Jüdisches Leben im Mittelalter

Shownotes

Antijudaismus gab es im Mittelalter auch in Gegenden ohne Juden. Diese These vertritt die Historikerin Cordelia Heß in der neuen Ausgabe des historycast zu Jüdischem Leben im Mittelalter. Zwar gab es auch friedliche und fruchtbare Zeiten für Juden im mittelalterlichen Europa. Aber tiefsitzende Klischees von Juden als „Christusmörder“ führten dazu, dass sie in Krisensituationen extrem verfolgt wurden, zum Beispiel während der Kreuzzüge oder der großen Pestwelle von 1347.

Cordelia Heß wechselte als Professorin im Wintersemester 2024 von der Universität Greifswald an die Universität Arhuis in Dänemark. Einer ihrer Schwerpunkte sind religiöse Minderheiten im Mittelalter. In ihren Büchern beschäftigt sie sich unter anderem mit antijüdischen Ressentiments, die im Mittelalter entstanden und bis heute fortdauern.

Dr. Heiner Wember ist Radiojournalist und Historiker aus Münster.

Die didaktischen Materialien finden Sie hier: [https://historycast.de/]

Staffel 3, Folge 3 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]

Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat.

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Heß: Antijudaismus kommt mit der christlichen Religion, die Bilder kommen, die Texte kommen, die Gedanken kommen, und in dem Moment, wo dann in Regionen eine jüdische Minderheit tatsächlich sich ansiedelt, ist häufig der Antijudaismus schon da.

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus

Folge 3: Jüdisches Leben im Mittelalter

Heiner Wember im Gespräch mit Cordelia Heß

WEMBER: Das Mittelalter weckt in uns modernen Menschen immer noch die Vorstellung, dass es finster war - und christlich. Finster war es keineswegs, und auch nicht nur christlich. Es gab auch jüdisches Leben in der Zeit zwischen dem Untergang Roms und der Neuzeit. Also in den tausend Jahren etwa zwischen 500 und 1500. Ein Höhepunkt jüdischen Lebens kam im Jahr 797. Denn da schickte Karl der Große auch den jüdischen Großkaufmann Isaac nach Bagdad, um dort mit dem Sultan zu verhandeln. Zurück kam Isaac mit einem Elefanten als Geschenk des Sultans. Warum schickte Karl ausgerechnet einen jüdischen Gesandten, Frau Heß?

HEß: Die jüdischen Gemeinden hatten sich ja über ganz Europa und auch über den arabischen Raum verteilt. Die muslimischen Gebiete waren eigentlich sehr viel besser darin, etwas tolerantere Gegebenheiten zu schaffen für nichtmuslimische Minderheiten, und entsprechend gab es da gut funktionierende jüdische Gemeinden in diesen Regionen, die dann eben auch in Kommunikation mit den jüdischen Gemeinden in Westeuropa und insgesamt in den christlichen Gebieten waren und darüber Kulturaustausch gewissermaßen organisieren konnten.

Jetzt will ich sie aber erst mal vorstellen. Seit dem Wintersemester 2024 ist die Historikerin Cordelia Heß Professorin an der Universität Arhuis in Dänemark. Einer ihrer Schwerpunkte sind religiöse Minderheiten im Mittelalter. In ihren Büchern beschäftigt sie sich unter anderem mit antijüdischen Ressentiments, die im Mittelalter entstanden und bis heute fortdauern. Bevor wir darüber reden, Frau Heß: Wann und wo konnten denn Juden im westeuropäischen Mittelalter in Frieden leben?

Die konnten an unterschiedlichen Stellen immer mal wieder in Frieden leben und an vielen Stellen dann eben auch nicht.

Das heißt, sie waren nirgendwo ganz sicher, unter Karl dem Großen und seinem Sohn Ludwig dem Frommen gab's auch festgelegte Rechte für Juden, die Freiheit des Handels zum Beispiel, das Recht auf Religionsausübung und auch den Schutz vor Zwangstaufen. Da könnte man den Eindruck haben, das war eine Zeit, die sicherer war als die späteren Zeiten während der Kreuzzüge und während der Pest. Oder kann man das gar nicht verallgemeinern?

Ein bisschen schon, denn gerade diese beiden Ereignisse, die Sie genannt haben, die Verfolgung während der Kreuzzüge und während der Pest 1349, 50, das waren europaweit Momente, wo jüdische Gemeinden zerstört, geplündert, vertrieben wurden.

