, wieder in größerem Umfang erlauben. Als er die zugelassen hatte, ist ihm erst hinterher aufgefallen, boah, da steht ja drin: „Lasst uns beten für die treulosen Juden.“ Jetzt hat er versucht, diese Karfreitagsfürbitte noch mal neu zu formulieren, ja? Also, die treulosen sind nicht mehr drin, aber was jetzt kommt, ist trotzdem wieder der Rückschritt. Jetzt heißt es nämlich, in 2008: „Lasst uns beten für die Juden, dass Gott der Herr ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus als Heiland aller Menschen erkennen.“ Und jetzt ist klar, in der einen Liturgie, also in der ordentlichen Form, beten Christen, auch Katholiken auf der ganzen Welt, „bewahre sie in der Treue zu seinem Bund“. Jetzt gibt es gleichzeitig eine Liturgie in der katholischen Kirche, in der ich beten kann: Lasst uns beten für die Juden, damit sie sich zu Christus bekehren. Und das finde ich theologisch eine Katastrophe. Denn was gilt jetzt eigentlich? Insofern ist es, würde ich sagen, nicht irgendein Rückschritt. Es ist eine absolute Verwirrung der Geister. Nur weil man eine alte Liturgie haben will, hat man nicht gecheckt, hat er auch nicht, dass man dann natürlich die alte Karfreitagsfürbitte wieder einführt. Und dann hat er an der rumgedoktert.
Musikakzent
FINCK: Wir haben jetzt viel geredet, 20., beginnendes 21. Jahrhunderts, 19. Jahrhundert. Lassen Sie uns mal ganz weit zurückgehen zu den Wurzeln des Antijudaismus. Der jüdische Schriftsteller, um 75 nach Christus hat er das geschrieben, der jüdische Schriftsteller Flavius Josephus sagt, Zitat: „Angefangen uns zu verleumden haben aber die Ägypter.“ Können Sie uns etwas erzählen über den Antijudaismus schon der Ägypter und der Griechen, also bevor überhaupt das Christentum existierte?
WOLF: Ich glaube, dass dieser Punkt ein ganz, ganz wichtiger Punkt ist. Es gibt lange, bevor es überhaupt Christen gibt, Antisemitismus. Der heißt nicht so. Judenfeindschaft, nennen wir es mal allgemeiner. Also, wir kennen ja alle – wenn wir an Ägypten denken, dann denken wir immer an Exodus-Erzählung. „Der Herr hat das Volk aus der Knechtschaft Ägyptens befreit und herausgeführt in das gelobte Land.“
FINCK: Erklären Sie uns mal ungefähr, in welchem Zeitraum wir uns jetzt befinden.
WOLF: Wir sind jetzt so im vierten Jahrhundert vor Christus. Da gibt’s nämlich eine, wenn Sie das so nennen wollen, eine außerbiblische Exoduserzählung. Also nicht die, die wir in der Bibel haben, sondern wir haben eine außerbiblische Exoduserzählung von Hekateios von Abdera, um 320 vor Christus. Und der beschreibt jetzt den Exodus ganz anders. Der sagt nämlich, naja, da sind irgendwelche komischen Leute bei uns, Juden.
FINCK: Warum sind die komisch?
WOLF: Die sind komisch, weil – die haben komische Praktiken. Die haben zum Beispiel nur einen Gott. Was will man mit einem Gott? Aber sie leben auch komisch. Sie haben solche Reinheitsvorschriften. Bestimmte Sachen essen die nicht. Die werden aber auch keinen von unseren Leuten heiraten, sondern die heiraten immer nur untereinander. Die sind also gar nicht bereit, sich so zu integrieren, würde man neudeutsch sagen. Ich will den mal zitieren: Eine derartige, menschenfeindliche und fremdenhassende Lebensform führte dann zur Vertreibung. Denn das konnte nicht funktionieren. Wir mussten die loswerden, die waren irgendwie komisch. Also das ist so ein Stereotyp. Die Israeliten, die Juden, die sind misanthrop. Die lehnen alles ab, was irgendwie Leben ist. Das ist irgendwie alles komisch.
FINCK: Hat sich ja bis heute gehalten.
WOLF: Das ist einer der Punkte. Sie können natürlich auch ins Alte Testament selber reinschauen. Das glaubt man auch immer nicht. Aber im Alten Testament wird Antisemitismus auch überliefert. Zum Beispiel im Buch Ester. Da sind wir in der Zeit des persischen Königs. Und da versucht ein Hofbeamter, Stimmung zu machen gegen die Frau des Königs, eine Jüdin, Ester: Mein König, da gibt es ein Volk. Verstreut und abgesondert. Und ihre Gesetze sind von denen jedes anderen Volkes in deinem Königreich grundverschieden. Und deshalb befolgen sie deine königlichen Gesetze nicht. Es ist dem König nicht angemessen, das weiter gewähren zu lassen.
FINCK: Diese schon sehr alten Topoi, diese Stereotype – wie setzen die sich dann fort im frühen Christentum?
