Braune Hetze auf arabisch. NS-Radiopropaganda im Nahen Osten
Shownotes
Zwischen 1939 und 1945 sendeten die Nazis über ihren Kurzwellensender judenfeindliche Hasspropaganda in muslimisch geprägte Länder, vor allem im Nahen Osten. So wurde eine antisemitische Ideologie in Regionen exportiert, die es zuvor in dieser Radikalität dort nicht gab. Matthias Küntzel argumentiert, dass durch die sechs Jahre lange und tägliche Bombardierung mit brauner Hetze ein bis heute virulenter Judenhass entstand, wie er sich zuletzt in den Massakern der Hamas am 7. Oktober 2023 entlud.
Matthias Küntzel ist Historiker, Politikwissenschaftler und Publizist und arbeitete als Lehrer an einer Berufsschule. Er forscht seit vielen Jahren über islamischen Antisemitismus. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Rundfunkpropaganda der Nationalsozialisten im islamisch geprägten Raum.
Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.
Die didaktischen Materialien finden Sie hier: [https://historycast.de/]
Staffel 3, Folge 4 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat.
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TEASER: Man neigt oftmals dazu, die Bedeutung von Ideologie für weltpolitische Entwicklungen zu unterschätzen. Und diese Ideologie des Antisemitismus, die vom 25. April 1939 bis zum 24. April 1945 tagtäglich den arabischen Massen eingehämmert worden ist, hat die arabische Welt verändert. Das ist meine feste Überzeugung.
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus
Folge 4: Braune Hetze auf arabisch. NS-Radiopropaganda im Nahen Osten.
Almut Finck im Gespräch mit Matthias Küntzel
FINCK: Adolf Hitlers Mein Kampf darf bei uns nur mit starken Einschränkungen verkauft oder verbreitet werden. In vielen arabischen Ländern ist das aber anders. Dort wird es ganz offen verkauft. Eine Buchhandlung in Katar zum Beispiel stellte Hitlers Hetzschrift vor einigen Jahren sogar mit dem Vermerk „empfehlenswert“ ins Regal. Und im November 2023 sollen israelische Soldaten im Gazastreifen neben der Leiche eines Hamas-Terroristen eine arabische Ausgabe von „Mein Kampf“ gefunden haben, mit Notizen und Unterstreichungen. Warum wundert Sie das nicht, Herr Küntzel?
KÜNTZEL: Wir wissen, dass dieses Bild schon seit Jahrzehnten in der arabischen Welt existiert. Es gab nach 1945, nachdem die furchtbaren Untaten der Nazis, der Holocaust, in der Welt bekannt geworden sind, zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. Der Großteil der Weltbevölkerung hat diese Taten verabscheut und verurteilt. Aber in der arabischen Welt gab es immer einen großen Anteil von Menschen, die die Nazis dafür bewundert haben, dass sie den Holocaust fertiggebracht haben. Und es gibt bis heute islamische Vertreter, oder man sollte vielleicht besser sagen: islamistische Vertreter, die den Holocaust als ein Vorbild hinstellen, das wiederholt werden müsse durch Muslime.
FINCK: Matthias Küntzel, Sie sind Historiker und Politikwissenschaftler, waren lange Jahre auch Pädagoge, Lehrer an einer, richtig?, an einer Berufsschule? – Ja – Und Sie forschen seit vielen Jahren über islamischen Antisemitismus. – Ja. – Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die Propaganda, die Rundfunkpropaganda der Nationalsozialisten in den arabischen Raum. Genauer müsste man wahrscheinlich sagen: den islamisch geprägten Raum, denn der Nazisender Radio Zeesen, der funkte ja auch in den Iran und Irak und auch auf den indischen Subkontinent. Radio Zeesen, habe ich jetzt gerade genannt – was war das?
KÜNTZEL: Ja, das war der Versuch, die Araber zu manipulieren im nationalsozialistischen Sinn, damit sie ebenfalls gegen die Juden kämpfen – damals ging es vor allen Dingen um das Projekt eines kleinen jüdischen Staates in Palästina – damit die Araber mithelfen, diesen kleinen jüdischen Staat, eine sogenannte Zwei-Staaten-Lösung von 1937, zu verhindern.
FINCK: Wir können uns ja zur Verdeutlichung mal die nachgesprochene Szene einer Sendung anhören. Hier ein Ausschnitt aus dem Programm von Radio Zeesen am 18. Dezember 1942, deutsche Übersetzung:
ZITAT, RADIO ZEESEN: „So, wie die Juden zu Lebzeiten des großen Propheten gewesen sind, so sind sie zu allen Zeiten geblieben, intrigantenhaft und voller Hass gegenüber dem Muslim, wo sich ihnen Gelegenheit bietet. Wie gehässig und brutal sie den Muslimen gegenüber eingestellt sind, hat sich unlängst in Palästina, dem Heiligen Lande, in krasser Deutlichkeit gezeigt, das Land, dessen sie sich als Stützpunkt bedienen wollen, um ihre Macht von hier aus in alle benachbarten islamischen Länder auszubreiten.“
FINCK: Es war Radio, ein Kurzwellensender, warum Radio „Zeesen“?
