Schtetl-Welten. Alltag, Pogrome, Vertreibung

Shownotes

75 Prozent aller Juden weltweit - rund 8 Millionen - lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa. Nicht alle, aber sehr viele in einem der zahllosen kleinen Städtchen – einem Schtetl – in Gebieten des heutigen Polen, der Ukraine und Belarus', auch im Zarenreich und in Galizien. Schtetl, sagt die Historikerin Monica Rüthers, waren aber nie rein jüdische, sondern multikulturelle Orte des Neben- und manchmal Miteinanders von Juden und Christen, manchmal auch des Gegeneinanders – bis hin zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung. Im historycast erzählt Monica Rüthers von der religiösen und sprachlichen Vielfalt und vom Alltag jüdischen Lebens in den Schtetln Ostmitteleuropas, einer jahrhundertealten Kultur, die durch die Nationalsozialisten ausgelöscht wurde. Sie beschreibt, welche Spuren es noch gibt, und berichtet von den schwierigen Bemühungen, jüdisches Leben, etwa in Polen, neu zu begründen.

Monica Rüthers ist Professorin für osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg. Sie arbeitet zu Erinnerungspolitik mit einem besonderen Fokus auf visueller Erinnerung. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte und die machtpolitische Funktion städtischer Räume, nicht nur, aber vor allem in der Sowjetunion, sowie Geschlechtergeschichte. Monica Rüthers hat über „Tewjes Töchter“ promoviert, so ihre Dissertation, das heißt über Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert.

Dr. Almut Finck ist Radiojournalistin und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin.

Link zum Podcast des Moses-Mendelssohn-Zentrums, Potsdam: [https://juedischegeschichtekompakt.podigee.io/]

Die didaktischen Materialien finden Sie hier: [https://historycast.de/]

Links zum WDR-ZeitZeichen mit ähnlichen Themen: Isaac B. Singer, amerikanischer Schriftsteller: [https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/isaac-bashevis-singer-100.html]

Das Musical "Anatevka" erstmals in Deutschland: [https://www1.wdr.de/mediathek/audio/zeitzeichen/audio-das-musical-anatevka-erstmals-in-deutschland-am--100.html]

Staffel 3, Folge 10 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]

Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat.

Transkript anzeigen

TEASER (O-Ton Rüthers):

Wenn Sie das Schtetl nehmen, da haben Sie in der Mitte den Marktplatz. Und um den Marktplatz herum die wichtigeren Bauten, die Synagoge und natürlich auch die Kirche. Und es war so, dass sie aber unterschiedliche Kalender haben. Also die Bevölkerung in den Schtetln lebte nach drei Kalendern häufig, nach dem Julianischen, dem Gregorianischen und dem Jüdischen. Es wussten aber alle voneinander, wann die anderen Feiertage haben, weil man das so hautnah miterlebt hat. Es war wichtig im Kreditwesen zum Beispiel, die Kredite wurden fällig immer vor bestimmten Feiertagen. Und deshalb musste man genau wissen, wer wann einen Feiertag hat, damit das auch funktioniert hat. Das ist Multikulturalität, dass man voneinander sehr viel weiß.

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus

Folge 10: Schtetl-Welten. Alltag, Pogrome, Vertreibung

Almut Finck im Gespräch mit Monica Rüthers

FINCK:

Anatevka, Fiddler on the Roof, der Fiedler auf dem Dach. Das berühmte Musical hat für viele Menschen das Bild des Schtetls geprägt. Eine untergegangene Welt zwischen Tradition und Wandel, zwischen Hoffnung, Melancholie und Zerstörung. Aber was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Frau Rüthers, war das Schtetl tatsächlich so, wie wir es in der Geschichte des armen Milchmanns Tewje und seiner drei Töchter erleben?

RÜTHERS: Es war so und nicht so. Der Film bündelt zwei Perspektiven. Und zwar einmal das Buch, das Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde über Tewje, den Milchmann, von einem Autor, der auf jiddisch geschrieben hat, in einer Spätphase des Zarenreichs, schon im Bewusstsein, dass das Schtetl sich sehr stark verändert. Und der Film wurde dann in den 70er Jahren gedreht, 1970er Jahren, von den Enkeln von Auswanderern aus Osteuropa, die so quasi auf der Suche auch nach ihrer jüdischen Vergangenheit waren. Und diese zwei Perspektiven bündeln sich in dem Film. Das ist so ein Schtetl, was aus amerikanischer Perspektive mit sehr vielen Klischees überfrachtet ist, aber trotzdem auch aus einem Buch schöpft, das ja aus der Zeit kommt und deshalb sehr viele Details hat, die durchaus auch Aufschluss geben über das Leben im Schtetl.

