Israel. Zionistischer Traum, politische Realität
Shownotes
Michael Brenner schildert die Entstehung des Zionismus im 19. Jahrhundert als Reaktion auf osteuropäische Pogrome und einen wachsenden rassisch begründeten Antisemitismus in Westeuropa. Er beschreibt, wie unter Theodor Herzls Führung die Vision eines sicheren jüdischen Zufluchtsorts entstand, die 1948 mit der Gründung Israels Realität wurde. Brenner beleuchtet die Vorgeschichte und den Verlauf des Nahostkonflikts. Er plädiert für eine Zwei-Staaten-Lösung und betont, wie wichtig es für einen dauerhaften Frieden sei, auch die je unterschiedlichen historischen Narrative von Israelis und Palästinensern anzuerkennen.
Prof. Michael Brenner lehrt und forscht über Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist außerdem Inhaber eines Lehrstuhls für Israel-Studien an der American University, Washington D. C. Er hat Studien zur Geschichte des Zionismus‘, zur Geschichte Israels und zu Jüdischem Leben und Jüdischer Identität nach dem Holocaust veröffentlicht.
Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.
Die didaktischen Materialien finden Sie hier: [https://historycast.de/]
Staffel 3, Folge 2 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]
Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat.
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TEASER:
BRENNER: Wir müssen uns damit beschäftigen, dass die Zukunft, sowohl für Juden wie auch für Palästinenser, in dieser Region sein wird. Die gehen nicht irgendwo anders hin, und sie müssen miteinander auskommen.
Was war – was wird
Der Historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus
Folge 2: Israel. Zionistischer Traum, politische Realität.
Almut Finck im Gespräch mit Michael Brenner
FINCK: Israel umfasst eine Fläche, die in etwa der des Deutschen Bundeslandes Hessen entspricht. Das ist ein vergleichsweise kleines Gebiet, auf dem sich aber seit Jahrzehnten einer der komplexesten, jetzt nicht regionalen, sondern geopolitischen Konflikte unserer Zeit abspielt. Gegenwärtig scheint eine Lösung ferner denn je.
Herr Brenner, wenn wir jetzt gemeinsam zurückblicken in die Geschichte Israels, in die Geschichte der Region, können Sie ein Schlüsselereignis, einen Kipppunkt identifizieren, der Ihrer Meinung nach die Weichen für diesen Konflikt gestellt hat.
BRENNER: Ich antworte jetzt ein bisschen ironisch. Vielleicht der Moment, in dem Moses die Gesetzestafeln empfangen hat. Ich sage natürlich nicht, dass das ein historisches Erlebnis ist. Aber ich denke, es gibt nicht diesen einen Punkt in der Geschichte. Das würde es viel zu einfach machen. Das Problem und das wollte ich damit andeuten, ist, dass diese Geschichte sehr lange zurückreicht in der kollektiven Erinnerung der Völker.
Michael Brenner, Sie sind Historiker und forschen über Jüdische Geschichte und Kultur. Sie sind Professor in München an der Ludwig-Maximilians-Universität, und Sie lehren gegenwärtig, noch vier Jahre lang, bis 2028 an der American University in Washington, D.C., wo Sie einen Lehrstuhl für Israel-Studien haben. Von dort aus sprechen wir heute auch miteinander, also über eine ziemliche Distanz. Schön, dass das technisch klappt. Und schön, dass Sie heute Gast sind in unserem historycast, in unserem Podcast.
Ja, ich freue mich auch.
Sie sind, Herr Brenner, unter anderem, ein international renommierter Experte für die Geschichte des Zionismus. Der Zionismus ist aktuell einmal mehr Gegenstand heftigster Debatten. Zionist ist, leider, muss man sagen, ein Schimpfwort geworden. Weil Sie gerade die Geschichte angesprochen haben: Wir müssen ja jetzt nicht bei den Gesetzestafeln anfangen, aber vielleicht beim Zionismus. Wie entstand der Zionismus oder die verschiedenen Versionen von Zionismus? Und was war er? War das eine Befreiungsbewegung, eine nationale Bewegung, eine religiöse Bewegung?
Alles. Sicherlich haben die Zionisten, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts als eine politische Bewegung gegründet haben, sich als Befreiungsbewegung empfunden, nämlich als eine Befreiung vor dem Antisemitismus in Europa. Sie haben sich als eine nationale Bewegung empfunden, die das jüdische Volk an seinen Ursprungsort, das Land Israel, zurückführen sollte. Und sie haben sich später, damals noch nicht, auch immer mehr in einem religiösen Sinn definiert.
Sie sagen: Antisemitismus in Europa? Wir sprechen jetzt vom 19. Jahrhundert. Was passierte da?
Der jahrhundertelang existente Judenhass wurde von einem doch stark religiös geprägten Phänomen zu einem rassisch und auch politisch geprägten Phänomen. Das heißt, während früher zum Beispiel die Taufe zum Christentum, den Einzelnen oder die Einzelne vor den Verfolgungen retten konnte, spielte das bei dem Rassenantisemitismus keine Rolle mehr. Das war das eine. Das andere war, dass der Antisemitismus auch immer mehr zu einer politischen Waffe wurde. Zu einer politischen Waffe im Kampf gegen den Liberalismus, gegen die Moderne, gegen moderne kulturelle Strömungen, gegen alles Mögliche. Und es gab am Ende des 19. Jahrhunderts, in Deutschland, etwa im Kaiserreich, dezidiert antisemitische Parteien. Es gab aber auch eine zunehmende Unterwanderung von Massenorganisationen, vor allem des Mittelstands, durch antisemitische Resolutionen, durch den Ausschluss jüdischer Mitglieder, durch die Zurückweisung von Juden. Das ging bis in Studentenverbindungen, das ging in Turnvereine, später auch in den Alpenverein, Wandervereine usw. In Osteuropa war dieser Antisemitismus wesentlich virulenter und drückte sich in den Pogromen aus. Also Gewalt gegen Juden, im Zarenreich, wo der Großteil der jüdischen Gemeinden weltweit zu Hause war. Und das resultierte wiederum in einer Auswanderungsbewegung von Juden aus dem Zarenreich seit Beginn der 1880er Jahre, vor allem nach Amerika.