KÜNTZEL: Das waren die besten Richtanlagen, mit die besten der Welt. Die wurden neu ausgebaut wegen der Olympiade in Berlin, 1936. Das heißt, man konnte über diesen Sender – Kurzwelle bedeutet lange Entfernungen – man konnte über diesen Sender im Zentrum Afrikas die Sendungen noch wunderbar gut hören, während man BBC oder amerikanische Sender nicht mehr so gut hören konnte. Das war ein technischer Vorteil, den man da hatte. Und das andere war: Es war ein brutaler Antisemitismus, der von Goebbels gelenkt wurde und der sich Mühe gab, die Herzen der Muslime zu erreichen, indem man als Türöffner den Islam verwandte. Das war das Verrückte damals, dass die Nazis ausgerechnet den Islam versuchten zu instrumentalisieren, um ihre judenfeindliche Botschaft an die Leute zu bringen. Ein Beispiel ist der Botschafter in Teheran, damals Erwin Ettel, der erklärt hatte, auch in Dokumenten für das Auswärtige Amt, dass Mohammed die Juden aus Medina vertrieben habe, und heute würde Hitler die Juden aus Deutschland vertreiben, also gäbe es da eine Interessensübereinstimmung, was die Muslime gefälligst mal berücksichtigen sollten. Also, das war ein Versuch, diesen Türöffner zu nutzen.
FINCK: Bleiben wir noch mal bei den technischen und den ganz praktischen Fragen. Von Zeesen aus, bei Königs Wusterhausen ist das, – ja – wurde gesendet. Die Redaktion war aber in Berlin.
KÜNTZEL: In Berlin, in der Kaiserallee.
FINCK: Und wer hat da mitgearbeitet und gesprochen und geschrieben?
KÜNTZEL: Das waren insgesamt 80 Personen, die für die sogenannte Orientredaktion von Radio Zeesen gearbeitet hatten. Es gab natürlich auch Auslandssendungen auf Englisch, auf Französisch, auf Spanisch usw., aber diese Orientredaktion war die größte und wichtigste in Berlin. 80 Personen, Dolmetscher und andere. Das Ganze lief unter der Federführung des Auswärtigen Amtes, aber in Zusammenarbeit mit dem Propagandaministerium und mit der Obersten Heeresleitung und deren Propagandaapparaten.
FINCK: Hier haben wir mal eine Original-Aufnahme von Radio Zeesen:
O-TON 1, RADIO ZEESEN: „Achtung, Achtung! Hier ist Berlin, Königs Wusterhausen und der
deutsche Kurzwellensender.“
FINCK: Die Nazis hatten sehr genau erkannt, dass das Radio gerade auch im „Orient“, in Anführungsstrichen, ein wichtiges Propagandainstrument sein könnte.
KÜNTZEL: Ja, für die Nazis war generell die mündliche Sprache, die aufputschende Rede, ein zentrales Moment der Propaganda, auch in Deutschland. Und das Radio war in der arabischen Welt besonders notwendig und wichtig, weil eben über 80 % Analphabeten waren. Das heißt, man konnte sie mit Texten nicht erreichen. Aber Radio war eine neue Erfindung, es war eine Sensation, dass man an die Welt angeschlossen wurde über ein Radio, man konnte also in den Kaffeehäusern plötzlich aus anderen Teilen der Welt Dinge erfahren. Von daher war Radio einfach hochattraktiv. Die Manipulationsmöglichkeiten über ein Radio waren dann eben auch entsprechend sehr hoch. Ich vergleiche es heute mit den Influencern der sozialen Medien, die auch wahnsinnige Erfolge haben mit der Manipulation von Menschen. Und so wurde das Radio damals auch eingesetzt. Um Menschen zu manipulieren. Nicht alle Sendungen. Zum Beispiel BBC machte auch einen arabischen Sender auf, der aber trocken war, weil er eben die Fakten berichtet hatte und nicht mit antisemitischem Gedöns jetzt heftig auf die Juden eingeschlagen hatte, sondern sachlich berichtet hatte. Und das haben dann viele Araber den BBC-Leuten übelgenommen und sind abgewandert zu Radio Zeesen. Es gab alle möglichen Versuche der Briten und Amerikaner, Radio Zeesen zu stören, aber das hatte nur einen bedingten Erfolg gehabt.
FINCK: Noch einmal Radio Zeesen im Original, diesmal auf arabisch:
O-TON 2, RADIO ZEESEN (arabisch): Huna Berlin, huna … Allmania …
FINCK: Wichtig war auch noch in der Hörkultur damals, dass gemeinschaftlich gehört wurde. – Ja. – Nicht im stillen Wohnzimmer, sondern, wir haben es gerade schon gesagt, in den Cafés, also wirklich zusammen, so dass man auch hinterher drüber reden konnte.
KÜNTZEL: Ja, das war wirklich ein Wesensmerkmal dieser Radioempfänge, dass der Bürgermeister in seinem Garten einen Steintisch hatte, wo dann ein Radiogerät draufgestellt worden ist, und jeden Abend kam dann die – natürlich nur die Männer des Dorfes, die wichtig schienen, und durften zuhören. Und dann hat man natürlich hinterher drüber diskutiert. Also die Wirkung von diesem Radio, die war enorm. Gerade durch dieses kollektive Hören.