Die zwei Ur-Katastrophen für jüdisches Leben in Europa.

Gleichzeitig war aber die Haltung von Karl dem Großen gegenüber den Juden in seinem Reich nicht so sehr spezifisch. Es hatte auch später immer wieder Kaiser gegeben, die relativ umfassende Schutzprivilegien erstellt haben, Friedrich II. zum Beispiel.

Der Enkel Barbarossas hat sie zu Kammerknechten gemacht. Was war das?

Das war auch ein bestimmter Schutzstatus, der auf gegenseitigen finanziellen Interessen beruht hat, also eine bestimmte Steuerzahlung von den jüdischen Gemeinden gegen einen allgemeinen Schutzstatus. Solche Initiativen hat es immer wieder gegeben, vom Kaisertum aus, tatsächlich auch vom Papsttum aus. Die Frage ist dann, was das letzten Endes in den lokalen Beziehungen machen konnte und genutzt hat. Deswegen würde ich nicht unbedingt sagen, die Periode von Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen war eine, wo alles funktioniert hat. Dann wurde alles schlechter. So diese ganz großen Periodisierungen von Aufstieg und Niedergang. Da wäre ich immer sehr skeptisch, weil das eben sehr unterschiedlich ist, regional.

Sieht man auch in England. Dort wurden Juden im Jahr 1066 angesiedelt und erst als belebender Wirtschaftsfaktor sogar begrüßt. Es gab sogar eine religiöse Diskussion in Westminster Abbey, wo um die Bedeutung des Alten Testaments dann gerungen wurde, also eine Art toleranter Gedankenaustausch, was aber auch nicht hieß, dass es in England dann dauerhaft so blieb. Schon Kirchenvater Augustinus schrieb, ich zitiere mal, „Die Juden sind Zeugen ihrer Bosheit und unserer Wahrheit“. Heißt: wenn wir in der Wahrheit leben, brauchen wir auch jemanden als Beweis, dass es die Bosheit gab.

Diese augustinische Idee der Zeugenschaft war das Mittelalter über sehr prominent und sehr viel diskutiert und konnte gewissermaßen in zwei Richtungen gehen. Sie war einerseits ein Argument dafür, dass die Juden gewissermaßen so ein überzeitliches Kollektiv waren, also, die waren schon Zeugen des Lebens und Sterbens von Jesus Christus, und in dieser Funktion existierten sie im Mittelalter weiter. Also, sie sind quasi.

Der lebende Beweis.

Oder, wie er es da genannt hat, ein lebendes Fossil, also eine Art Überbleibsel der biblischen Zeit, was eigentlich eine ganz schreckliche Konzeption ist. Gleichzeitig wurde aber diese augustinische Idee der Zeugenschaft eigentlich auch für einen recht toleranten Gedanken genutzt, nämlich zu sagen, es muss die weiterhin geben. Man kann die nicht alle umbringen, man kann sie auch nicht zwangskonvertieren, denn sie müssen in dieser Funktion der Zeugenschaft weiterexistieren bis zum Ende der Zeiten, damit sie diese Funktion weiterhin ausführen können. In den christlichen Gesellschaften also auch die, die sehr klar judenfeindlich klingenden Äußerungen konnten in zwei Richtungen interpretiert werden.

Es gab im Christentum des Mittelalters ganz stark die Tendenz, Juden nicht nur zu degradieren, sondern als Christusmörder dann auch zu verfolgen.

Degradieren, dämonisieren und das dann mit konkreten Folgen zu belegen.

Musikakzent

Es gab dann diese Ritualmord-These, die besagt, dass Juden angeblich christliche Kinder entführen würden, Babys, und die dann opfern würden. Können sie nochmal erklären, was das bedeutete?

Diese Ritualmord-Legende hat sich über das ganze Mittelalter hinweg und dann auch in der frühen Neuzeit und in der Neuzeit immer weiterentwickelt. Das war ja alles erfunden. Also, die Geschichte ist auch so passiert, dass quasi dieser Junge William tot aufgefunden worden ist und erst Jahre später die entsprechende Geschichte und die Schuldzuschreibung und die antijüdische Legende dazu erfunden worden ist. Dieser theologische Überbau und die Täter-Zuschreibung hat erst mal gar nichts mit diesem toten Jungen zu tun, sondern da gab es ganz konkrete theologische, klerikale Interessen, diesen Jungen als Heiligen aufzubauen.