Ich habe das mal nachgeguckt, die Zahlen sind wirklich frappierend. Das waren ab 1880, bis 1920, bis dann die Einwanderung beschränkt wurde in den USA – waren das 2 Millionen.
Ja, in der Tat stammen die meisten amerikanischen Juden heute von Vorfahren ab, die zwischen 1880/1920 aus dem Zarenreich und den Nachfolgestaaten ausgewandert sind.
Noch mal zurück zum Zionismus. Wie begann das? Wie fing das an? Die meisten Juden, oder sehr viele, gerade in Westeuropa, dachten ja überhaupt nicht daran. Die wollten sich ja assimilieren. Theodor Herzl, der als der Begründer des politischen Zionismus gilt, ja auch.
Ja, es ist eine sehr … natürlich komplexe Geschichte. Der Gedanke der Auswanderung und der Ansiedlung im Heiligen Land, der geht ja Jahrhunderte zurück, nämlich bis in die Antike, als die Juden größtenteils vertrieben wurden aus dem Land Israel oder, wie es dann später, seit römischer Zeit hieß, Palästina, eben auch um den jüdischen Namen auszutilgen. Aber, er wurde so verstanden, dass erst nach dem Erscheinen des Messias die Juden wieder ins Land gehen sollten und dann ihren Staat, ihre Souveränität wiederfinden sollten.
Also bloß nicht vorgreifen dem lieben Gott, sondern warten, bis der von alleine kommt.
Genau. Der Messias muss erst erscheinen, und dann kann es diese Rückkehr geben. Es gab viele Momente in der jüdischen Geschichte, in dem so genannte falsche Messiasse erschienen, der bekannteste im 17. Jahrhundert, Schabtai Zwi, im Jahr 1666. Da bereiteten sich Tausende, vielleicht Hunderttausende von Juden in Europa, im Osmanischen Reich auf diese Rückkehr vor. Diejenigen, die daran glaubten, er sei der Messias, verkauften ihr Haus, haben schon die Koffer gepackt, warteten darauf. Als dann nichts passierte, ist die Bewegung wieder abgeebbt.
Mit dem Zionismus war es anders. Es war eine säkulare Bewegung. An der Spitze standen säkulare Figuren, und die meisten orthodoxen Juden waren darüber nicht so erfreut, denn für sie war das Gotteslästerung und teilweise, für ultraorthodoxe Juden, ist das bis heute noch so, die sich mit dem Zionismus nicht anfreunden können. Aber es gab natürlich auch andere Gründe, von eher assimilierten oder religiös liberal reformierten Juden, die sagten: Wir sind deutsche oder französische Staatsbürger jüdischen Glaubens, und unsere Heimat ist natürlich in Deutschland oder in Frankreich. Wir werden doch nicht in diese Wüste, in diesen Nahen Osten einwandern. Theodor Herzl, der 1896 auf die politische Bühne trat, mit seinem Werk Der Judenstaat, und ein Jahr später den ersten Zionistenkongress einberief, hatte damit nur eine Minderheit der Juden ansprechen können. Als er den ersten Zionistenkongress in München einberufen wollte, hat ihm die Münchner Jüdische Gemeinde ganz klar und deutlich gesagt: Nicht bei uns! Wir wollen mit dieser Bewegung nichts zu tun haben. Wir sind doch deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens und Bayern natürlich, bayerische Juden. Und der Allgemeine Deutsche Rabbinerverband, in dem orthodoxe und liberale Rabbiner damals zusammen waren, hat auch gesagt: Nicht bei uns. Und dann hat er eben in Basel, in der Schweiz, wo es nur eine kleine jüdische Gemeinde gab, den ersten Zionistenkongress einberufen. So gibt es heute in Israel in jeder Stadt eine Baselstraße und keine Münchenstraße.
Theodor Herzl hat ja dann auch versprochen: Ihr müsst überhaupt keine Angst haben, dass ihr da jetzt in der Wüste landet, sondern das wird ganz wunderbar. Das wird wie in Europa. Wir haben da Kaffeehäuser und Opern und Zeitungen und Universitäten. Also, er hat etwas skizziert, was die Leute eben nicht abschreckte. War das Taktik oder war das wirklich seine Überzeugung? Wollte er sozusagen ein Paris in Palästina oder ein London in Palästina?