WOLF: Sie sind mir zu schnell. Wir haben jetzt erstmal festgehalten, Antisemitismus ist keine Erfindung der Christen. Sondern es gibt Judenfeindschaft in griechischen Kontexten, es gibt ihn in ägyptischen Kontexten, es gibt den in persischen Kontexten. Sogar im Alten Testament selber wird es reflektiert. Jetzt darf man natürlich einen ganz entscheidenden Punkt, nämlich das Neue Testament, nicht vergessen. Denn jetzt wird ja gern gesagt, ja, dann haben wir aber doch im Neuen Testament irgendwie alles halbwegs okay, und dann erst, in der Alten Kirche, im Laufe der Zeit, kommt so ein neuer christlicher Antisemitismus auf. Das funktioniert so nicht, weil wir uns ganz klar machen müssen, alle Schriften des Neuen Testaments, so zwischen 40 und 120 nach Christus, plus minus, sind Schriften in einer Phase, wo sich das Christentum als eine jüdische Sekte überlegt, ob es ein Teil des Judentums eigentlich bleiben will, oder ob es sich aus diesem Judentum herauslöst. Ich sage mal ein Beispiel aus dem ersten Thessalonischer Brief, also einem Paulus Brief: „Die Juden missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen. Sie hindern uns daran, den Heiden das Evangelium zu verkünden und ihnen so das Heil zu bringen. Dadurch machen die Juden unablässig das Maß ihrer Sünden voll.“ Das heißt, wir haben in einem Paulusbrief eine sehr massive Kritik der Juden. Das ist im Markusevangelium und dem Lukasevangelium wesentlich schwächer. Das ist bei Matthäus wieder anders. Matthäus hat, weil er für eine judenchristliche Gemeinde schreibt, ein richtiges Problem. Er muss nämlich einerseits sagen, ja, eigentlich sind natürlich die zehn Gebote toll. Aber das, was die Schriftgelehrten und Pharisäer, diese Juden, daraus machen, ist ganz furchtbar. Und deshalb kommt bei Matthäus ja in der Passionsgeschichte diese berühmte Stelle: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder. Die wird ja dann ganz wichtig. Also, die Juden selber sind schuld. Sie haben Jesus umgebracht. Gottesmord. Aber das ist jetzt bei Matthäus erst nur so eine innerjüdische Polemik, die aber dann im Grunde rausgeht.
FINCK: Wann passiert das? Jetzt sagen Sie nicht wieder, ich bin zu schnell. Aber ich möchte natürlich irgendwann wissen, wann hat sich das so durchgesetzt, dass das anerkannt ist?
WOLF: Historisch ist es ein ganz langwieriger Prozess, der sich, ich sage es nochmal, im Neuen Testament in unterschiedlicher Stärke bereits andeutet. Wenn Sie ans Johannesevangelium denken, Johannes 8, 42, da sagt er, die Juden sind Kinder des Teufels. Sie sind Kinder der Finsternis. Das heißt, es ist der Grund gelegt. Und jetzt geht es natürlich weiter. In dem Moment, wo sich dieser Ablösungsprozess des Christentums weiter vollzieht, wo dann im zweiten, dritten Jahrhundert klar wird, das Christentum ist keine jüdische Sekte, sondern ist eine eigene Religion, in dem Moment fangen die Kirchenväter, also das sind die Theologen, die griechisch oder lateinisch reden, in den ersten vier, fünf Jahrhunderten, fangen an und versuchen jetzt, ein theologisches Modell zu entwickeln. Sie sagen, ja, das Alte Testament, also das Jüdische, das ist ein Buch der Verheißung. Diese Verheißung ist mit Jesus Christus erfüllt, im Neuen Testament. Die Juden haben aber die Erfüllung dieser Verheißung abgelehnt. Und weil sie es abgelehnt haben, muss jetzt an die Stelle des alten Gottesvolkes, verstockt, ein neues Gottesvolk treten, das Volk der Christen. Und das wird jetzt immer stärker reflektiert, indem man sagt, naja, klar, Gott braucht ein Volk. Gott schließt einen Bund, er hat jetzt einen neuen Bund geschlossen, und der alte Bund ist durch den neuen Bund abgelöst. Und die sind selber schuld, weil – sie hätten es ja in der Hand gehabt, sie hätten dann nur Jesus als den Messias anerkennen müssen. Und jetzt kann man bei ganz unterschiedlichen Vätern sehen, ich zitiere mal ausgiebiger Johannes Chrysostomus in seinen „Reden gegen die Juden“, 386.
[
FINCK: Die heißen wirklich so? Also die heißen …
WOLF: „Reden gegen die Juden“. Erst mal schreibt er, die Juden sind verstockt, sie sind die Mörder Jesu, sie sind aufsässig gegen Gott. Das sind so die Topoi. Und jetzt zitiere ich ihn. „Wie eine störrische Kuh ist Israel störrisch geworden. Ein ungezähmter Jungstier. Solche vernunftlosen Geschöpfe aber, die sich zur Arbeit nicht eignen, sind geeignet zur Schlachtung. Deswegen sagt auch Christus, doch meine Feinde, die nicht wollten, dass ich ihr König werde, bringt sie her und macht sie vor meinen Augen nieder.“
FINCK: Starker Tobak.
WOLF: Chrysostomus ist, glaube ich, das härteste und die brutalste Aussage, also Jesus wird in den Mund gelegt, sie sind eigentlich nur geeignet als Schlachttiere, bringt sie her, und macht sie vor meinen Augen nieder. Also der Aufruf zum Mord an den Juden.
FINCK: Wie einflussreich waren diese Kirchenväter und die Texte? Waren das zum Teil Predigten, die auch in die einzelnen Gemeinden, die es ja dann gab, getragen wurden? Ist das in die Volksfrömmigkeit dann auch gesickert?
WOLF: Das sind zwei Ebenen. Das eine ist natürlich eine intellektuelle Auseinandersetzung. Das andere ist, kann man sich ja gut vorstellen, wenn ich jetzt in so einem Ablösungsprozess bin, also in einem Bereich, wo es Judenchristen gibt, jetzt musst du dich entscheiden. Bist du ein Christ oder noch ein Jude? Also Judenchristen geht jetzt nicht mehr. Und da spielen diese Predigten eine ganz große Rolle. Jetzt wird mir eingehämmert, du musst dich entscheiden. Willst du wirklich zu denen gehören, die so ein Schlachtvieh sind? Oder hast du dich jetzt wirklich zu Christus bekehrt? Das heißt, das, was da grundgelegt wird in den theologischen Diskursen, geht ganz, ganz, ganz stark in Alltagsgeschichte des Christentums, in die Alltagsgeschichte der Gemeinden.