Was war denn der Vorwurf? Was sollten die Juden mit diesem Jungen gemacht haben?

Die sollten den quasi so gefoltert haben, wie sie auch Jesus Christus gefoltert haben. In späteren Ritualmord-Vorwürfen kamen dann noch ganz andere Ideen über die rituelle Benutzung von dem Blut und teilweise auch von Organen, die angeblich entnommen worden sind. Es gab die Idee, dass dieses Blut die jüdische männliche Menstruation heilen sollte. Es gab die Phantasie, dass männliche Juden menstruieren und dass sie dafür ein Heilmittel bräuchten, und das soll dieses christliche Blut sein. Also, man merkt schon, in der christlichen Phantasie spielt Blut eine ganz, ganz große Rolle und wird von ganz unterschiedlichen Seiten besetzt, und das wurde dann eben auf die jüdische Gemeinschaft und jüdische Religion projiziert, die ein völlig anderes und sehr viel distanzierteres Verhältnis zum Blut hat als die Christen das hatten.

Erstaunlich ist, dass es sowohl von Seiten der Kirche, auch vom Papst, als auch von den weltlichen Herrschern, Untersuchungen gab, die auch festgestellt haben: Da ist nichts dran, und trotzdem hat sie sich verselbstständigt.

Es gab unterschiedliche Untersuchungen. Ganz berühmt geworden ist diejenige von Friedrich II. Dieses Expertengremium ist gemeinsam zu dem Schluss gekommen: Nein, das macht keinen Sinn. Im Gegenteil, Juden ist der Konsum von Blut insgesamt verboten, das heißt, es ist für die religiös widersinnig, dieser Vorwurf, und daraufhin hat Friedrich II. eine Bulle erlassen mit einem umfassenden Schutz für die Juden im Bereich seines Reichs, der diese Ritualmord-Vorwürfe und die entsprechenden Verfolgungen eben auch verboten hat. Es hat nur einfach nichts genutzt.

Zu grausam, um nicht mehr wahr zu sein!

Und es war zu attraktiv, weil es einerseits alle diese kruden, gruseligen Elemente hat und andererseits ebenso eine klare Täter-Opfer-Zuschreibung, dass das offensichtlich immer wieder sinnvoll und praktisch war, um in lokalen Konflikten traumatische Ereignisse zu erklären. Der Fall in Fulda zum Beispiel, da wurden wohl kurz nach Weihnachten in einer Mühle vor der Stadt fünf tote Kinder gefunden. Man kann sich vorstellen, dass das ein schreckliches Erlebnis ist für eine Gemeinschaft, nicht nur für die Familien, sondern insgesamt für die Stadtgemeinschaft, die nicht versteht, was da passiert ist, die nicht möchte, dass jemand aus den eigenen Reihen das war, die gleichzeitig nicht möchte, dass niemand bestraft werden kann, wenn es einfach ein vorbeireisender Täter war, und da war das offensichtlich an vielen Stellen dann attraktiv, mit Hilfe dieser Ritualmord-Legende lokale, aber dennoch als anders definierte Täter haben zu können.

Musikakzent

Im Rheinland lebten schätzungsweise etwa 20000 Juden im elften Jahrhundert. Es gab auch ein Privileg von Heinrich IV., Juden gehörten auch teilweise zur gesellschaftlich gehobenen Schicht, denn sie durften zu dem Zeitpunkt auch Waffen tragen. Das war schon mal ein großes Privileg. Dann bricht mehr oder weniger plötzlich diese Katastrophe des ersten Kreuzzugs über die rheinischen Gemeinden. Wie kam es dazu, dass plötzlich wirklich die meisten Gemeinden ausgerottet wurden?

Auf eine Art kann man das immer noch nicht komplett erklären, weil bis dahin tatsächlich dieses Ausmaß von Gewalt gegen jüdische Gemeinden einfach nicht bekannt war. Das stellt einen klaren Zivilisationsbruch dar. Auch für die damalige Gesellschaft war das eine radikale Wende und Veränderung und Zerstörung von gewachsenen und bestehenden Beziehungen. Man kann es sich so ein bisschen erklären, einerseits durch diese insgesamt aufgestachelten religiösen Gefühle.

Mit dem Kreuzzug das Heilige Land befreien, die Heilige Stadt Jerusalem. Da waren christliche Kirchen zerstört worden, Synagogen allerdings auch. Was die Menschen nicht daran hinderte, die Juden dafür verantwortlich zu machen.