FINCK: Frau Rüthers, jetzt möchte ich Sie erstmal vorstellen. Monica Rüthers ist Professorin für osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg. Sie arbeitet zu Erinnerungspolitik mit einem besonderen Fokus auf visueller Erinnerung. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte und die machtpolitische Funktion städtischer Räume, nicht nur, aber vor allem in der Sowjetunion, sowie Geschlechtergeschichte. Monica Rüthers hat promoviert über „Tewjes Töchter“, so ihre Dissertation, das heißt über Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert. Sie bringt also eine breite Expertise mit, um uns heute etwas über die Schtetl-Welten zu erzählen, wie wir die aktuelle Podcast-Folge bewusst genannt haben, also „Welten“ im Plural. Denn es gab ja eine große Vielfalt jüdischen Lebens in Ostmitteleuropa. Frau Rüthers, von welchen geografischen Regionen reden wir denn jetzt eigentlich?

RÜTHERS: Wir reden von den Gegenden, in denen im späten Mittelalter aus dem deutschen und mitteleuropäischen Raum Juden vertrieben wurden, die dann nach Polen-Litauen gegangen sind, das damals ein Weltreich war, das sich erstreckt hat von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer sozusagen. Und später, als Polen dann aufgeteilt wurde, zwischen 1772 und 1795, zwischen Preußen, Habsburg und dem Zarenreich, wurde dieses Gebiet mehrheitlich polnisch, im Prinzip auf den Gebieten, wo heute die Ukraine und Belarus sind. Das heißt, wir reden darüber, und es gab auch noch einen Teil, der an Habsburg ging, das österreichische Galizien.

FINCK: Galizien, dann Polen oder Polen-Litauen und im Russischen Reich der sogenannte Ansiedlungsrayon. Was war das?

RÜTHERS: Ja, also während in Galizien, das österreichisch war, die Juden schnell gleichberechtigt wurden, war es in Russland so, dass es vorher keine jüdische Bevölkerung gab und Katharina die Große sich erst überlegt hat, was mache ich jetzt mit denen, und als aufgeklärte Absolutistin die eigentlich durchaus gleichberechtigen wollte. Es gab aber dann die Bestimmung, dass sie nur dort weiterhin wohnen dürfen, wo sie vorher auch gelebt haben, das heißt auf ehemals polnischem Gebiet. Das ist dann der sogenannte Ansiedlungsrayon gewesen.

FINCK: Wir haben jetzt den geografischen Raum umrissen. Lassen Sie uns auch mal den Zeitraum umreißen. Wann kamen denn die ersten Juden in den ostmitteleuropäischen Raum und warum?

RÜTHERS: Juden lebten ja in größerer Zahl, die sogenannten aschkenasischen Juden, im deutschsprachigen Raum, im Rheinland vor allem. Und im Mittelalter gab es dort dann Vertreibungswellen. Das hing zusammen mit den Kreuzzügen. Das hing aber auch damit zusammen, dass Juden als Geldverleiher gearbeitet haben. Sie durften häufig keine anderen Berufe ausüben. Und als dann das Zinsverbot, das christliche, fiel, wurden die Juden vertrieben, weil man sie nicht mehr brauchte. Und in Polen haben die Könige sie eingeladen, nach Polen zu kommen, weil es in Polen nur zwei Stände gab, nämlich den Adel und das Bauerntum, aber keine Stadtbevölkerung. Und die polnischen Könige hatten eben gesehen, dass mit dem Aufschwung der Städte in Europa eine solche Bevölkerung fehlte, und haben nicht nur Juden eingeladen zu kommen, sondern auch Griechen, Armenier und Deutsche.

FINCK: Die haben sich aber sehr schnell assimiliert.

RÜTHERS: Die haben sich schneller assimiliert, aber alle wurden eigentlich auch mit Privilegien ausgestattet. Also die Juden konnten dort ihre autonomen Gemeinden haben, die dann die Steuer geklärt haben, also die Kollektivabgaben dann an die Könige entrichtet haben. Sie standen unter dem Schutz. Und sie hatten auch Handelsprivilegien. Es fehlte ein wirtschafts- und handelstreibendes Element, und die Juden haben dann sich in Städten und Marktflecken angesiedelt und haben einerseits den Handel zwischen den Städten, den Stadtbevölkerungen, dem Adel und der Landbevölkerung, den Dörfern reguliert. Und sie haben andererseits auch den Fernhandel betrieben, weil – Polen hat Wachs, Felle und Leinen, zum Beispiel, exportiert, und Holz in großem Umfang. Und das waren dann vor allem jüdische Händler, die das gemacht haben. Und es gab die Seidenstraße, die noch durch diese Region führte damals.

FINCK: Diese Städte, habe ich gelesen, waren Privatstädte?

RÜTHERS: Es gab einige Städte, die dem König direkt unterstellt waren, und es gab sehr viele

Adelsstädte, und in denen waren eben die Juden besonders privilegiert, weil sie häufig eben auch gleichzeitig Verwalter der Adelsgüter waren.

FINCK: Privilegien – Sie haben schon gesagt, das Steuerprivileg. Aber sie hatten sogar ein eigenes Rechtssystem.

RÜTHERS: Die Privilegien wurden vom König erteilt und dazu gehörte: Sie hatten eine Gemeindeautonomie. Das heißt, sie konnten eigene Gemeindestrukturen aufbauen, sie konnten ihre Religion frei ausüben, und sie konnten auch eine eigene Gerichtsbarkeit haben. Sie hatten eine religiöse Gerichtsbarkeit, die so gut entwickelt war, also eine Art Schlichtungsverfahren, dass die nicht-jüdischen Polen sich auch häufig darauf berufen haben und häufig zu jüdischen Richtern gegangen sind.