Musikakzent
FINCK: Welche anderen Topoi haben wir noch, die über die Jahrhunderte auftauchen? Wir haben schon geredet über die Verstocktheit, über das Misanthrope, dass alles immer negativ und schlecht gesehen wird. Das haben wir ja auch in den Bildprogrammen, dass der Gesichtsausdruck von Juden oft schon so miesepetrig ist. Was für andere Topoi haben wir noch, die uns dann im Laufe der Zeit immer wieder begegnen?
WOLF: Der wichtigste Topos, der sich im Grunde genommen von den Vätern durchzieht, ist der Topos des Gottesmordes. Die Juden haben Christus umgebracht. Und da Christus Gottes Sohn ist, haben sie Gott ermordet. Das wird zum ersten Mal von Bischof Melito von Sardes in einer Osterpredigt 170 bereits gesagt. Der Herr ist, so sagt er, der Herr ist geschändet worden. Gott ist ermordet worden. Der König Israels ist beseitigt worden von israelitischer Hand. Das ist ein Topos, den können Sie in den Kreuzzugpredigten des 11. Jahrhunderts finden. Den finden Sie bis hinein in die Neuzeit. Die Juden haben Gott ermordet. Und die Grundfrage, die sich dann immer stellt, ja, waren das nur die damaligen Juden oder gilt der Vorwurf generell? Der wird ganz schnell ganz generell. Das ist das erste. Das zweite ist das Thema des jüdischen Ritualmords. Ganz breit. Also da geht es darum, jüdische Kinder, vor allem Knaben, werden entführt, angeblich, und werden rituell ermordet. Man wirft den Juden vor, weil ja Jesus Christus in der Eucharistie mit Leib und Blut gegenwärtig ist, dass man dann bei den Ritualmorden das Blut entnimmt und dass die dann mit diesem Blut alles Mögliche anstellen. Und das geht dann so bis ins 19. Jahrhundert hinein. Der moderne Antisemitismus, der rassische, nimmt das nochmal auf. Also das ist Blutschande, sexuelle Perversion, Schächttod und solche Geschichten. Das nächste Thema ist Hostienfrevel. Man wirft den Juden vor, dass sie halt geweihte Hostien rauben. Und jetzt ist ja klar, in dem Moment, wo die Transsubstantiationslehre – also, dass Jesus Christus mit Leib und Blut unter Brot und Wein sichtbar, real gegenwärtig ist, also, ich habe die Hostie, die Hostie ist gewandelt, die klaue ich jetzt aus einer Art Tabernakel. Und wenn ich jetzt in eine geweihte Hostie nach dieser natürlich falschen Vorstellung einen Nagel reinsteche, dann blutet die. Und insofern wird den Juden vorgeworfen, sie würden so Hostienfrevel betreiben. Und dann haben Sie ja schon ein paar Themen genannt. Ganz wichtiges Thema ist die sogenannte Judensau. Juden essen kein Schweinefleisch. Jetzt wird aber gerade die Sau, die die Juden von ihren Reinheitsvorschriften ja absolut verabscheuen, verwendet, um nochmal diese ganze Verderbtheit des Judentums darzustellen. Wenn Sie es akademischer wollen und zurückhaltender, dann haben sie natürlich so diese beiden Frauengestalten. Ecclesia, die Kirche, und die Synagoge. Synagoge ist blind. Klar, Juden haben den falschen Weg.
FINCK: Diese Judensau ist bis heute in vielen Kirchen. Finden Sie das richtig? Sollte man die lassen und vielleicht eine erklärende Tafel anbringen, oder sollte man die entfernen?
WOLF: Also ich würde sie jedenfalls nicht entfernen. Für mich ist es eher eine Herausforderung. Das kann mich irritieren. In dem Moment, wo mich was irritiert, denke ich drüber nach. Wenn ich jetzt in eine Kirche reingehe und hätte dort so eine Judensau an der Kirche, würde ich mich damit auseinandersetzen. Ich würde vielleicht als Pfarrer, wenn ich dort wäre, gelegentlich mal mit meinen Leuten dahingehen und sagen, was wir da eigentlich gemacht haben. Wenn ich sie entferne, würde ich ja auch zu meiner Geschichte nicht stehen. Ich muss zu der Geschichte stehen und sagen, ja, wir haben als Katholiken, auch als Protestanten, wir haben als Christen – so haben wir Juden behandelt und diffamiert. Deshalb würde ich es dezidiert nicht entfernen.
FINCK: Stichwort Geschichte. Machen wir wieder einen Sprung. Luther. Ich weiß, Herr Wolf, Sie sind Katholik. Aber wie prägend war Luthers Antisemitismus?
WOLF: Naja, wenn ich als Katholik was über Luther sagen soll, ist natürlich schwierig, weil – ich kehre lieber vor unserer eigenen Tür als vor einer anderen. Aber es ist schon so, dass man natürlich bei Luther jetzt auch nicht einfach so wieder sagen kann, „Luthers Antisemitismus“. Reden wir über den frühen Luther oder reden wir über den späten Luther?
FINCK: Den späten.
WOLF: Ja. Aber man muss erstmal wahrnehmen, dass sich da bei Luther irgendwas entwickelt. Der hat am Anfang, in den frühen Schriften der 1520er Jahre, also wo diese grundlegenden Schriften der Reformation kommen, hat er ja die Hoffnung … da gibt es eine Schrift, die heißt, „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“.
FINCK: Das muss wirklich ein früher Luther gewesen sein.