Dieser theologische Antijudaismus war bereits vorhanden, und der war natürlich den Menschen auch bekannt in Form von Kirchenmalereien, in Form von Predigten, von Auslegungen des neuen Testaments und der Passio Christi. Das heißt, die Gewalt war neu, aber die Narrative, die zur Legitimierung dieser Gewalt benutzt wurden, waren nicht neu.

Das war eine Bewegung von unten, wenn man so will. Das war nicht von oben gesteuert. Das waren Pogrome, die dann auf dem Weg Richtung Jerusalem stattfanden.

Grundsätzlich sieht man in der gesamten Zeit des Früh- und Hochmittelalters eigentlich wenig von oben gesteuerte Pogrome, sondern das scheinen wirklich recht spontane Gewaltausbrüche von Massen gewesen zu sein.

Es gibt dann zwei weitere Effekte. Das konnte auch sehr lukrativ sein für die Menschen, die bei Juden verschuldet waren, sowohl kleine Handwerker vor Ort, dann aber auch für die Könige von Frankreich und England, die dann irgendwann auch hingingen und Juden komplett aus ihren Ländern verbannten und sich ihr Eigentum dann sicherten.

Genau, man sieht eigentlich in den allermeisten sowohl Pogrom-Wellen als auch lokaler begrenzten antijüdischen Verfolgungen, dass es immer so eine Gemengelage gibt aus lokalen Konflikten, die häufig auch ökonomischer Art sind, und diesen theologischen Überbauten und dann eben dem konkreten Gewaltausbruch.

Lassen Sie uns noch mal reden über den Feudalstaat. Der entstand so etwa im neunten Jahrhundert, dieses Lehenswesen. Da geschah auch schon ein struktureller Ausschluss von Juden, weil sie da für viele Funktionen nicht in Frage kamen. Sie durften nicht adelig werden, und sie durften vor allen Dingen keinen Grund besitzen.

Das Verbot von vor allem größeren Grundbesitzeinheiten auf dem Land und die Unmöglichkeit, Lehensträger zu werden, spielt natürlich eine Rolle dafür, dass die jüdische Gemeinde ihre Ökonomie auf andere Faktoren ausgelegt hat.

Zunächst mal die Urbanisierung, dass sie in die Städte gegangen sind.

Genau, wo dann häufig tatsächlich auch Immobilienbesitz möglich war, also es war ja nicht so, als seien die durch dieses übergeordnete Feudalsystem dann komplett recht- und besitzlos gewesen, sondern in Städten war dann Besitz möglich.

Rechtsräume hieß zum Beispiel aber auch das Zunftsystem. Das waren christliche Bruderschaften. Da durften Juden auch nicht hinein, durften keine Handwerker werden.

Da durften einerseits Juden nicht hinein, andererseits durften da aber auch ganz viele Christen nicht hinein. Dieses ganz einfache Narrativ: Die Juden waren als die anderen definiert und sind - also, liest man ja auch heute immer noch viel in Lehrbüchern - die Juden sind ins Geldgeschäft gedrängt worden, weil sie nicht in die christlichen Zünfte durften. Das stimmt so einfach nicht. Einerseits waren es nur sehr wenige Juden, die mit unterschiedlichen Bereichen von Geldwirtschaft zu tun hatten, und andererseits waren sie nicht die einzigen, die eben in diesem sehr diffizilen Zunftsystem, das eigentlich eine Art von Markt-Protektionismus war, ausgeschlossen worden sind.

Warum waren denn so wenige Christen im Geldgeschäft unterwegs? War das theologisch begründet?