O-TON 3, RADIO ZEESEN, Musik
FINCK: Man hatte auch Musik, arabische?
KÜNTZEL: Ja, man hatte arabische Musik bestellt, die auch wirklich ausgesucht gut war. Man hatte hervorragende Redner, die berühmt waren in der arabischen Welt. Der eine war vorher Rundfunksprecher im Irak gewesen. Yunis Bahri war sein Name, der war legendär. Wenn man seine Stimme hörte, wusste man, man ist im richtigen Sender. Er wurde verglichen, in der Art seiner Ansprache, mit dem Reden von Adolf Hitler, mit dem Brüllen, mit dem entsetzten Tonausdruck, mit dieser ganzen Theatralik, die er da reinlegte. Das war offenbar bei Bahri ganz ähnlich.
FINCK: Dieses Radio, oder die Sendungen, die produziert worden und gefunkt wurden, von Radio Zeesen, die gingen nicht nur in den arabischen Raum, sondern auch auf diesen indischen Subkontinent, ist das richtig?
KÜNTZEL: Ja, es wurde auf Hindi gesendet, auf Türkisch gesendet und auf Arabisch und Persisch. Also auf Farsi. Das war im Iran auch ein wichtiger Punkt. Dieses Radio war dort sehr beliebt. Es war für die Nazis wichtig, weil die 1942 eigentlich Iran nach dem Sieg über Moskau erobern wollten und mit dem Radio vorgearbeitet haben, damit die deutschen Truppen dann da mit offenen Armen empfangen werden. Da gab es – Shahrokh, hieß der Sprecher im Iran. Das war ein ganz bekannter und wichtiger Redner, der sehr populär war in der Bevölkerung, weil er auch manchmal den Schah Reza angegriffen hatte. Der Schah Reza war dann böse auf Radio Zeesen, weil er kritisiert wurde von diesen Shahrokh, so dass die Nazis Shahrokh für eine kurze Zeit zurückziehen mussten, als Sprecher. Dann ist aber Reza im August 1940 gestürzt worden, und sein Sohn kam an die Macht, und sofort wurde dann von Berlin aus der Shahrokh wieder eingesetzt als Sprecher für Radio Zeesen in persischer Sprache. Und wer hat diesen Beschluss unterschrieben? Mit Tinte, ich habe das in den Archiven gesehen. Das war Kurt Georg Kiesinger, der spätere Bundeskanzler Deutschlands.
FINCK: Was hatte der für eine Rolle?
KÜNTZEL: Der war stellvertretender Leiter dieser Auslands-Sendepolitik. Von daher hat er schon eine zentrale Rolle gehabt. Was aber auch kaum bekannt ist.
FINCK: Es gab auch einen ägyptischen – sogenannten – Geheimsender. Was war das denn?
KÜNTZEL: Geheimsender bedeutet: Das Programm wird in Berlin gemacht. Es wird so getan, als sei es eine Gruppe von unabhängigen Ägyptern, die endlich mal loslegen mit dem Hass auf Juden und Briten, und es wurden die unmöglichsten Dinge verbreitet. Man konnte den Sender aber nicht dingfest machen. Man konnte nicht sagen, er kommt aus Berlin oder sonst woher, weil man das nicht wusste. Es war eine Fälschung. Die Fälschung wurde aber in Berlin ausgedacht und entwickelt. Das Stichwort war Concordia A. Das war die Chiffre für die Geheimsender der Nazis. Also, man tat so, als seien das originale Beiträge aus der ägyptischen Untergrundbewegung gegen die Briten. Aber es war alles gesteuert von Berlin.
Musikakzent
FINCK: Zunächst mal ist es erstaunlich, dass es überhaupt dieses Ausstrecken der Hand oder das Hinüberschwappen der Stimmen in den Orient, in den arabischen Raum, gegeben hat. Denn eigentlich waren die Nazis und besonders Hitler ja eher negativ eingestellt. Es gibt dies berühmte Zitat, von Hitler, der gesagt hat, die Araber, das sind doch alles lackierte Halbaffen. Wie kommt es dazu, dass die dann doch gesagt haben, hm, die könnten aber für uns interessant sein!?
KÜNTZEL: Der Hintergrund ist der Antisemitismus. Man wollte unbedingt verhindern, dass Juden in diesem Teil der Welt einen eigenen Staat errichten können. Das heißt, man hat den Antizionismus antisemitisch unterlegt und entsprechend gegen den jüdischen Staat gekämpft, gegen die Versuche, den zu entwickeln, aufzubauen. Ab 1937 begann dieser Kampf der Nazis gegen einen möglichen jüdischen Staat.
FINCK: Warum gerade 1937?