WOLF: 1523. Die Grundidee: Die Juden werden sich zu der neuen, authentischen Form des Christentums, also zu dem, wofür er steht, bekehren. Und die Juden sind wesentlich harmloser als diese Papisten. Die eigentlichen Feinde sind die Papisten, also die Katholiken. Und jetzt, wenn natürlich die Juden sich bekehren würden zu der neuen Form, das wäre natürlich genial. Also die Idee ist so: Das ist der katholischen Kirche 1500 Jahre nicht gelungen. Aber wir, die wir jetzt zurückgehen zu den eigentlichen Ursprüngen der Schrift, zu der Gnade allein, uns wird es gelingen. Das wäre so für ihn der absolute Höhepunkt gewesen. Und genau das funktioniert nicht. Und ab den ausgehenden 20er Jahren, bis dann in die 40er, wird das bei Luther immer, immer, immer radikaler. Also wenn man die Schrift von 1542 anguckt: „Von den Juden und ihren Lügen“. Da steht im Grunde alles drin, was man sich so vorstellen will.
FINCK: Oder nicht.
WOLF: Oder nicht. Ich sage mal, was er dort konkret vorschlägt. Also was soll man mit denen jetzt machen? Man soll ihre Synagogen zerstören. Man soll all ihre Wohnhäuser niederreißen und sie in Elendsquartiere umsiedeln. Man soll alle ihre heiligen Bücher verbrennen. Talmudverbrennung ist ein ganz wichtiges Thema. Man soll alle jüdischen Gottesdienste bei Todesstrafe verbieten. Man soll alle jüdischen Betriebe enteignen und zerschlagen. Man soll alle Juden ins Osmanische Reich nach Osten deportieren. Und man darf auf gar keinen Fall als Christ einen Juden treffen. Denn man steckt sich an, wenn man einen Juden trifft. Das ist das, was so in Luthers letzten Schriften steht. Und das ist natürlich ziemlich heftig. Es besteht aber kein Grund, dass Katholiken sich jetzt so entspannt zurücklehnen und sagen, naja, man sieht mal wieder, die Protestanten.
FINCK: Luther – gegen die Papisten, sie haben das Stichwort geliefert, die Päpste. Wie ist die Haltung der Päpste zu den Juden gewesen?
WOLF: Man hat in der älteren Forschung immer stark gemacht, die Päpste seien judenfeindlich gewesen, sie hätten im Kreuzzug gegen die Juden aufgerufen und so weiter. Die neuere Forschung kommt da zu einem sehr differenzierten Bild. Das Ganze firmiert unter dem Stichwort „doppelte Schutzherrschaft“. Doppelte Schutzherrschaft heißt, einerseits haben die Päpste es immer als Aufgabe angesehen, die Katholiken vor den Juden zu schützen. Also alles, was getan werden muss, damit es jetzt nicht zu Beeinflussungen kommt, damit der Talmud nicht verbreitet wird. Deshalb wird der Talmud verboten und verbrannt. Alles, was zu Mischehen führen könnte mit Juden. All dieses ist eine Aufgabe der Päpste, die Katholiken müssen lehrmäßig und lebensmäßig ganz klar von den Juden abgegrenzt werden. Und notfalls muss man die Juden auch in die Schranken verweisen. Da sind auch manche Pogrome durchaus mit päpstlicher Unterstützung drin. Auch die entsprechende Inquisition hat so gearbeitet. Aber, jetzt muss man wieder aufpassen, die schlimmsten Verfolger der Juden sind nicht die Päpste, sondern es ist die Spanische Inquisition. Spanische Inquisition ist eine staatliche Behörde. Nach der Reconquista will man einen einheitlichen Staat. Und wenn es da so irgendwie Kryptojuden gibt und Kryptomuslime, dann ist der einheitliche Staat kaputt. Deshalb verfolgt die Spanische Inquisition Juden und Muslime gleichermaßen schlimm. Andersrum haben wir aber, was wir jetzt erst wissen, weil – wir haben ja vorher darauf hingewiesen, das Archiv der Inquisition wurde 1998 geöffnet, ich war schon 1992 drin – da gibt es ganz viele Akten, wo sich Juden an die Päpste wenden, damit die Päpste sie gegen Christen schützen.
FINCK: Und die haben’s auch gemacht.
WOLF: Und die haben es auch gemacht. Natürlich auch wieder theologisch notwendig, weil ja im Römerbrief steht, dass man die Juden eigentlich braucht. Die Juden braucht man als Voraussetzung für die Erlösung. Und deshalb ist es so, ja, ihr müsst ins Ghetto. Aber die christlichen Kaufleute, denen die Häuser im Ghetto gehören, dürfen die Mieten nicht erhöhen. Das heißt, der Papst schützt die Juden, indem er ihnen sagt, wenn das passiert, wendet euch an mich, dann werden die nämlich exkommuniziert. Insofern schützt er den Lebensraum der Juden wirtschaftlich auf jeden Fall. Diese doppelte Schutzherrschaft, also Christen gegen Juden schützen, aber Juden auch gegen die Willkür der Christen schützen, das ist so ein Grundzug, der sich im Mittelalter und noch Frühe Neuzeit durchzieht.
Musikakzent
FINCK: Kommen wir mal zu einem sehr umstrittenen Papst, über den Sie viel gearbeitet haben, nämlich Pius den Zwölften, den Papst zur Zeit des Nationalsozialismus. Er gilt als der Papst, der geschwiegen hat, der nicht oder zumindest nicht deutlich genug, nur ganz verklausuliert protestiert hat gegen den Judenmord. Er ist nicht eingeschritten, als die römischen Juden deportiert wurden durch die Gestapo. Stimmt das? War er der Papst, der geschwiegen hat?