Weil es in der hebräischen Bibel, im Alten Testament, eben das Verbot gibt. Dieses Verbot der Zinsnahme wurde dann von allen Religionen eigentlich so interpretiert, dass man das eigentlich mit den eigenen Leuten nicht machen konnte. Bei den anderen schon, weil die sich immer weiter entwickelnde Ökonomie natürlich auch eine Art von Zinswirtschaft notwendig machte und entsprechend diese Funktion notwendig war, gleichzeit aber innerhalb der eigenen Gemeinschaft reglementiert oder sogar verboten werden sollte. Und das, was wir heute als sehr monumental eigentlich für das Verhältnis zwischen Christen und Juden ansehen, nämlich diesen Wucher-Vorwurf und diese ganz enge Assoziation von Juden mit Geld, ist eigentlich etwas, was sich erst im Spätmittelalter entwickelt hat, zu einem Zeitpunkt, als vor allem die Bettelorden, also bestimmte Organisationen innerhalb der christlichen Kirche, ein starkes Interesse hatten, dieses Zinsverbot in den christlichen Gemeinschaften erst mal überhaupt durchzusetzen. Das heißt, vorher hatten wir offensichtlich ganz viel, nicht nur Zinswirtschaft, sondern auch Wuchernahme oder das, was man als Wucher-Wirtschaft wahrgenommen hat, von Christen gegenüber anderen Christen, und die Reglementierung darüber hat funktioniert dadurch, dass das von christlicher Seite definiert wurde als eine angeblich jüdische, also als sehr negativ wahrgenommene Geschäftspraktik. Und darüber erst hat sich diese Zuschreibung entwickelt, und in sehr viel von der modernen Historiographie im 19ten, 20ten Jahrhundert bis heute in viele Lehrbücher hinein wirkt diese Zuschreibung, als sei das von Anfang an eine Spezialität von jüdischen Gewerbetreibenden gewesen, eben Geldhandel zu betreiben. Diese Auseinandersetzungen über Wucher sind aus dem späten 14 Jahrhundert.

Das war spätes Mittelalter.

Musikakzent

Die zweite große Verfolgungswelle kam mit der Pest-Epidemie von 1347. Das führte sogar dazu, dass fast vorsorglich, bevor die Pest überhaupt da war, schon die jüdischen Gemeinden ausgerottet wurden, und das auch auf bestialische Art und Weise, die Menschen wurden verbrannt. Warum?

In diesen Pest-Verfolgungen ist, ähnlich wie bei den Verfolgungen am ersten Kreuzzug, so einen Quantensprung in den Gewaltbeziehungen zu sehen. Auch das ist nicht komplett neu, sondern, zum Beispiel, diese Vorwürfe, die zu diesem Zeitpunkt geäußert werden, nämlich dass Juden ein Interesse haben, die gesamte Christenheit zu vernichten und das versuchen umzusetzen, indem sie Krankheiten verbreiten, indem sie Brunnen vergiften und indem sie quasi versuchen, kollektiv Schaden zuzufügen. Auch dieser Vorwurf ist älter, den sehen wir schon vorher. Und erneut, in dieser traumatischen Situation der Pandemie wird dieser Vorwurf wahnsinnig virulent, kommt mit anderen Vorwürfen zusammen. Aus den Ritualmord-Legenden glaubt man zu wissen, dass Juden besonders grausam sind. Und man greift sich dann diejenigen, die lokal verfügbar sind. Das Interessante dabei ist, dass diese Schauprozesse auch dort passieren, wo wir gar keine jüdischen Gemeinden haben, zum Beispiel im Ostseeraum. Es gibt einen sehr bekannten Fall aus Visby, der sich bezieht auf die Hansestädte Rostock und auch auf die Städte im Preußen des Deutschen Ordens, Danzig und Königsberg, da wird eine Person angeklagt dafür, von den Juden bezahlt worden zu sein, diese Vergiftungen vorgenommen zu haben.

Weil es keine Juden gibt in den Städten.

Genau. Weil es keine Juden gibt, dass quasi der schädliche Einfluss der Juden sich soweit erstreckt, dass es quasi gar keine Juden mehr braucht, sondern andere Leute diese Taten aufgrund ihrer Bezahlung oder ihrer Beauftragung ausführen können. Das ist eine Idee, die schon vorher in weiten Bereichen von Europa, wo es keine jüdischen Gemeinden gab, vorhanden war, Antisemitismus ohne Juden. Wir haben die Juden als Feindbild, als vorgestelltes imaginäres Gesamtböses. Wir haben aber gar keine realen Personen, die irgendeine Art von Korrespondenz mit diesem Bild haben könnten. Das für die Antisemitismusforschung unheimlich interessant. Und dieser vorgestellte imaginierte Jude wird immer weiter ausdifferenziert und kann in unterschiedlichsten historischen Perioden und Gesellschaften, die eben gar keine jüdischen Gemeinschaften haben, auf die sich das irgendwie beziehen könnte, benutzt werden als so eine Art Gegenfolie, als eine Projektion, als eine Matrix für das absolut Böse, und das sehen wir eben ganz deutlich in diesen Pest-Verfolgungen.