Das war seine Überzeugung. Theodor Herzl wäre nie im Leben Zionist geworden, wenn es diese Zurückweisung, diesen Antisemitismus nicht gegeben hätte. Und zunächst hatte er einen sehr konventionellen Vorschlag. Die Wiener Juden – er würde sie in den Stephansdom führen, und sie würden alle katholisch getauft, bis er realisierte, ja, mit dem neuen rassisch begründet Antisemitismus hat das ja wenig Sinn. Also dachte er daran, die einzige Lösung, aus der Not heraus geboren ist, wir müssen unseren eigenen Staat in Palästina … – Er hatte ursprünglich auch noch in Argentinien gedacht als Alternative. Aber dann wurde ihm klar, das geht nur in der historischen Heimat, in Palästina. Aber was er dort wollte, ganz richtig, wie Sie sagen, ist so eine kleine Schweiz im Orient, also ein kleines Europa.
Sein Ideal, das wird in seinen späteren Schriften noch deutlicher, war es, eine ideale, fast utopische Gesellschaft aufzubauen, die das Beste aus Europa mitnehmen wollte, und das Schlechte, dazu gehörten auch Rassismus und Ausgrenzung und religiöser Fanatismus – all das lassen wir in Europa. Und wir bauen eine ideale Gesellschaft, die er, – übrigens, er hat nie das Wort Israel gebraucht – die nannte er häufig das Siebenstundenland. Die erste Fahne, die er in sein Buch zeichnen und erst ein Tagebuch zeichnete, hat sieben Sterne gehabt, für die sieben Arbeitsstunden des Tages. Er hat sich vorgestellt, es gibt einen 14-Stunden-Arbeitstag in zwei Schichten, und jede Person arbeitet nur sieben Stunden. Es ging um solche Utopien, um gesellschaftliche Utopien. Das Jüdische war ihm ziemlich egal. Er war ein völlig assimilierter Jude, der den Weihnachtsbaum bei sich zu Hause aufstellte, seinen Sohn weder beschneiden ließ, noch ihm eine Bar Mitzwa machen ließ, und natürlich kein Hebräisch sprach.
Wie hat er sich das mit den Arabern gedacht? Die waren ja nun mal da, und das wusste er ja auch.
Ja, im Gegensatz zu dem, was oft behauptet wird, war er sich dessen bewusst. Aber er hat das völlig, ich sage mal, unterschätzt und idealisiert. Den Konflikt unterschätzt, das Konfliktpotenzial, und die Situation und deren Empfindsamkeiten idealisiert. Denn er konnte sich, und das wird in seinen Briefen deutlich, überhaupt nicht vorstellen, dass die arabische Bevölkerung Palästinas diesen Fortschritt und die Technik, die Elektrizität, die neuen landwirtschaftlichen Methoden, den Städtebau, dass sie das ablehnen würden. Da war er natürlich voll und ganz Europäer seiner Zeit und hat auch durchaus paternalistisch geglaubt, hier werden wir mit offenen Armen empfangen werden. Da gab es schon zu seiner Zeit Kritiker innerhalb der zionistischen Bewegung, die ihm Naivität vorgeworfen haben, ihm vorgeworfen haben, hier einfach realitätsfern zu sein.
Musikakzent
Wie ging es denn dann weiter? Er starb ja relativ früh, 1906 …, ist das richtig?
1904.
1904 ist er gestorben, und wir haben bis zur Zwischenkriegszeit, also bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, bei den allermeisten Zionisten noch gar nicht diese Vorstellung: Wir wollen da mal einen Staat, also einen wirklich souveränen Staat. Sondern – Herzl selber sagte: Wir wollen eine rechtlich abgesicherte, eine Heimstätte. Das kann ganz viel heißen. Wann änderte sich das und wodurch?
Es änderte sich wirklich vieles im Ersten Weltkrieg. Besonders im Jahr 1917, als die Briten drauf und dran waren, Palästina von den Osmanen einzunehmen, und Versprechungen machten. Und zwar auf allen Seiten, sie versprachen der arabischen Bevölkerung und den Juden beziehungsweise den Zionisten.
Auf der einen Seite die Balfour-Erklärung, und auf der anderen Seite der McMahon-Briefwechsel. Also jeweils Versprechungen, wie ernst auch immer, in die eine oder in die andere Richtung. 1915 und 1917.
Ich würde gar nicht nur diese beiden Dokumente nennen. Es gab tatsächlich Versprechungen, die die Briten im McMahon-Briefwechsel, aber auch in anderen Dokumenten an arabische, vor allem Stammesfürsten machten. Natürlich, es war Krieg. Man suchte nach Verbündeten. Und man hat nach beiden Seiten seine Fühler ausgestreckt. Und man muss dazu sagen, dass natürlich die arabischen Verbündeten die viel Wichtigeren waren. Sie waren in der Region. Sie hatten schon die Ansätze, teilweise, auf der arabischen Halbinsel zu einer späteren Staatlichkeit. Das war das Zentrum des Islam und seiner heiligen Stätte. Die Juden waren eine sehr kleine Gruppe, und sie hatten keinen eigenen Staat und keine eigene Armee und keine eigene Territorialität, in der sie konzentriert waren. Das heißt, es waren auch andere Motive, die dann dahinterstanden, als der britische Außenminister Lord Balfour im November 1917 einen Brief an einen Lord Rothschild in England schickte, in dem er, als damaliger britische Außenminister, den Juden eine nationale Heimstätte in Palästina versprach.
Ich hab‘ hier den Brief, ich würde den gerne mal kurz zitieren.
Ja … Gerne.
Verehrter Lord Rothschild, ich bin sehr erfreut, Ihnen mitteilen zu können: Die Regierung seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Ziels zu erleichtern, wobei – jetzt kommt ein entscheidender Nachsatz, der wird auch oft weggelassen – wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte. Zitat Ende.