WOLF: Er ist auf jeden Fall nach Rolf Hochhuths „Stellvertreter“, der 1963 erschien, als dieser Papst in die Geschichte eingegangen. Und tatsächlich haben wir keinen öffentlichen Protest gegen den Holocaust, vor allem keine klare Nennung der Täter. Das Einzige, was wir überhaupt haben, ist eine sehr verklausulierte Formulierung in der Weihnachtsansprache von 1942, wo er immerhin sagt, immerhin, unser Gedenken gilt den Hunderttausenden von Menschen, die allein aufgrund ihrer Nation oder Rasse, der Verelendung oder gar dem Tod ausgeliefert sind. Die Täter werden nicht genannt. Deutlicher hat er sich nicht geäußert. Womit hängt das zusammen? Das hängt zusammen mit einem Amtsverständnis, das er ganz konsequent umsetzt. Er sagt, es wird auf allen Seiten der Fronten Katholiken geben. Und wir dürfen auf gar keinen Fall Partei werden. Wir müssen in allen politischen Fragen neutral bleiben. Und er bleibt so neutral, dass er sogar zur Ermordung einer Million katholischer Polen 1940 schweigt. Was die polnischen Bischöfe und polnischen Intellektuellen und Gläubigen überhaupt nicht verstehen. Aber in dem Moment, wo er sich ‘40, also in dem ersten Jahr seines Pontifikats, – ich muss ja wissen, er ist ‘39 gewählt, dann geht der Krieg los, dann kommt das – in dem Moment, wo er sich in der Polenfrage entscheidet, nichts zu sagen, nicht zu protestieren, kann er ’42, als die sogenannte Endlösung der Judenvernichtung beschlossen wird, zu den Juden nichts mehr sagen. Weil – Es hätte niemand verstanden! Jetzt protestiert er bei der Ermordung der Juden, hat aber bei der Ermordung einer Million katholischer Polen zugesehen. Das heißt, er hat sich da selber die Hände gebunden. Das ist äußerst problematisch und schwierig, aber wir sehen halt jetzt durch die im Vatikan seit vier Jahren zugänglichen Quellen, wie abhängig dieser Papst von seinen Mitarbeitern war. Denn er kann die tausenden Informationen, die kommen, nicht alle selber wahrnehmen. Und wir sehen, in der Kurie gibt es Antisemiten, richtige. Und es gibt aber auch Philosemiten. Das heißt, die beiden Gruppen kämpfen miteinander. Und je nachdem, wer jetzt gerade in einem bestimmten Vorgang die Chance hat, seine Info an den Papst zu geben, je nachdem, ist der Papst informiert oder nicht informiert.
FINCK: Dieses Gebot der Neutralität für den Papst, dass er sagt, es gibt überall auf der Welt Katholiken, ich darf nicht Partei ergreifen, was Pius XII wirklich in extenso betrieben hat – machen wir einen Riesensprung. Heute. Papst Franziskus. Nach dem 7. Oktober ‘23 hat er als erstes den Palästinenserpräsidenten angerufen, und er hat sich mehrfach gegen das Vorgehen der Israeli, was man natürlich auch kritisieren kann, im Gaza-Streifen geäußert. Ist das noch neutral?
WOLF: Also ich halte diese Position von Franziskus für völlig inakzeptabel. Weil – vor allem Johannes Paul II., vorher schon Paul VI., aber Johannes Paul II., indem er die jüdische Synagoge besucht und von den älteren Schwestern und Brüdern im Glauben spricht, indem er politische Beziehungen mit dem Staat Israel aufnimmt – der Vatikan hat ja die Gründung des Staates Israel mit allen Mitteln bekämpft, 1948. Es hat ja wahnsinnig lang gedauert, bis man dann politische Beziehungen aufnimmt. Und dann geht der Franziskus her, wie übrigens auch schon im Ukraine-Krieg, und macht das nicht, was der Lehre der katholischen Kirche vom gerechten Krieg hundertprozentig entsprechen würde. Rede vom gerechten Krieg heißt: Du darfst selber keinen Krieg anfangen. Wenn du aber angegriffen wirst und deine eigenen Leute verteidigen musst, darfst du dich verteidigen. Aber, wenn du das machst, zweite Bedingung: Verhältnismäßigkeit ermitteln. So. Hätte er sich neben die älteren Brüder im Glauben gestellt, dann wäre er als allererstes nach Israel geflogen, hätte als allererstes den Herzog getroffen und hätte gesagt, ja, das ist furchtbar, denn zum ersten Mal nach 1945 sind 1500 jüdische Menschen in ihrem eigenen Staat bestialisch ermordet worden, ihr habt ein Recht, euch zu verteidigen. Und die Solidarität der Kirche gilt euch. Aber, es gilt die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Und wenn ihr überzieht, dann werde ich derjenige sein, der euch immer auf die Finger klopft. Ich stehe auf eurer Seite in dem legitimen Interesse der Selbstverteidigung, aber nach unserer Überzeugung: Verhältnismäßigkeit der Mittel. So macht er gar nichts und eiert in einer Weise herum, die wirklich nur peinlich ist. Der Kardinalstaatssekretär muss ständig irgendwelche Erklärungen für irgendwelche Äußerungen dieses Papstes wieder finden. Was hilft da, dass er in Yad Vashem was ganz Vernünftiges gesagt hat, wenn er in seiner konkreten Politik überhaupt keine Sensibilität zeigt, gerade nach „Nostra Aetate“, gerade nach diesem langen Lernprozess der Kirche, nun endlich zu akzeptieren, dass das Judentum die Voraussetzung des Katholizismus ist und dass die Juden die älteren Brüder und Schwestern im Glauben sind und dass die Kirche eine besondere Verantwortung für die Juden hat angesichts ihrer Geschichte und des Versagens in ihrer Geschichte.