Es gab dann Versuche von der Obrigkeit, sowohl der weltlichen als auch der kirchlichen, während der Pest-Pogrome zu bremsen und dem Einhalt zu gebieten, zum Beispiel Papst Martin V. wies auch den Ritualmord zurück. Zitat: „Auch haben wir erfahren, dass man die Juden der Missetat anklagt, sie hätten die Brunnen vergiftet und mischten in ihr Osterbrot Menschenblut, da dieses aber den Juden mit Unrecht vorgeworfen wird, so verbieten wir allen Christen und vorgenannten geistlichen und weltlichen Predigern, dass sie die Christen gegen die Juden in Bewegung setzen.“ Das hat aber nichts geholfen.

Das hat tatsächlich relativ wenig geholfen. Genauso wie die päpstlichen Aufrufe, die Juden nicht zu belästigen und nicht zu töten, helfen die kaiserlichen relativ wenig. Die Gewalt und die Beziehungen werden auf der lokalen Ebene gemacht. Man sieht eigentlich an vielen Stellen, dass bestimmten Autoritäten und Obrigkeiten antijüdische Programme nicht recht sind. Auch im Spätmittelalter, nach den Pest-Pogromen, gibt es neue Verfolgungswellen und Pogrom-Wellen, die manchmal auf die Tätigkeiten von einzelnen Predigern zurückgeführt werden können, franziskanische oder manchmal auch dominikanische Prediger, die herumziehen und auf den Marktplätzen predigen und deren Predigten ganz stark antijüdische Elemente enthalten. Und wir sehen dann an manchen Stellen, dass Städte sagen, wir wollen nicht, dass der herkommt, um diese Pogrome einfach zu verhindern. Also auch da wieder lokale Interessen, die einfach die Unruhe nicht haben wollen, die mit diesem Pogrom auch zusammenhängt, und wiederum eine Interessenslage, die lokal sehr anders ist als eine eventuelle antijüdische Großwetterlage.

Was man nicht vergessen darf, dass die Juden auch fürs Wirtschaftsleben wichtig waren, also Kredite waren einfach notwendig, um die Wirtschaft ins Laufen zu bringen.

Genau, und nicht nur Kredite, sondern auch jüdische Fernhändler, auch begehrte Waren, aber nicht nur die Luxussegmente. Die jüdischen Gemeinden waren einfach da, wo sie existiert haben, relativ komplett ins Wirtschafts-, teilweise auch ins kulturelle Leben der Städte und teilweise auch des Umlands eingebunden. Die waren ja auch nicht eingesperrt in den Städten. Auch Ghettoisierung ist ein viel späteres und auch nur ein sehr lokales Phänomen, sondern die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die sie sich mit den jüdischen Gemeinden beschäftigt, kommt mehr und mehr dazu, die jüdischen Gemeinden als einen ganz integralen Teil der christlichen Mehrheitsgesellschaft zu beschreiben und eher auf gegenseitige Abhängigkeiten abzuzielen, als zu sagen, das war eine Gemeinschaft, die durch rechtlichen Status isoliert war, die sich aus religiösen, kulturellen Gründen selbst isoliert hat und die im Grunde genommen nur gezwungenermaßen, als so eine Art Aliens, innerhalb dieser christlichen Gesellschaften gelebt haben. Das war eine Konzeption von jüdischer Geschichte, die sowohl von christlicher als auch von jüdischer Seite lange gepflegt wurde, mit einem sehr starken Fokus auf diese Andersartigkeit.

Und auf die Trennung. Zum Beispiel diese spitzen Hüte und Merkmale an der Kleidung, das war gar nicht so weit verbreitet?

Nein, die spitzen Hüte sind noch ein bisschen was anderes. Das ist ein ikonographisches Merkmal, das sich zu einem Zeitpunkt ausgebildet hat, als offensichtlich niemand mehr diese Hüte überhaupt getragen hat, also eigentlich eher ein Anachronismus, der dann zu einem ikonographischen Merkmal oder einer Kennzeichnung geworden ist. Es gibt die Notwendigkeit, die Personen, die Jesus gefoltert und getötet haben, als böse zu markieren, und dann gibt es dann bestimmte Gesichtszüge, bestimmte grotesk verzerrte Gesichtszüge, und die fallen dann später zusammen mit einer Markierung von jüdischen Figuren. Was wir noch heute in Karikaturen und stereotypen Darstellungen als so eine sogenannte jüdische Physiognomie wahrnehmen, also bestimmte Gesichtszüge, Nasen, Ohren, Augen, Hautfarbe. Auch hier haben wir im Spätmittelalter Prozesse von einer Rassifizierung, die in der Ikonographie passieren. Und im Spätmittelalter, also nach 1350, auch nach den Pest-Pogromen, haben wir dann quasi das ganze Ensemble dieser Eigenschaften und Bild-Stereotypen,