Ja. Das ist wirklich ein Paradebeispiel eines Dokuments, das so verschwommen formuliert ist, dass jede Seite ihre Auslegung für sich beanspruchen kann. Was heißt eine jüdische Heimstätte? Das ist kein juristischer Begriff, der damals oder heute auch irgendeine ganz klare Bedeutung hat. Ist das ein Staat? Ist es eine Autonomie innerhalb vielleicht des britischen Weltreichs, oder damals vielleicht sogar noch des Osmanischen Reichs? Ist das vielleicht so was wie später ein Dominion? Es ist nicht klar. Die nationale Heimstätte. Was heißt in Palästina? Was ist eigentlich Palästina? Was sind die Grenzen von Palästina? Palästina war keine Region, keine Provinz des Osmanischen Reichs, die klar definiert gewesen wäre. Dann auch die anderen Zusätze. Also, es sollen nicht die Rechte der Einheimischen, also der arabischen Bevölkerung, eingeschränkt werden. Auch sehr wichtig.
Ist es aber nicht auch schon ein sehr signifikanter Unterschied, dass in diesem Brief die Rede ist
von dem jüdischen Volk? Aber den nichtjüdischen Gemeinschaften?
Ja, da kommen wir natürlich zu einer ganz wichtigen Frage. Was sind eigentlich die Juden? Sind Sie ein Volk, eine Nation? Sind sie eine Religion? Sind sie vielleicht eine Kulturgemeinschaft? Es gab alle möglichen Begriffe. Natürlich haben dann nicht erst die Nazis den Begriff der Rasse eingeführt. Die deutschen Juden haben manchmal von Abstammungsgemeinschaft oder auch von einem Stamm …, es gibt den jüdischen Stamm in Deutschland, so wie die Bayern und die Sachsen. Das hat Walther Rathenau, der Außenminister, gerne ins Spiel gebracht. Also, was sind Sie eigentlich? Und nach welcher Definition ist man jüdisch? Ja, wenn man von einer jüdischen Mutter geboren wird, der Vater ist hier nicht das Entscheidende, also ein ethnisch-biologischer Begriff, wenn man so will. Oder wenn man zum Judentum konvertiert. Also eigentlich ein religiöser Akt der Konversion. Und ich glaube, diese Unsicherheit verwirrt bis heute sehr viele Menschen. Wenn wir zurückgehen in die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts, dann sieht man, dass diese Unterschiede regional sehr ausgeprägt waren. Je weiter wir nach Osten gehen, desto klarer wird, die Juden verstehen sich als Nationalität. Sie sprechen ihre eigene Sprache, Jiddisch. Sie sind oft auch an ihrer Kleidung zu erkennen, Anfang des 20. Jahrhunderts, oft an ihren Berufen zu identifizieren, weil sie in bestimmte Berufe gedrängt wurden, in anderen nicht sein durften. Und je weiter wir nach Westen gehen, desto mehr wurden sie eben integriert als Staatsbürger und Staatsbürgerinnen, was sie im Osten nicht wurden, und definieren sich nun im Westen über ihre Religion. Aber was passiert, wenn sie sich säkularisieren, wenn sie nicht an Gott glauben, nie in die Synagoge gehen, kein hebräisches Gebet verstehen? Verlieren sie dann ihr Judentum? Viele haben sich dann kulturell etwa als Juden definiert oder über die Verfolgung, wie, ich nehme ein Beispiel, der erste bayrische Ministerpräsident Kurt Eisner, der sagte, solange es den Antisemitismus gibt, werde ich mich immer mit dem Judentum identifizieren. Er hatte nichts mit Religion am Hut und nichts mit Zionismus. Aber für ihn war das entscheidend. Und so sehen wir also, dass diese Formulierung auch in der Balfour-Deklaration Eingang findet. Balfour erkennt an, dass manche Juden sich über die Nationalität definieren. Die Zionisten etwa. Aber nicht nur, es gab auch andere, wie Sie eben gesagt haben, als Gemeinschaft. Das kann auch religiöse Gemeinschaft bedeuten.
Aber – In der Balfour Erklärung – dem jüdischen Volk wird zugestanden, ein Volk zu sein, wie immer ambivalent und vielschichtig und offen dieser Begriff ist. Von den nichtjüdischen „Völkern“ heißt es nicht Völker, da heißt es Gemeinschaften. Und das ist in Bezug auf die Palästinenser in der Region lange, lange Zeit so gewesen. Denken wir an Golda Meir. Lange nach der Staatsgründung, in den 70er Jahren, hat sie noch gesagt, …
Es gibt kein palästinensisches Volk.
Sie sind alles, aber nicht ein Volk. Und dann, während des Friedensprozesses in den 1990er Jahren, hat sozusagen das Gegenteil Schimon Peres gemacht. Er hat nämlich gesagt, Zitat Schimon Peres: Was dem jüdischen Volk widerfahren ist, sagte ich mir, ist beispiellos. Ein Volk kehrt in sein Land zurück, zu seiner Sprache. Nach einer so langen Zeit. Auch den Palästinensern kann etwas Einmaliges widerfahren. Sie, die niemals vorher ein Volk waren, werden von nun an ein Volk in der Völkerfamilie werden. Zitatende. Das hat Schimon Peres gesagt. Also, da sehen wir schon einen großen Unterschied.