Musikakzent
FINCK: Herr Wolf, lassen Sie uns zum Schluss über ein großes Projekt sprechen, an dem Sie seit, wie viel jetzt? Vier Jahren? – Vier Jahre – vier Jahren mit Ihrem Team arbeiten. Ich habe vorhin schon gesagt, Sie sind oft und immer wieder im Archiv gewesen. Sie haben etwas wirklich Sensationelles, kann man ruhig sagen, entdeckt.
WOLF: Als das Archiv geöffnet wurde, haben wir ursprünglich eher gedacht, wir würden jetzt so die großen politischen Fragen beantworten. Also mal zu wissen, wann erfährt er was, von welchem Diplomaten –
FINCK: „Er“ ist jetzt Pius XII?
WOLF: Pius XII. – über Holocaust. Aber er erfährt es eigentlich ganz woanders. Wir haben nämlich rund 10.000 Bitschreiben jüdischer Menschen von 1939 bis 1945, also während der ganzen Kriegszeit, an den Papst gefunden.
FINCK: Sie haben die zufällig entdeckt? Die liegen ja da nicht so rum.
WOLF: Nö, wir sind eigentlich, – also, man muss sich das so vorstellen. Vatikanisches Archiv heißt, es gibt keine so Inventare, digital, wie man sie von deutschen Archiven kennt. Also, wir setzen uns hier an den Schreibtisch, geben ein paar Suchbegriffe ein, dann wirft’s uns etwas aus. Sondern es ist wie Troja Ausgraben. Sie müssen so Gräben ziehen und müssen mal gucken, wie haben die eigentlich bei der Ablage getickt, wer hat was wohin geschoben. Und als wir in Rom waren, haben wir so einen Ausgrabungsplan gehabt. Um einfach an verschiedenen Punkten mal zu gucken, klingelt‘s da? Und nach zwei Tagen sagen alle Mitarbeiter abends beim Wein, äh, haben Sie auch so ein Schreiben von so einer Jüdin oder von so einem Juden an den Papst gehabt? Ich sag, ja, ich hab‘ da in der Serie zwei …, ja, in meiner Serie war da auch was drin. Und plötzlich hatten wir 20 Serien, und in 20 Serien tauchen mehr oder weniger solcher Bittbriefe auf.
FINCK: In unterschiedlichen Sprachen?
WOLF: In allen europäischen Sprachen. Ungarisch, Tschechisch, Deutsch, Italienisch, Französisch, Englisch, Ukrainisch, Russisch, Jiddisch, Hebräisch, alles. In allen Sprachen. Und was das wunderbare ist, das sind Menschen, deren Andenken die Nazis vernichten wollten. Und diese Menschen sind O-Töne. Wir hören diese Menschen, die ihr Leben schildern und ihr Leben dem Papst anvertrauen.
FINCK: Oft das letzte, was sie überhaupt geschrieben haben.
WOLF: Genau. Und das ist natürlich manchmal auch bedrückend. Und das ist oft auch nicht aufs erste möglich, jetzt die Menschen genau zu identifizieren. Das ist auch noch nicht ganz möglich, immer zu sagen, wie geht die Geschichte, das Schicksal eigentlich aus? Wir haben jetzt erst mal nur diesen Brief.
FINCK: Der muss erst mal transkribiert werden.
WOLF: In eine Datenbank. Wir werden in einer Datenbank alle 10.000 Bittbriefe editieren. Das ist der erste Punkt.
FINCK: Wie weit sind Sie? Was für ein Unterfangen ist das?
WOLF: Ja, es ist wie meine Kollegen sagen, ein bisschen verrückt. Wir haben jetzt mal 9482 Bittbriefe identifiziert. Wir suchen weitere. Aber jetzt wollen Sie natürlich wissen, hat der Vatikan geholfen? Hat er nicht geholfen? Das ist der nächste Schritt unseres Projekts.
FINCK: Wie kriegt man das raus?
WOLF: Indem man sich durch die gesamte Entscheidungsfindungsstruktur und das Chaos hindurcharbeitet und sich klarmacht, wenn der Brief da reinkommt, wer bearbeitet ihn? Bearbeitet ihn überhaupt jemand? Gibt es jetzt gleich eine Rundablage? Oder geht es weiter? Welche Institutionen sind zuständig? Welche Wege gibt es überhaupt? Muss der Papst eingeschaltet werden? Muss er nicht eingeschaltet werden? Entscheidet der Kardinalstaatssekretär manchmal oder zwei Stufen weiter unten? Und so weiter. Wir haben schon relativ viele Entscheidungsfindungswege gefunden. Das heißt, der zweite Teil des Projekts wird sein, zu allen 10.000 Fällen die vatikanische Entscheidungsfindung zu rekonstruieren. Und alle Personen, die vorkommen, eindeutig zu identifizieren. Ein Projekt, das 25 Jahre dauern wird. Und wir sind dabei, durch entsprechende Anträge, hoffentlich die Finanzierung dafür zu finden.
FINCK: Sie haben auch schon Inszenierungen dieser Briefe auf der Bühne gehabt, die vorgelesen wurden. Sie sind auch in Schulen schon gegangen. Wie reagiert das Publikum? Wie reagieren gerade junge Menschen auf diese Briefe und auf die Geschichten drum herum?