Musikakzent

In Frankfurt gab es ein jüdisches Ghetto, und an der Alten Brücke in Frankfurt wurde im 15 Jahrhundert die sogenannte Judensau abgebildet, also ein Rabbiner, der verkehrt herum auf einem Schwein sitzt. Eine tiefe Demütigung für alle Juden, für die Schweine unreine Tiere sind. Zum Ende des Mittelalters kam einiges zusammen. Es gab die Erfahrung der beiden großen Pogrom-Wellen, Kreuzzüge und die Pest- Pogrome. Hinzu kam dann 1492 auch die Vertreibung der Juden aus Spanien. Das war dann eine sehr schwierige Zeit. Wo konnten sie dann noch bleiben, zu der Zeit?

Es stimmt schon, dass das 15. Jahrhundert eine ziemlich schlechte Zeit war für sehr viele jüdische Gemeinden im Heiligen Römischen Reich. Es hat umfassende Vertreibungen gegeben aus einzelnen Regionen, Mecklenburg zum Beispiel. Man sieht an vielen Stellen dann aber doch, dass Juden in einzelne Städte, in einzelnen Gemeinden zurückgekommen sind. Das war eigentlich bei all diesen Vertreibungswellen der Fall. Die waren nie von ganz langer Dauer, sondern das waren quasi bombastische, gewaltvolle, schreckliche Ereignisse und Ankündigungen, und einige Jahrzehnte später sieht man dann wieder so eine Normalisierung der Verhältnisse. Grundsätzlich hat es im Spätmittelalter aber schon durchaus so viele umfassende und auch auf übergeordneter Ebene politisch gestützte Vertreibungen gegeben, dass man sagen kann, dass da die Siedlungsmuster sich verändert haben, also vor allem Richtung Osten, Richtung Polen. Im polnischen Königreich waren sehr viel günstigere rechtliche Rahmenbedingungen für jüdisches Leben gegeben.

Mit Martin Luther wurde es auch nicht unbedingt besser. Zunächst hat er noch einen Missionsgedanken offenbar gehabt, viele Juden zum Christentum zu bekehren, dann schrieb er aber 1543, Zitat, die Juden seien „1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück“ gewesen, sie seien „rechte Teufel“. Das waren keine guten Aussichten.

Ganz bestimmt nicht. Gerade der Antisemitismus von Martin Luther ist ja sehr lange runtergespielt und ignoriert worden im Zuge von so einer allgemeinen Reformations-Begeisterung, würde ich mal sagen.

Da durfte es nicht wahr sein.

Ja, und jetzt in den letzten Jahren und Jahrzehnten hat die Forschung da verstärkt einen Fokus drauf elegt und hat sich mit der Entwicklung von Luthers antijüdischem Gedankengut beschäftigt, und da sieht man auch relativ klar ein Zusammenfließen von spätmittelalterlichen Ressentiments. Erstaunlicherweise hat auch Luther sich nicht alles ganz neu ausgedacht, was er geschrieben hat, und hat das kombiniert mit so einer Art, ja, man kann fast sagen, persönlichen Enttäuschung, dass jetzt, wo es die neue, bessere christliche Religion gab, dass sie nicht mitmachen wollten, eine geschichtliche Enttäuschung gewissermaßen, die bei ihm dann eben ab den 1540er Jahren spätestens in diesen antijüdischen Ausfällen gemündet ist, und die dann aber auch von ihm, und das war eigentlich nochmal das gefährliche daran, mit ganz starken politischen Forderungen verbunden wurden, nämlich konkreten Forderungen an die lutherischen Landesherren und Reichsfürsten, eben erneut Juden aus ihren Gebieten zu vertreiben. Hat auch da nicht immer umfassend funktioniert. Aber da sehen wir so ein ganz starkes Zusammenfließen von kirchlichen und weltlichen politischen Forderungen zur Vertreibung, und das ist nochmal wieder ein ganz neues, gefährliches Moment.