Na ja, ich meine, selbst Schimon Peres hat ja gemäß dieses Zitats den Palästinensern die eigene Volkszugehörigkeit bis wohl in die 90er Jahre dann abgesprochen. Also – das ist natürlich, ich sag mal, ein Spiel, dass in einem Konflikt zwischen Nationen, Völkern, auch Staaten, sehr gerne gespielt wird. Dass man dem anderen die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft oder zu einer Nation abspricht. Das ging in beide Richtungen. Und es gibt natürlich bis heute auch sehr viele Juden, die sagen, wir sind kein Volk, wir sind eine Religionsgemeinschaft. Muss man auch akzeptieren. Aber es gibt sehr viele Juden, die sagen, wir sind Teil eines jüdischen Volkes, und wenn wir Teil eines Volkes sind, so hat der Zionismus argumentiert, haben wir wie jedes Volk Recht auf einen Staat. Umgekehrt bei den Palästinensern. Die palästinensische Nationalbewegung hat sich auch erst langsam, im 20. Jahrhundert, herausgebildet. Und manchmal war das auch unklar, war man Teil einer Bewegung, die einen palästinensischen Staat wollte? Oder, was anfangs dominant war, Teil einer eher panarabischen Bewegung, die einen größeren arabischen Staat wollte. Diesen Panarabismus gab es ja bis in die 60er Jahre hinein. Nasser, der damalige ägyptische Präsident, hat ja noch einen Staat, Vereinigte Arabische Republik, mit Syrien ausgerufen, obwohl es gar keine gemeinsame Grenze gab. Also diese Idee, dass das arabische Volk ein Volk ist, konkurrierte teilweise mit den Ideen, dass es eben die jeweiligen Nationalstaaten gab. Aber ich denke, wir sind heute und seit langem in einer Situation, in der klar ist, dass der Großteil des jüdischen Volkes, das in Israel lebt, und der Großteil der palästinensisch-arabischen Bevölkerung jeweils den Anspruch auf ihre eigene Nationalität und damit auch staatliche Souveränität bekundet haben und man das auch respektieren muss.
Musikakzent
Sie sind, Herr Brenner, hab‘ ich vorhin schon gesagt, der Spezialist für die Geschichte des Zionismus‘. Deswegen möchte ich jetzt auch die Chance nutzen und mit Ihnen da noch etwas detaillierter drüber sprechen. 1948, als der Staat Israel proklamiert wird, von Ben Gurion. Alle kennen das Foto: Er steht dort und über ihm hängt sehr, sehr groß dieses Porträt von Theodor Herzl. Wie viel Herzl steckt drin in dem Staat, der damals proklamiert wurde? Und weil wir schon mehrfach Zitate hatten, möchte ich mir jetzt erlauben, ein Zitat aus der Unabhängigkeitserklärung vorzulesen. Damals, genau dieser Moment,1948. Zitat: Wir bieten allen unseren Nachbarstaaten und ihren Völkern die Hand zum Frieden und guter Nachbarschaft und rufen zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe mit dem selbstständigen jüdischen Volk in seiner Heimat auf. Der Staat Israel ist bereit, seinen Beitrag bei gemeinsamen Bemühungen um den Fortschritt des gesamten Nahen Ostens zu leisten. Wie viel Herzl steckt da drin?
Ich glaube, nach all dem, was man so lesen kann von ihm, dass er im Prinzip schon mit vielem, was Ben Gurion da aus der Unabhängigkeitserklärung vorlas, übereingestimmt hätte, auch mit dem Aufruf zum Ausgleich mit den arabischen Palästinensern, mit den Nachbarstaaten. Herzl, und das wird ganz deutlich auch in seinem utopischen Roman Altneuland, ging es immer darum, dass Juden und Araber friedlich miteinander auskommen sollten. Er war nur gegen die Fanatiker, und vor allem gegen die jüdischen Fanatiker. Das sollten vielleicht heute mal einige in der israelischen Regierung lesen, die das Herzl-Porträt über sich hängen haben. Für ihn gibt es da einen fanatischen orthodoxen Rabbiner, der den Arabern nicht die gleichen Rechte geben will. Und der darf keine Rechte haben.
In seinem Roman.
In seinem Roman Altneuland. Und viele, die dieses Porträt, von dem Sie gerade sprachen, heute in ihren Büros haben, haben nie den Herzl gelesen. Dann gab‘s natürlich auch einiges, das ihm nicht gefallen hätte. 1948. Angefangen mit der hebräischen Sprache, die er nicht sprach und die er eigentlich nicht wollte, als Sprache für diesen Staat. Bis zu der Tatsache, dass dieser Staat eben durch einen Krieg entstand, weil er nicht anerkannt wurde von seinen Nachbarn und von der arabischen Bevölkerung in diesem Staat. Und Herzl hatte sich in seiner … ja, Naivität kann man nur sagen, hatte sich ja immer gedacht, ja, es wird eine Armee geben, aber die Soldaten, die bleiben in ihren Kasernen. Und, ich komme zum letzten Punkt, den er sich auch anders vorgestellt hätte. Er dachte, die Rabbiner bleiben in ihren Synagogen. Also, die Religion wird strikt vom Staat getrennt. Und da hat David Ben Gurion schon erste Kompromisse mit den Orthodoxen geschlossen, die er später in seinem Leben auch schwer bedauert hat. Für die heute die säkulare Mehrheit in Israel einen Preis zahlen muss, einen schweren Preis.
Wir haben die Staatsgründung – 1948. Unter dem Porträt von Herzl, des Zionisten. 1975, ausgerechnet am 10. November, also ziemlich genau 27 Jahre nach der Reichspogromnacht, beschloss die UN-Vollversammlung, den Zionismus zu brandmarken als eine Form des Rassismus. Was ist da passiert?