WOLF: Wir haben ja auf dem Katholikentag in Erfurt mit der Theater AG einer Schule eine Aufführung gemacht und haben gesagt, so, wir geben euch jetzt mal fünf Bittschreiben und die von uns bisher rekonstruierten Geschichten. Und dann haben die sich das angeschaut, und dann gab es viele Zooms mit wahnsinnigen Fragen, hochinteressant. Also die wollten einfach wissen, wie geht das, und was ist der Papst, wer ist der Staatssekretär, und wie muss man sich das in Rom vorstellen. Aber die waren vor allem wahnsinnig angefasst von diesen Bittschreiben und dem, was diese Menschen sagen und schreiben. Und haben dann eine so tolle Inszenierung gemacht, beim Katholikentag, mit einfachsten Mitteln. Also zum Beispiel, was mich tief beeindruckt hat, auch in den Zooms, die haben gesagt, ja, wie können wir jetzt irgendwie entscheiden, ob der Vatikan geholfen hat, und wie bringen wir das eigentlich auf die Bühne? Dann hat einer die Idee und sagt, naja, also erstmal machen wir so einen Stempel drauf, das ist Bearbeitung. Und dann geht so ein Licht an. Grün – helfen, Rot – ablehnen, Gelb – wissen wir noch nicht. Und das war ganz beeindruckend, wenn dann bei so einem Fall so ein Licht an Gelb blinkt. Also richtig toll. Und das war so spitze, dass die das jetzt noch mal im Erfurter Theater, mit 700 Leuten, wieder aufgeführt haben.
FINCK: Haben Sie für uns vielleicht mal einen Brief, aus dem Sie vorlesen können und dann vielleicht auch erzählen, was aus dem Menschen, der Frau oder dem Mann geworden ist?
WOLF: Viele, viele hunderte! Aber ich weiß nicht, welchen ich nehmen soll, soll ich Martin
Wachskerz nehmen, den Sie wahrscheinlich schon kennen?
FINCK: Das kennen ja die Hörer nicht. Ja, sagen Sie mal was zu – Martin Wachskerz.
WOLF: Da muss man jetzt erst mal diesen Brief hören. „20. Dezember 1942“ – der ist auf Deutsch geschrieben – „Toulouse. An Seine Majestät, den Papst, Vatikan. Hochverehrte Hochwürden, bevor ich den letzten Schritt meines jungen Lebens tue, das noch keinen rosigen Tag gesehen hat, wage ich es, Seine Hochwürden um Hilfe zu bitten. Es ist aus höchster Not und Verzweiflung, in der ich mich an Seine Exzellenz wende. Ich bin ein junger Mann von 20 Jahren, Israelit. Meine Wiege stand in Berlin. Dann führte mich mein Weg nach Polen, dann Belgien und dann Frankreich. Ich bin Student der Theologie, Rabbinatskandidat. Habe in letzter Zeit so viel Bitteres durchgemacht, dass ich nicht mehr weiterkann. Ich kann es nicht beschreiben, bin am Ende meiner Kraft. Als letzte Hoffnung machte ich und dann meine Eltern und Bruder ein Gesuch um Zuflucht in der Schweiz. Das Gesuch meiner Eltern wurde abgelehnt. Ich bin ohne Antwort. Mit knapper Mühe und mit Hilfe des Allmächtigen sind wir dem Schlimmsten entronnen und sind nun in der Luft. Ich flehe nun Seine Hohe Majestät an: Hilfe! Bitte intervenieren Seine Majestät bei Schweizer Fremdenpolizei Bern, damit man wenigstens mir eine Zuflucht gewährt, wenn es für meine Eltern und meinen Bruder von 19 Jahren nicht möglich ist. Ein Schöpfer im Himmel weiß, in welcher Gefahr wir sind, jede Minute. Mein Gesuch läuft unter der Nummer 859397GBWM. Ich bitte Seine Hochwürden, doch so schnell wie möglich zu helfen und ein gutes Wort einzulegen. Eure Hochwürden können vier Menschenleben retten. Retten Sie uns! Ich habe gute Referenzen und Zeugnisse meiner Lehrer. Haben Sie Erbarmen! Der Allmächtige wird Eurer Majestät die Tat hoch lohnen. Meinen tiefen heißen Dank im Voraus, verbleibe hochachtungsvoll, Martin Wachskerz.“
FINCK: Was wissen wir über Martin Wachskerz? Was ist aus ihm geworden?
WOLF: Der Vatikan hat unmittelbar reagiert. Der schreibt am 20. Dezember ‘42 aus Toulouse. Das heißt, wir sind in Südfrankreich. Südfrankreich ist nicht von den Deutschen besetzt, sondern in diesem eigenen, von Marschall Pétain geführten Vichy-Regime. Da waren die Juden bis Anfang ‘42 relativ sicher. Dann fängt aber Pétain an, Juden in die Vernichtungslager in den deutschen Osten und nach Polen zu deportieren. Diese Familie hängt jetzt da. Und die einzige Chance nun rauszukommen, ist Schweiz. Der Nuntius in der Schweiz wird unmittelbar an Silvester, also nach wenigen Tagen, vom Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione angewiesen, geh zur Schweizer Fremdenpolizei und red mit denen, damit der Wachskerz und seine Familie ein Visum für die Schweiz kriegen. Bernardini, der Nuntius in Bern, macht das. Und die Antwort ist – nein.
FINCK: Die Antwort der Schweizer?
WOLF: Die Antwort der Schweizer. Die Zahl der Flüchtlinge sei bereits zu hoch. Inzwischen wissen wir, dass Martin, sein Bruder und seine Mutter Czarna überlebt haben. Sie wurden von einer katholischen Familie irgendwie auf dem Land in der Nähe von Toulouse versteckt. Und wir wissen auch, dass sein Vater Chaim bei einer deutschen Razzia festgenommen wurde und in ein Vernichtungslager gebracht, wo er ermordet wurde.
FINCK: Und was wurde aus Martin Wachskerz?