KÜNTZEL: Weil in diesem Jahr in Großbritannien eine Kommission, die sogenannte Peel Commission, zu dem Schluss kam, dass es keine Einigung geben wird zwischen den radikalen Arabern und den Juden in dieser Region und dass man deswegen eine Zweistaatenlösung bräuchte. Damals war allerdings der Vorschlag der, dass die Juden 17 % des Territoriums kriegen und die muslimischen Araber dann entsprechend über 80 %. Das wurde von den Juden akzeptiert, die waren schon froh über die 17 %, aber von den Arabern kategorisch abgelehnt, wobei es da aber auch zwei verschiedene Meinungen gab. Es gab Stimmen, die ganz klar für diese Zweistaatenlösung waren, von 1937. Wir müssen uns überhaupt vor Augen halten: In den dreißiger Jahren war die Frage noch offen, was mit dem Nahen Osten geschieht. Es gab den Emir Abdullah von Jordanien. Der war der Meinung, dass die Zweistaatenlösung etwas Gutes ist. Der wollte mit Zionisten punktuell zusammenarbeiten. Es gab Araber, die sogar begeistert waren über den Zionismus, mit der Argumentation, dass die Zionisten die Fortschritte Europas und des Westens in diesem Teil der Welt verankern könnten. Und es gab andere, die vielleicht den Zionismus nicht mochten, aber die Juden. Also es gab verschiedenste Möglichkeiten, einen Weg zu finden. Aber es gab auch gleichzeitig radikale Antisemiten in der arabischen Welt. Das waren die Muslimbrüder in Ägypten, 1928 gegründet, und das war der Mufti von Jerusalem, Haj Amin al-Husseini, der sehr mächtig war in Jerusalem und der zusammen mit den Muslimbrüdern die radikale antisemitische Linie vertrat. Und diese Linie, die wurde einseitig von Deutschland unterstützt und gestärkt. Und tatsächlich konnte sich dann in den dreißiger Jahren auch diese Linie durchsetzen, mit dem Mittel des Terrors und mit dem Mittel der Propaganda, der religiösen Propaganda. Also, wer sich positiv äußerte gegenüber Juden, war des Todes – nicht sicher, aber war bedroht. Und eingeschüchtert. Und deswegen haben dann viele, die am Anfang diese Zweistaatenlösung in den dreißiger Jahren wollten – sind schweigsam geworden.
FINCK: Wir müssen noch mal wirklich betonen: Das ist jetzt, zehn Jahre vor dem Zwei-Staaten-Plan, den es dann 1947 gegeben hat, ein erster Zwei Staaten Plan. Die Welt sähe sehr anders aus, wenn damals dieser Plan angenommen worden wäre.
KÜNTZEL: Man muss das auch vor dem Hintergrund betrachten, dass dann einige Jahre später der Holocaust begann. Wäre da ein kleiner jüdischer Teilstaat geschaffen worden, hätten Hunderttausende von Juden überleben können, den Holocaust. Von daher ist das schon eine sehr wichtige Angelegenheit, was da ‘37 passiert ist. Und es gab, wie gesagt, neben dem Terror des Mufti eben auch den Versuch der ideologischen Beeinflussung durch die Nazis. Also, man hat es in den dreißiger Jahren bereits erfolgreich gebracht, dass man die Religion des Islam antisemitisch interpretiert hat.
FINCK: Das mussten die Nazis auch machen, denn das Konzept der Rasse kennt man so im Islam ja nicht.
KÜNTZEL: Das ist schon richtig, das Konzept der Rasse kennt man nicht. Am Anfang wollten sie rassistisch argumentieren in der arabischen Welt und haben festgestellt, das kommt einfach nicht bei den Leuten an, da haben sie keine Chance. Und dann haben Sie umgeschaltet von der rassistischen Argumentation der Judenfeindschaft auf die religiöse Argumentation und haben entdeckt, dass Mohammed gegen Juden gekämpft hatte. Was auch stimmt. Aber es ist eine einseitige Betrachtung des Korans und der islamischen Schriften.
FINCK: Das müssen Sie noch mal genauer erklären.
KÜNTZEL: Ja, es ist ganz einfach. Mohammed wollte am Anfang ja den Monotheismus, den Glauben an den einzigen Gott in der arabischen Welt, verbreiten. Und das war nun bei den Juden auch der Fall. Es ist auch eine monotheistische Religion. Das heißt, am Anfang wollte Mohammed mehr oder weniger die Thora ins Arabische übersetzen. Aber die Juden fanden seine Gelehrsamkeit begrenzt, wollten sich nicht von ihm überzeugen lassen. Und das hat dann diesen Trotz bei Mohammed ausgelöst, dass er sich gerächt hat an der Unwilligkeit der Juden, ihn zu akzeptieren als den neuen Propheten. Und dann wurden in Medina, was eine jüdische Stadt war, in die Mohammed 622 zog, in der Hoffnung, bei den Juden kommt er besser an als in Mekka. Das wurde dann enttäuscht, weil die Juden sich weigerten, ihn zu akzeptieren. Und dann wurde erst der eine jüdische Stamm vertrieben aus Medina, dann der andere jüdische Stamm, und beim dritten machte Mohammed dann kurzen Prozess. Alle Männer wurden einen Kopf kürzer gemacht, eine schreckliche Szene am Marktplatz von Medina, und die Frauen und die Kinder wurden alle in die Sklaverei verkauft, also unter Männern verteilt.