Es war letztlich nichts anderes als der Ausdruck einer sehr lang gehegten Ablehnung des Projekts Jüdischer Staat durch die arabische Welt. Und ich sagte dazu, das ist ja durchaus auch verständlich aus deren Sicht, denn für sie war dieser Staat ein Eindringling. Für sie galt: Wir müssen jetzt den Preis dafür zahlen, was die Europäer den Juden angetan haben. Und deswegen wurde von Anfang an dieses Staatsprojekt abgelehnt. Natürlich kann man nachträglich sagen: Hätte die arabische Staatenwelt 1947 den UNO-Teilungsbeschluss akzeptiert, dann hätte es damals schon die Zweistaatenlösung gegeben. Denn die UNO beschloss im November 1947, das damals britische Mandatsgebiet Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen. Und da kamen viele Gründe, warum das abgelehnt wurde. Unter anderem auch die eigenen Machtgelüste der ja noch jungen Staaten Jordanien – damals hieß das ja noch Transjordanien, weil es nur östlich des Jordans war – Transjordanien hat sich sehr gerne das Westjordanland und vor allem Ostjerusalem mit allen heiligen Stätten einverleibt und auch annektiert, im Übrigen, denn so wurde Transjordanien zu Jordanien, und Ägypten hat den Gazastreifen zwar nicht annektiert, aber besetzt und für sich eingenommen, so dass die Palästinenser auch von der arabischen Seite keinen Staat bekamen, der ihnen eigentlich von der UNO zugesprochen war. Und diese Ablehnung der Anerkennung des Staates Israel setzte sich über weitere Kriege hinweg fort, von denen natürlich der Sechstagekrieg 1967 der folgenschwerste war.
Warum ist der Sechs-Tage-Krieg so eine besondere Wegmarke?
Nun, ich würde den Sechstagekrieg eigentlich als zweite Staatsgründung Israels bezeichnen. Denn Israel hat sein Staatsgebiet, zumindest das, was dann militärisch besetzt wurde, mehr als verdoppelt. Es kam also hinzu: Ostjerusalem, die Altstadt, die gesamte Altstadt mit allen heiligen Stätten, auch der Juden, also die Klagemauer, die Westmauer des Tempels, für die es, das wird oft vergessen, zwischen 1948 und ’67, also unter jordanischer Besatzung kein Recht des Zugangs gab. Kein Jude durfte zu dieser heiligen Stätte gehen, etwas anders als nach 1967, als natürlich Muslime und Christen ihre Stätten besuchen konnten. Also die Einnahme Ostjerusalems, die Einnahme des Westjordanlands, der Golanhöhen von Syrien und des Gazastreifens und der Sinai Halbinsel von Ägypten. Ich glaube, es gibt viele Anzeichen dafür, dass die israelische Regierung damals unter einem doch sehr gemäßigten Ministerpräsidenten Levi Eshkol bereit gewesen wäre, dieses Pfand gegen das Angebot „Frieden und Akzeptanz Israels“ zurückzugeben. Man sagt dann immer, der Anruf – Eshkol wartete auf diesen Anruf aus Kairo, aber dieser Anruf kam nie. Für die Arabische Liga war klar: Keine Verhandlungen mit Israel, keine Anerkennung Israels. Und so kam es also dazu, dass in Israel diejenigen, die von vornherein die Annektierung dieser Gebiete, vor allem des Westjordanlands, wollten, immer mehr Gewicht erhielten. Das waren rechtsnationale Kreise, die lange bis 1977 in der Opposition waren, die nun aber eine Art neue Avantgarde, neue Elite für viele wurden. Und diese Siedler in diesen Siedlungen im Westjordanland ersetzten in ihrem eigenen Glauben den Pioniergedanken der sozialistisch geprägten Kibbuzim, also der landwirtschaftlichen Kollektive. Und es gab einen wichtigen israelischen Philosophen, Jeschajahu Leibowitz, der mal sagte, Israel hat den Sechstagekrieg am siebten Tag verloren. Also, es gab einen militärischen Triumph in sechs Tagen, es gab die Besatzung, es gab eine Euphorie, aber dann hat man vergessen, was machen wir eigentlich mit diesen Gebieten? Und bis heute, über 50 Jahre lang, sind diese Gebiete …, sozusagen …, gut, die Sinai Halbinsel hat man zurückgegeben, weil Ägypten auch den Frieden dafür angeboten hat. Aber das Westjordanland hat einen bis heute unklaren Status. Die Golanhöhen wurden annektiert, wie Ostjerusalem. Und was im Gazastreifen passiert, brauche ich hier nicht zu sagen.
Musikakzent
Noch mal zum Sechstagekrieg. Sie haben gerade dieses bekannte, sehr eindrückliche, finde ich, Zitat gebracht: Sie haben sechs Tage lang gewonnen, und am siebten Tag haben sie verloren. Wir haben trotzdem– nach einer Phase, Menachem Begin haben Sie gerade erwähnt, wo es nach rechts ging, wo es sehr religiös wurde, wo wir wirklich eine große Veränderung der Gesellschaft haben – haben wir dann in den 90er Jahren den Friedensprozess. Wir haben eine Annäherung, wir haben Oslo, das hat große Hoffnungen ausgelöst bei den Menschen, und es ist gescheitert. Warum ist Oslo gescheitert?