Ist ja ohnehin ein Thema: die Vermischung von religiöser und weltlicher Macht bei Martin Luther. Die letzte Frage, die ich noch habe, ist: Sie haben ja herausgefunden bei Ihren Forschungen, dass viele antijüdische Ressentiments erstens sehr früh entstanden sind und eine unglaubliche Zähigkeit entwickelt haben, trotz aller Widerlegung. Was denken sie, warum ausgerechnet die jüdische Minderheit immer wieder als Sündenbock herhalten musste? Woran liegt das?

Das ist eine Frage, die sich natürlich schon sehr viele vor mir und vor uns gestellt haben. Ich denke, die Dominanz und die Ausbreitung der christlichen Religion und des christlichen Kulturkreises über das europäische Mittelalter hinweg ist der entscheidende Faktor. Das spielt eigentlich überhaupt keine Rolle, wo die sind oder nicht sind, sondern das, was relevant ist, ist die Anbindung und Einbindung von Regionen in Europa in den christlichen Kulturkreis. Antijudaismus kommt mit der christlichen Religion, die Bilder kommen, die Texte kommen, die Gedanken kommen, und in dem Moment, wo dann in Regionen eine jüdische Minderheit tatsächlich sich ansiedelt, ist häufig der Antijudaismus schon da, das heißt: die treffen schon auf Stereotypen und eventuell auch auf Feindlichkeit, gegen das diese jüdische Gemeinde erst mal angehen muss. Diese tiefe Verankerung dieser Ressentiments in der christlichen Religion, der christlichen Kultur, ist ganz wichtig. Und dann die Tatsache, dass dieses christliche Europa nicht sonderlich gut darin ist, eine Art von übergeordnetem rechtlichem Status zu schaffen für nicht christliche Minderheiten. Es gibt quasi nicht einen festen Status, wo alle Nichtchristen rein könnten, wo klar ist, was die an Steuern bezahlen, wo klar ist, wie deren rechtliche Beziehungen zur christlichen Mehrheit aussehen, sondern das ist immer wieder ganz fragil. Nicht nur die jüdischen Gemeinden haben ja diese Erfahrung von Gewalt und Vertreibung, sondern auch die christlichen Gemeinden und Gesellschaften haben die Erfahrung von: Wir können das machen mit denen. Wir können die ungestraft töten, vertreiben, in Ghettos sperren, in einen eigenen Rechtsstatus sperren, und diese Gemengelagelage aus kulturellen Entwicklungen und konkreten Gewalt- und Rechtserfahrungen sind, glaube ich, das, was Antisemitismus so tief in der europäischen Kultur verankert, und mit der Ausbreitung dieser europäischen Kultur über weite Teile der Welt in der Frühen Neuzeit und Moderne dann kommen eben auch diese Aspekte mit in die Welt.

Hat die muslimische Welt das anders geregelt mit dem Rechtsstatus für Juden?

Die hat das lange anders geregelt. Es gibt in den vormodernen muslimischen Gemeinschaften den Rechtsstatus des Dhimmi, in denen sowohl Juden als auch Christen hineinkommen, und eben alle anderen, die nicht muslimisch sind. So eine Art festgefügter Box, wo die rein können, und da müssen eben diese groben Rahmenbedingungen nicht immer wieder neu ausgehandelt werden.

Sorgte das für mehr Sicherheit für jüdische Menschen?

Auch die muslimische Welt ist sehr, sehr groß und blüht und gedeiht unterschiedlich in ganz unterschiedlichen Regionen, aber ich denke, dieser Grundgedanke: Wir haben einen Status für Personen, die nicht der eigenen Religion angehören, wir müssen die nicht alle konvertieren, oder wir müssen die nicht alle in unseren eigenen Rechtsstatus hineinpressen, ist schon ein sehr großer Unterschied zu dem christlichen Gedanken, der einfach mit dieser religiösen Andersartigkeit nicht sonderlich gut umgehen kann.

Frau Heß, vielen Dank!

Ich danke Ihnen.

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus

Folge 3: Judentum im Mittelalter

Heiner Wember im Gespräch mit Cordelia Heß

Gefördert vom Bundesministerium des Innern und für Heimat.

Wenn Sie sich mit dem Thema der gerade gehörten historycast-Folge noch weiter auseinandersetzen wollen: Hören Sie doch mal beim WDR-Zeitzeichen rein. Dort finden Sie eine Reihe von spannenden Sendungen zu ähnlichen Themen. Die Links dazu haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt.

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