FINCK: Deshalb haben wir unterschiedliche Teile im Koran heute?
KÜNTZEL: Ja. Es ist unumstritten, dass die früh geschriebenen Verse aus dem Koran aus der Frühzeit stammen und positiv über Juden auch geschrieben haben. Und je älter die Verse wurden, desto judenfeindlicher wurden sie auch. Aber wir haben beide Aspekte im Koran drin. Und was die Nazis jetzt geschafft hatten, war, die eine Seite auszulöschen und die andere Seite als einzige Seite in den Vordergrund zu stellen. In der muslimischen Welt waren Juden zwar eine geschützte Minderheit, die durften ihre Religion ausüben, aber sie wurden unterdrückt. Sie wurden als sogenannte Djimmis, als Menschen dritter Klasse, behandelt und wirklich gedemütigt, wo immer man die demütigen konnte. Aber sie konnten überleben. Sie wurden erst durch den Einfluss des Nationalsozialismus zu Todfeinden, die man insgesamt auslöschen muss. Das ist ein interessanter Punkt, der Unterschied zwischen dem Djimmistatus, der für Christen und für Juden galt, und dem Antisemitismus, der den Schutzstatus den Juden wegreißt und sie dem Tode überliefert.
FINCK: Wie – konkret – haben die Radiomacher das dann gemacht? Es gab Musik, es gab Koranverse?
KÜNTZEL: Die wurden zitiert, die wurden „rezitiert“.
O-TON 4, RADIO ZEESEN (arabisch): Koranverse, gesungen
KÜNTZEL: Man singt diese Verse, man spricht sie nicht.
FINCK: Und Predigten auch?
KÜNTZEL: Ja, natürlich gab es viele Predigten. Also, der Sender hat sich religiös aufgestellt. Ausgerechnet in Berlin. Das war natürlich eine große Farce. Aber – Es wurde noch niemals zuvor der Islam derartig für antisemitische Zwecke missbraucht, wie durch die Nazis in diesen Jahren.
FINCK: Der Mufti spielte auch dabei eine Rolle. Es gab nicht nur enge Verbindungen, sondern der hat ja auch Sendungen geschrieben, an Programmen mitgearbeitet und auch selber gesprochen.
KÜNTZEL: Viele seiner Reden wurden über Radio Zeesen verbreitet. Er hat also ein Stück weit mit kontrolliert, was dort gesendet worden ist. Also, er hatte schon einen gewissen Einfluss, aber ich würde das nicht überschätzen. Der Mufti, so lange er im deutschen Exil war, von ‘41 bis ‘45, musste er sich mehr oder weniger auch unterordnen, dem, was die Nazis von ihm wollten. Seine wahre und entscheidende Rolle spielte er vorher, bei dem arabischen Aufstand von ‘36 bis ‘39, als er eben den Terror initiierte gegen alle diejenigen, die mit Juden zusammenarbeiten wollten. Und er spielte auch eine entscheidende Rolle in den Jahren ‘46 bis ‘48, als es darum ging, diesen zweiten Zweistaatenplan, der von den Vereinten Nationen diesmal ausgearbeitet worden ist, zu Fall zu bringen.
Musikakzent
FINCK: Was waren denn die Beziehungen zwischen dem Mufti und den – sagen wir: Moslembrüdern oder der Muslim… Bruderschaft?
KÜNTZEL: Hasan al-Banna, der Führer der Muslimbruderschaft, war mit dem Mufti befreundet. Sie hatten schon vor Gründung der Muslimbruderschaft Kontakte gehabt. Der Mufti war nie ein Mitglied der Muslimbruderschaft, er war kein Führer der Moslembrüder. Aber das waren seine Verbündeten, und als der Mufti als Kriegsverbrecher gesucht wurde, nach 1945, weil bekannt wurde, dass er persönlich Verantwortung dafür trug, dass Tausende jüdische Kinder vergast worden sind, zum Beispiel. Oder dass er Verantwortung dafür trug, dass die SS-Divisionen, die muslimischen SS-Divisionen im Balkan, aufgebaut wurden und ihr tödliches Werk verrichten konnten – da ging es darum, dass er eigentlich verurteilt werden sollte. Und das wäre für die Menschheit ein guter Schritt gewesen, wenn man diesen Prozess gehabt hätte und auch den Antisemitismus des Mufti vor Gericht hätte verurteilen lassen können.
FINCK: Und das passierte aus diversen Rücksichtnahmen seitens westlicher Mächte.