Es waren letztlich die Extremen auf beiden Seiten, die das Scheitern des Friedensprozesses in die Wege geleitet haben. Auf der einen Seite, ein jüdischer Terrorist, der Jitzchak Rabin ermordete, zu einem Zeitpunkt, an dem man noch viel Hoffnungen auf den Friedensprozess setzte. Und auf der anderen Seite palästinensische Terroristen, die mit Terroranschlägen die israelische Öffentlichkeit in Furcht und Panik versetzten. Das resultierte dann in der Wahl nach Rabins Ermordung, die eben nicht seinen Weggefährten, den Mitstreiter Shimon Peres, zum Ministerpräsidenten wählte, sondern zum ersten Mal Benjamin Netanjahu an die Macht brachte, mit einem winzigen Vorsprung von weniger als einem halben Prozentpunkt.
Ich habe kürzlich noch eine wirklich schockierende Videoaufnahme gefunden von dem Abend, an dem Rabin erschossen wurde. In einer Nebenstraße auf einem Balkon sprach der junge Benjamin Netanjahu, zu einer wirklich aufgepeitschten Menge schon, und hat die aufgehetzt gegen den Friedensprozess. Das war wenige Stunden vor der Ermordung.
Ja, die Polarisierung der israelischen Gesellschaft, auch damals, in die Anhänger und Gegner Oslos war sehr stark, und es gab dann noch mal kurze Momente der Hoffnung unter der Regierung Barak 1999/2000. Aber seitdem eigentlich sehr wenig konkrete Anhaltspunkte. Und was einem zu bedenken gibt, ist ja die Tatsache, dass die jetzige Regierung unter Netanjahu, die die rechtsgerichtetste und religiöseste seit Staatsgründung ist, – Ja, die kam schon demokratisch an die Wahl, das heißt, das war jetzt kein Putsch, es war keine Minderheitenregierung, eine sehr, sehr knappe Mehrheit, die damals, 2022, gewählt wurde. Und wenn man sich die Kinderzahlen ansieht, dann versteht man auch, warum die Tendenz seit schon den 70er Jahren nach rechts und nach religiös geht. Die Ultraorthodoxen haben im Durchschnitt circa sieben Kinder. Die sogenannten Nationalreligiösen, von denen auch manche Siedler sind, nicht alle natürlich, haben circa vier Kinder. Die säkularen Israelis haben im Durchschnitt etwas mehr als zwei Kinder.
Und die säkularen, jungen, modernen Israelis wandern oft aus. Die gehen nach Europa. Die Ultraorthodoxen wandern nicht aus, die bleiben.
Die Ultraorthodoxen bleiben in der Regel. Vor allem bleiben die Nationalreligiösen. Das ist (…) die Hauptbasis der rechtsnationalen Kräfte. Die Säkularen bleiben natürlich auch, die meisten. Aber man muss sich auch noch mal vergegenwärtigen: Über die Hälfte der israelischen Bevölkerung stammt eben nicht von Europäern ab, sondern von Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, die aus dem Irak, aus Marokko, aus Libyen ja, eigentlich auch vertrieben wurden, nicht freiwillig auswanderten. In den 50er, 60er Jahren.
Auch etwas, was all die, die derzeit den Vorwurf erheben, dass Israel ein kolonialistisches System wäre, dieser Begriff des white settler colonialism, das widerspricht dem ja total.
Ja, natürlich. Ich hab hier eine Kollegin, die ist eine schwarze Israelin, deren Eltern aus Äthiopien eingewandert sind. Und als wir zu so einer Veranstaltung gingen, in der sie konfrontiert wurde mit dem Vorwurf White European Settler Colonialism, hat sie erst mal von ihrer Geschichte ihrer Familie aus Äthiopien erzählt.
Oder die vielen jemenitischen Juden, die schon in den 40er Jahren kamen.
Richtig. Viele machen sich das viel zu einfach. Und ich denke, man kann eben auch nicht nur Herzl und den europäischen Zionismus betrachten, wenn man die Wurzeln des Staates Israel ansieht. Man muss sich auch die Situation und die Geschichte der jüdischen Gemeinden der arabischen Welt ansehen. Diese Menschen haben auch kein Recht auf einen europäischen Pass. Die können nicht einfach nach Europa kommen. Und ich glaube, keiner will nach Irak oder Syrien zurück, kann auch nicht. Insofern denke ich, egal ob säkulare oder orthodoxe Israelis, die Mehrheit der Juden Israels wird dort bleiben, egal ob jetzt 20.000 oder 30.000 nach Berlin gehen, das ist letztlich geringfügig bei einer Bevölkerung von inzwischen doch etwa 7 Millionen jüdischen Israelis. Und wir müssen uns damit beschäftigen, dass die Zukunft sowohl für Juden wie auch für Palästinenser, arabische Palästinenser, die können muslimisch sein und manche auch christlich, in dieser Region sein wird. Die gehen nicht irgendwo anders hin, und sie müssen miteinander auskommen.
Herr Brenner, wir haben schon einmal gesprochen, etwa ein halbes Jahr nach dem 7. Oktober. Damals waren Sie überzeugt davon, dass es keine andere Lösung als die Zweistaatenlösung gibt. Jetzt hat sich die Situation noch einmal wieder weiter verschärft. Ist das immer noch Ihre Auffassung? Bleibt nur die Zweistaatenlösung?