WOLF: Es scheint so zu sein, als ob er nach dem Krieg irgendwo in Amsterdam sich eine Existenz hat aufbauen können. – In dem Fall ist es vielleicht auch wichtig, der Heilige Stuhl versucht unmittelbar zu helfen. Es ist aber eine Bitte, wo er selber nicht helfen kann. Das heißt, wenn die Schweizer das Visum nicht geben, hilft nichts. Und das ist ganz oft bei diesen Bitten. Wenn‘s um Geld geht, wenn es darum geht, wir sind hier und verhungern, dann gibt er halt 500 Lire, das sind so 40 Dollar, damit kann man mal einen Monat leben. Das kann er selber machen. Aber sobald es irgendwie geht, Ausreise, Visum, Einreise, braucht er die Unterstützung von Dritten. Und da ist es ganz unterschiedlich. Manchmal helfen die, manchmal helfen die einfach nicht. Das heißt, der Heilige Stuhl versucht zu helfen, wird aber ausgebremst. Manchmal spricht der Papst selber mit dem englischen Botschafter und sagt, jetzt lass doch diese Leute nach Palästina einreisen, britisches Mandatsgebiet. Sagt der Botschafter Osborne: Ne. Also selbst wenn der Papst bittet, heißt es nicht, dass er sich durchsetzt. Manchmal steht einfach auch nur drauf, NDF, auf so einem Bittbrief. Nichts zu machen, niente da fare. Dann machen sie nichts. Aus ist’s.
FINCK: Warum haben sich die Menschen an den Papst ausgerechnet gewandt?
WOLF: Also erst mal fällt ja auf, dass diese jüdischen Bittschreiben nicht irgendwie in einer bestimmten Phase ankommen und dann nicht mehr. Sondern sie fangen ‘39 an und gehen bis ‘45. Es ist eine Kontinuität. Das muss heißen, in der jüdischen Community spricht sich rum, wenn jetzt gar nichts mehr hilft, dann kannst du dich an den Papst wenden. Der Papst gilt offenbar als jemand, der dann doch im Einzelfall helfen kann und das auch tut.
FINCK: Meine letzte Frage, Herr Wolf. Wir haben angefangen mit „Nostra Aetate“ und haben gesagt, hm, ist doch alles immer noch ein bisschen schwierig. Kennen Sie, abseits Roms, abseits der Kurie, des Vatikans, kennen Sie regionale Initiativen, wo Sie sagen, da passiert im Moment was, da wird etwas getan zur Verbesserung des jüdisch-christlichen Verhältnisses?
WOLF: Ich kenne das auch in Rom. Also die Gruppierung Ricordiamo Insieme, das sind Katholiken und Juden, die sagen, wir müssen uns gemeinsam an den Holocaust erinnern, wir müssen uns an unsere gemeinsame Tradition erinnern, wir müssen als Katholiken unsere Schuld sehen und müssen das andere angucken. Das ist eine ganz starke Sache. Ich bin selber zehn Jahre Mitglied gewesen als theologischer Berater in der Unterkommission der Deutschen Bischofskonferenz „Verhältnis der katholischen Kirche zu den Juden“. Wir sind als Kommission zu einer konkreten jüdischen Gemeinde gefahren, in Frankfurt, in Heidelberg, in Berlin, in irgendwo, also zu Orthodoxen, zu Liberalen, und haben eine ganze große Vielfalt jüdischen Lebens kennengelernt. Und das Wichtigste, glaube ich, ist einfach diese Ebene, man muss kennenlernen, was Judentum überhaupt ist. Das ist manchmal auch verstörend. Vor allem für die Frauen in unserer Kommission war es dann schon verstörend, naja, jetzt würden wir ja gerne einen Synagogengottesdienst machen, aber es sind bloß elf Männer da. Zwar 20 Frauen, aber elf Männer. Wenn es keine zwölf Männer sind, geht’s nicht. Sind die Juden jetzt so? Also gendermäßig so? Das heißt, da gibt es plötzlich so Sachen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Aber – es gibt ganz viele christlich-jüdische Begegnungen, es gibt ganz viele Dinge, wo auch junge Katholiken von Juden viel lernen, und da muss man ganz viel tun. Und wir machen ja diese Bittbriefe auch in Schulen. Das ist sozusagen der Öffner dafür zu sagen, jetzt möchten wir aber noch mehr über Judentum erfahren, also gehen wir hier in die Synagoge. Dann lernt man, wie sieht die Synagoge aus, was ist der siebenarmige Leuchter, was ist der Thoraschrein und so weiter. Genau das muss passieren.
Herr Wolf, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
WOLF: Sehr gerne.
Musik
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus
Folge 8: Antijudaismus im Christentum
Almut Finck im Gespräch mit Hubert Wolf
Gefördert vom Bundesministerium des Innern und für Heimat
FINCK: Wenn Sie sich mit dem Thema der gerade gehörten historycast-Folge noch weiter auseinandersetzen möchten, haben wir zwei (Hör)Tipps für Sie: Im WDR Projekt „Stolpersteine NRW“ finden Sie Standorte und Hintergründe zu den über 17.000 Stolpersteinen in Nordrhein-Westfalen. Mit Texten, Fotos, Audios, Illustrationen und didaktischem Material für den Unterricht. Zusätzlich gibt es auch ein Mitmachangebot für Schulen. Oder: Sie hören mal beim WDR-Zeitzeichen rein. Dort gibt es Sie eine Reihe von spannenden Sendungen zu ähnlichen Themen. Die Links zu den „Stolpersteinen NRW“ und zum Zeitzeichen haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt. Dort finden Sie auch den Link zur Seite des Projekts #askingthepopeforhelp an der Universität Münster, das unser historycast-Gesprächspartner Hubert Wolf leitet.
Neuer Kommentar