KÜNTZEL: Ja, aber da waren die Moslembrüder entscheidend. Also die Moslembrüder haben gesagt, Wenn ihr unseren Mufti anrührt, dann werden wir einen Aufstand machen, wo das Blut fließt, wie in Flüssen. Also die haben massiv gedroht, die westlichen Mächte, die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, massiv bedroht: Wenn man dem Mufti nur ein Haar gekrümmt, so hieß es damals, dann würde kein Jude mehr in der Welt überleben können. Also, wilde, wüste Drohungen. Aber da hatten die – weil Sie fragten, nach dem Verhältnis zwischen den Muslimbrüdern und dem Mufti – da hatten sie ganz klar eine entscheidende Rolle gespielt, um den Mufti wieder freizukriegen. Und dann kam der Mufti auch ‘46 nach Ägypten. Und dann haben sie auch gesagt, Oh, du bist gerettet worden, Hitler wollte die Zionisten besiegen, Hitler gibt es nicht mehr, aber es gibt dich. Du wirst den Kampf weiterführen. Es war also eine unmittelbare Fortsetzung dessen, was der Mufti vorher unter der Kurantel der Deutschen von Deutschland aus gemacht hatte. Das konnte er jetzt von Ägypten aus weiter betreiben.
Musikakzent
FINCK: sind jetzt – ‘46, der Mufti ist zurück, hat noch bis 1974 gearbeitet. Was wissen wir über die Langzeitwirkungen? Was für Folgen hatte diese sechs Jahre lange Berieselung mit wirklich übelster Hetze? – Wir sollten vielleicht auch noch mal ein Zitat bringen. Hier ist, deutsch nachgesprochen, ein Ausschnitt aus dem Programm von Radio Zeesen, Juli 1942:
ZITAT, RADIO ZEESEN: „Tötet die Juden, die Euer Vermögen an sich gerissen haben und einen Anschlag auf Eure Sicherheit planen. Araber Syriens, des Irak und Palästinas, worauf wartet Ihr? Die Juden haben vor, Eure Frauen zu schänden, Eure Kinder umzubringen und Euch zu vernichten. Tötet die Juden, steckt ihren Besitz in Brand, zerstört ihre Geschäfte. Eure einzige Hoffnung auf Rettung ist die Vernichtung der Juden, ehe sie Euch vernichten.“
FINCK: Was haben derartige Befeuerungen eines vielleicht vorhandenen Antijudaismus bewirkt?
KÜNTZEL: Man neigt oftmals dazu, die Bedeutung von Ideologie für weltpolitische Entwicklungen zu unterschätzen. Und diese Ideologie des Antisemitismus, die vom 25. April 1939 bis zum 24. April 1945 tagtäglich den arabischen Massen eingehämmert worden ist, hat die arabische Welt verändert. Das ist meine feste Überzeugung. Wie komme ich dazu? Es gab ja damals keine Meinungsumfragen. Aber man kann zum Beispiel vergleichen die Situation in der arabischen Welt, wo es Radio Zeesen gab, mit Gegenden, wo kein deutsches Radio hingelangte, aber auch Muslime leben, zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina, wo man nach 45 überhaupt keinen Judenhass entdecken konnte, wo das einfach wegfiel. Was man zurückführen könnte darauf, dass sie nicht ausgesetzt waren dieser Propaganda von Radio Zeesen. Man hat auch das Beispiel der asiatischen Muslime, die auch dezidiert weniger antisemitisch ausgerichtet waren nach dieser Zeit, als die arabische Welt. Und man kann natürlich vergleichen die Stellungnahmen der arabischen Politiker von 1937 gegen den ersten Teilungsplan mit den Stellungnahmen von 1947, gegen den zweiten Teilungsplan der Vereinten Nationen. Dazwischen liegt diese sechs Jahre Radiopropaganda. Und plötzlich sind Stellungnahmen, die vorher nicht antisemitisch waren …
FINCK: Von denselben …?
KÜNTZEL: Von denselben Politikern, antisemitisch gefärbt. Zum Beispiel, dass gesagt wird, die Juden seien verantwortlich für die beiden Weltkriege gewesen. Das war eine Aussage, die in Radio Zeesen ständig propagiert worden ist, und die fand dann ihren Niederschlag. Man hat ein Vorher und ein Nachher. Die Radiopropaganda war eine Zäsur, die also diese Welt aufteilte in ein Vorher und ein Nachher.
FINCK: Dieses Zitat, haben Sie das zufällig parat? Über die Verantwortlichkeit der Juden für die Weltkriege, für beide Weltkriege? – Lesen Sie es doch mal!
KÜNTZEL: „Sollten wir nicht die Zeit verfluchen, die es dieser niedrigen Rasse erlaubt hat, ihre Bedürfnisse mithilfe von Ländern wie Großbritannien, Amerika und Russland zu befriedigen? Die Juden entzündeten diesen Krieg im Interesse des Zionismus. Die Juden sind verantwortlich für das vergossene Blut. Niemals wird Frieden in der Welt sein, bevor nicht die jüdische Rasse ausgerottet ist. Sonst wird es immer Kriege geben. Die Juden sind die Bazillen, die alle Leiden auf der Welt verursacht haben.“
KÜNTZEL: Ein Beispiel für die Hetze, die extremst war. Und wenn man jeden Abend diese Art von Hetze hört, dann überlagert das das alte Bewusstsein, das antijudaistische Bewusstsein, das es im Islam vorher gab, das aber nicht so argumentiert hat, sondern anders argumentiert hat.
FINCK: Kann man sagen, dass die Nazis den islamischen Antisemitismus nicht ursächlich hervorgerufen haben, aber sie haben einen latent vorhandenen Antijudaismus, einen Judenhass, eine Judenfeindschaft befeuert, verstärkt.