Wenn man sich Umfragen ansieht, dann sieht man schon, dass die Begeisterung für die Zweistaatenlösung noch weiter zurückgegangen ist seit dem 7. Oktober. Die Frage ist: Was ist die Alternative? Natürlich gibt es immer das Wort, ja, wir müssen in einem Staat leben. Wir sind alle Bürger eines Staates. Ganz ehrlich gesagt, das ist natürlich eine wunderbare Lösung, die vielleicht auch irgendwann mal möglich sein wird. Aber ich glaube nicht, dass dieser eine Staat so was wie die Schweiz im Nahen Osten sein wird, sondern eher Jugoslawien oder der Libanon, in dem sich Völker, die ein Jahrhundert und vielleicht mehr der Animosität erlebt haben, nicht jetzt alle umarmen werden, sagen: Wir sind in einem Staat glücklich. Ich sehe das einfach noch weniger. Und vor allem meinen sie auch andere Dinge, wenn sie von einer Einstaatenlösung sprechen. Viele rechtsgerichtete Israelis wollen die Einstaatenlösung. Aber sie stellen sich die Palästinenser dann als Staatsbürger zweiter Klasse vor, mit weniger Rechten. Das wurde jetzt in jüngsten Umfragen deutlich. Viele Palästinenser wollen die Einstaatenlösung, sie sagen: Ja gut, wir sind dann irgendwann die Mehrheit. Vielleicht jetzt schon. Und dann haben die Juden eben Minderheitenrechte. Auch das wird nicht so gehen. Also, man spricht von einem Staat, aber hat völlig andere Vorstellungen davon, was das in der Realität bedeutet.
Herr Brenner, meine letzte Frage für heute. In diesem Konflikt, in diesem Krieg, geht es nicht nur um Land. Es geht nicht nur um Ressourcen. Es geht nicht nur um Politik. Es geht immer auch um Narrative, um die Geschichte, um historische Deutungen, auch um die Deutungshoheit. Wer darf die Geschichte wie erzählen? Am deutlichsten sieht man das vielleicht wieder 1948. Für die Israelis ist das in der Geschichtsschreibung und in der Erinnerung die Erfüllung eines Traums. Für die Palästinenser ist es das Gegenteil. Es ist die Nakba. Es ist eine große, große Katastrophe. Könnte eine Form der Annäherung, nur eine vorsichtige Annäherung, auch darin bestehen, dass wir Narrative mal überhaupt erst wahrnehmen, dass wir mehr zuhören, dass wir einen Perspektivwechsel vornehmen, jeweils zu der anderen Seite? Kennen Sie da Ansätze, gibt es da Ansätze?
Ja, ich finde das ganz wichtig. Und diese Ansätze gibt es. Die Ansätze wurden vor allem verstärkt in den 90er Jahren, als es diesen Moment der Hoffnung gab durch den Oslo-Friedensprozess. Und ich kann Ihnen ein Beispiel nennen, das ich auch sehr gerne in meinem Unterricht an der Universität einsetze. Es gab eine Kommission, die sich zusammensetzte aus jüdischen Israelis und Palästinensern, die ein Geschichtsbuch schreiben sollte, über diese Region im, vor allem, 20. Jahrhundert. Und zwar sollten beide Narrative hier sozusagen in Einklang miteinander gebracht werden und das Schulbuch dann in jüdisch-israelischen und in arabisch-palästinensischen Schulen eingesetzt werden. Die Kommission traf sich, das waren ein paar jüdische und ein paar palästinensische Historiker. Und irgendwann merkten sie: Das geht gar nicht. Wir haben unser Narrativ, ihr habt euer Narrativ. Und was sie dann gemacht haben, finde ich ganz interessant. Sie haben ein Buch geschrieben, sozusagen unter einem Buchdeckel, aber die jeweils linke Seite des Buches ist das arabische Narrativ und die jeweils rechte Seite des Buches, Seite für Seite, ist das jüdische Narrativ, und ich finde das ziemlich bemerkenswert. Sie haben gesagt, wir behalten bestimmte Narrative bei, weil wir uns nicht einigen können. Bestimmte Fakten, natürlich, tauchen auf beiden Seiten auf, aber Interpretationen sind unterschiedlich. Aber wir können es schaffen, dieses Buch zusammen herauszugeben. Und das finde ich einen bemerkenswerten Ansatz. Natürlich wurde das Buch weder in israelischen noch in palästinensischen Schulen jemals als Schulbuch eingesetzt. Die Politik hat das nicht gewollt. Ich glaube, wie ich, setzen das ab und zu Kolleginnen und Kollegen an den Universitäten ein, um zu zeigen, wie das mit diesen Narrativen funktioniert und dass man die nicht einfach ausradieren und auslöschen kann. Und ich glaube, es ist ein erster Weg. Wenn Sie so wollen, eine gewisse Zweistaatenlösung in Buchform.
Herr Brenner, ganz herzlichen Dank für das Gespräch. Für Ihre Zeit.
Gerne.
Musik
Was war – was wird
Der Historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands
Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus
Folge 2: Israel. Zionistischer Traum, politische Realität.
Almut Finck im Gespräch mit Michael Brenner
Gefördert vom Bundesministerium des Innern und für Heimat
FINCK: Wenn Sie sich mit dem Thema der gerade gehörten Historycast-Folge noch weiter auseinandersetzen wollen: Hören Sie doch mal mal beim WDR-Zeitzeichen rein. Dort finden Sie eine Reihe von spannenden Sendungen zu ähnlichen Themen. Die Links dazu haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt.
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