KÜNTZEL: Das kann man auf jeden Fall sagen. Das ist genauso in Deutschland gewesen. Da gab es den christlichen Antijudaismus, der von den Nazis aufgegriffen und radikalisiert wurde. Und genauso haben sie das gemacht mit dem Antijudaismus im Islam, dass sie ihn aufgegriffen und radikalisiert haben im Sinne ihrer antisemitischen, ja mörderischen Ideologie.
Musikakzent
In Ihren Arbeiten ziehen Sie immer auch eine Linie zur Hamas. – Ja. – Inwiefern?
KÜNTZEL: Weil die Hamas Charta von 1988 das antisemitischste Dokument ist, was man in dem Islamismus überhaupt gefunden hat. Es ist ein Text, der wirklich an den Stürmer erinnert und den Juden vorwirft, die zwei Weltkriege ausgelöst zu haben. Die Juden würden die ganze Welt beherrschen. Die Juden müssen vernichtet werden. Das geht aus dieser Hamas Charta deutlich hervor. Und wir haben die praktische Umsetzung dieser Ideologie ja am 7. Oktober erlebt. Da wollte eine Bewegung, die sich Befreiungsbewegung nennt, den Gazastreifen und Palästina frei machen – nämlich judenfrei.
FINCK: Wir können uns ja mal einen Ausschnitt aus der Charta der Hamas von 1988 anhören, hier Artikel 22:
ZITAT, CHARTA DER HAMAS, 1988: „Die Juden standen hinter der Französischen Revolution, den kommunistischen Revolutionen und den meisten Revolutionen hier und da. Sie standen hinter dem Ersten Weltkrieg, wo sie es schafften, den Staat des islamischen Kalifats zu beseitigen, und sie standen hinter dem Zweiten Weltkrieg, wo sie gewaltige Profite aus ihrem Handel mit Kriegsgütern erzielten. Es gibt keinen Krieg, bei dem sie nicht hinter den Kulissen ihre Finger im Spiel haben.“
FINCK: Wir müssen vielleicht noch mal für die, die das nicht so genau im Kopf haben, sagen, die Hamas, 1987 gegründet als Ableger der Muslimbruderschaft …
KÜNTZEL: Der Muslimbruderschaft. Von daher ist da die Beziehung … Die Nazis hatten die Moslembrüder in Ägypten bereits 1938 unterstützt, mit Geld, aber auch mit Schulungsabenden über die Palästinafrage, mit Schulungsabenden über die sogenannte jüdische Frage. Das heißt, es war eine Investition, die in den dreißiger Jahren begann. Und diese Investition der Nazis in die Moslembruderschaft hat sich dann ausgezahlt, zehn Jahre später, als weitgehend unter dem Einfluss der Muslimbrüder auch der zweite Zweistaatenplan für Palästina vereitelt wurde. Es könnte längst Frieden in Palästina herrschen, wenn man damals diesen Zweistaatenplan verwirklicht hätte. Dann hätten wir vor einem Jahr 75. Jahrestag eines palästinensisch-arabischen Staates in Palästina feiern können. Aber das wurde vereitelt, erneut, so wie in den dreißiger Jahren bereits, durch den radikalen Antisemitismus der Muslimbruderschaft und des Mufti von Jerusalem.
FINCK: Stichwort Holocaust, Stichwort Nazivergleiche. Zu sagen, die Ideologie der Hamas Terroristen geht in weiten Teilen zurück auf Ideologien der Muslimbrüder, die wiederum beeinflusst wurden von den Nazis und der Propaganda der Nazis, ist etwas anderes, als zu sagen, das war ein Holocaust an den Juden, der Überfall vom 7. Oktober.
KÜNTZEL: Man muss das unterscheiden. Die Hamas sind nicht die Nazis von heute. Und der 7. Oktober war nicht der Holocaust, das ist ja völlig klar. Das ist ja offenkundig. Aber die ideologischen Beweggründe. Es war zum Ersten Mal wieder so, dass massenweise Juden getötet worden sind. Und eigentlich sollte die Welt gelernt haben aus dem Holocaust, dass so was nie wieder vorkommt. Also eigentlich gibt es Holocaust-Gedenktage. Jedes Jahr werden die begangen. Es sind aber hohle Feierlichkeiten, weil sie niemals die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der arabischen Welt mit thematisiert haben. Und jetzt haben wir eben genau diesen Fall, dass die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der arabischen Welt zu dieser Konsequenz geführt hat, dass also wieder Juden massenweise getötet worden sind. Und hätten da die Streitkräfte Israels nicht eingegriffen, wäre das Töten ja auch weitergegangen. Es war sozusagen endlos. Es war für die Beteiligten eine Art Suicide-Mission. Das heißt, sie haben sich nicht zurückgezogen rechtzeitig, um ihr Leben zu retten, sondern waren bereit, ihr Leben zu opfern dafür, dass Juden getötet werden. Und von daher gibt es also einerseits Ähnlichkeiten in den ideologischen Begründungen für die Taten des 7. Oktober und den Taten des Holocaust. Und es gibt große und wichtige Unterschiede zwischen dem Antisemitismus der Hamas und dem der Nazis. Weil bei der Hamas wirklich auch noch mal das religiöse Moment dazukommt, der unglaubliche Hass auf Frauen. Das sind Aspekte, die bei den Nazis so nicht vorhanden waren.
FINCK: Wenn wir über den Langzeiteffekt dieser Propaganda der Nazis sprechen, da wird oft gesagt, wer das tut, wer den Nahen Oste und den Antisemitismus im Nahen Osten heute betrachtet, der wolle Israel sozusagen befreien von einer Verantwortung oder Mitverantwortung für die Krisen, für die Kriege, die wir haben. Und der wolle leugnen, dass Israel auch Verbrechen begeht im Krieg, dass man seine Besatzungspolitik in vielerlei Hinsicht nicht gutheißen kann und darf. Was entgegnen Sie auf diese Kritik?
KÜNTZEL: Es ist völlig richtig, dass man israelische Politiker oftmals kritisieren muss, dass man auch das militärische Vorgehen Israels oft kritisieren kann. Das wird in Israel selbst ja nun tagtäglich auch praktiziert. Diese Kritik hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Und Antisemitismus hat nichts mit kritischem Beurteilen zu tun. Sondern Antisemitismus ist eine spezielle Ideologie, die sich losgelöst hat von dem realen, jüdischen Einzelmenschen und von der jüdischen Gruppe. Das heißt, ich würde niemals sagen, dass man Israel nicht kritisieren darf. Natürlich darf man das. Und es gibt auch kein Verbot. Wer soll so ein Verbot aussprechen? Das ist wiederum eine Art antisemitische Fantasie, dass es irgendwelche Kräfte gäbe, die uns davor zurückhalten, Israel zu kritisieren, wenn wir meinen –
FINCK: Jüdische Weltpresse.
KÜNTZEL: Ja, so ungefähr. – Wenn wir meinen, dass Israel kritisiert gehört. Diese Behandlung von Israel wird aber unlauter und unfair, wenn man vergisst, dass es Kräfte gibt in der arabischen Welt, die Israel auslöschen wollen. Wenn man nur die Maßnahmen Israels kritisiert, ohne zu sehen, den Kontext, in dem sich israelisches Leben abspielt, nämlich dass sie seit 1948 vernichtet werden sollen. Von daher ist eine richtige Kritik die, die kein Blatt vor den Mund nimmt, aber gleichzeitig die Rahmenbedingungen Israels mit ins Bild bringt und berücksichtigt.
FINCK: Meine letzte Frage: Wir diskutieren angesichts von vielen Migranten in großen Städten, überhaupt in Deutschland: Wie soll Geschichtsunterricht aussehen? Wie sollen wir über den Holocaust im Geschichtsunterricht heute reden? Es gibt Stimmen, die sagen, man muss da vorsichtig sein. Wenn wir Klassen haben mit 80 bis 90 % Migranten, die interessiert die Shoah gar nicht so. Wir sollten lieber über den Kolonialismus in der arabischen Welt sprechen und nicht so sehr über den Holocaust. Außerdem haben wir sowieso genug darüber geredet.
KÜNTZEL: Das ist natürlich absolut notwendig, über den Holocaust zu sprechen, auch in Klassen mit vielen Muslimen. In meiner Praxis als Lehrer habe ich nie erlebt, dass ein Moslem das nicht interessant und hoch wichtig fand. Manchmal aus Motiven, die nicht ganz meine Motive waren, weil sie alles, was mit Juden zusammenhängt, besonders argwöhnisch betrachtet hatten. Aber es gab immer das Interesse, darüber mehr zu erfahren. Deswegen muss man im Unterricht das aufgreifen. Und ich bin der Meinung, dass der 7. Oktober gezeigt hat, dass der Holocaust eben leider kein Thema der Vergangenheit ist. Man muss einfach anerkennen, dass ein Stück weit ein Relikt aus der Nazizeit bis in die Gegenwart hineinragt. Und das darf man nicht ignorieren. Da muss man drüber sprechen. Da müssen auch die Holocaustfeierlichkeiten sich ausweiten auf die Nachfolgen des Antisemitismus der Nazis in der arabischen Welt. Und dann wird Unterricht auch spannend, wenn wir jetzt nicht Geschichte völlig abtrennen von der Gegenwart, sondern die Bezüge zur Gegenwart herausarbeiten. Und das, glaube ich, ist die Aufgabe für Geschichtslehrer und -lehrerinnen.
Herr Küntzel, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Gerne.
Musik
Was war – was wird
Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus
Folge 4: Braune Hetze auf arabisch. NS-Radiopropaganda und der Judenhass im Nahen Osten.
Almut Finck im Gespräch mit Matthias Küntzel
Gefördert vom Bundesministerium des Innern und für Heimat
FINCK: Wenn Sie sich mit dem Thema der gerade gehörten historycast-Folge noch weiter auseinandersetzen wollen: Hören Sie doch mal beim WDR-Zeitzeichen rein. Dort finden Sie eine Reihe von spannenden Sendungen zu ähnlichen Themen. Die Links dazu haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt.
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