Musikakzent

FINCK: Ich hab‘ mal ein paar ganz eindrucksvolle Zahlen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts lebten in Ostmitteleuropa ein paar 10.000 Juden. Mitte des 18. Jahrhunderts waren es schon 750.000, Ende des 19. Jahrhunderts 6,5 Millionen, allein im Russischen Reich gut 5 Millionen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten fast drei Viertel aller Juden, weltweit aller Juden, das waren 10,5 bis 11 Millionen, also insgesamt über 8 Millionen, in Osteuropa. Offensichtlich war diese Siedlungsform Schtetl sehr günstig. Aber was ist denn überhaupt genau ein Schtetl, und lebten alle Juden in Ostmitteleuropa in einem Schtetl?

RÜTHERS: Keineswegs. Juden lebten in Großstädten und auf dem Dorf, aber eben auch in Kleinstädten. Und das Schtetl an sich, von der Definition her, ist eine Kleinstadt oder ein Marktfleck, der überwiegend jüdisch bevölkert ist. Das kann aber von 30 bis 70 Prozent auch reichen. Wichtig ist, dass die Juden dort das wirtschaftstreibende Element sind, in diesem Ort. Und dass es eine relativ kleine und geschlossene Gemeinschaft ist. Aber das Schtetl ist nie rein jüdisch, sondern immer multikulturell.

FINCK: Das ist eine weit verbreitete falsche Meinung, dass es ein rein jüdischer Ort wäre.

RÜTHERS: Ja.

FINCK: Wie muss ich mir denn das Zusammenleben von jüdischen und nichtjüdischen Menschen in diesen multiethnischen, multikulturellen, multireligiösen Schtetln vorstellen?

RÜTHERS: Man spricht ja von Kontaktzonen, und fragt dann danach eben, was sind eigentlich die Orte, an denen die sich treffen? Und das ist eben meistens der Marktplatz, mehrfach in der Woche war da der Markt, und dann hatten da alle ihre Stände. Es gab auch jüdische Hausierer, die halt Produkte aus der Stadt, von den Handwerkern in der Stadt, auch im Schtetl und auf den Dörfern vertrieben haben. Also Stiefel zum Beispiel oder Schaufeln, oder was man sonst so braucht in der Landwirtschaft. Während sie eben die bäuerlichen Produkte auf dem Markt auch vertrieben haben, aber auch in die Städte transportiert haben. Das gab es beides. Und die Marktplätze waren dicht bevölkert, und da herrschte auch ein Sprachengewirr. Das gehörte dazu, dass die Menschen die verschiedenen Sprachen häufig auch verstanden. Die konnten dann Russisch, Polnisch und Jiddisch zum Beispiel. Und es gab häufig lokale Dialekte, die das auch alles ein bisschen mischten. Also man muss sich das nicht so „nach Duden“ vorstellen, das Sprachgefühl, sondern mehr „kreolisch“ denken, würde ich jetzt mal sagen.

FINCK: Das Jiddische ist entstanden auch in Ostmitteuropa?

RÜTHERS: Nein, das Jiddische haben sie mitgebracht, das ist Mittelhochdeutsch. Ich bin Schweizerin und rede Schweizerdeutsch. Ich kann auch Jiddisch sprechen, und ich bin in Litauen als Schweizerin mit Schweizerdeutsch sofort auf Jiddisch angesprochen worden. Das sind mittelhochdeutsche Varianten, die sich gegenseitig verstehen, in der Aussprache ähnlich sind. Lexikalisch ist es so, dass sich bei den jüdischen, weil das migrantische Sprachen sind, 10 % oder 15 % oder 20 % slawischer Wortschatz da reinbegeben. Also wenn sie Polnisch, Russisch können, dann haben sie ganz viele Worte im Jiddischen, die eben daher kommen. Und zum Teil auch aus dem religiösen, hebräischen Bereich. Aber der Rest ist mittelhochdeutsch. Also wenn man keine Berührungsängste hat, dann kann man das relativ schnell lernen.

FINCK: Man kann es als Deutscher relativ gut verstehen.

RÜTHERS: Ja.

FINCK: Diese Berührung, nochmal, es war vor allem Handel auf dem Markt, dem Marktplatz. Wie war es in der Religion? Es gab dort oft nebeneinander, habe ich gelesen, eine Kirche und eine Synagoge.

RÜTHERS: Ja, wenn Sie das Schtetl nehmen, da haben Sie in der Mitte den Marktplatz. Und um den Marktplatz herum die wichtigeren Bauten, die Synagoge und natürlich auch die Kirche. Und es war so, dass sie aber unterschiedliche Kalender haben. Also die Bevölkerung in den Schtetln lebte nach drei Kalendern häufig, nach dem Julianischen, dem Gregorianischen und dem Jüdischen. Es wussten aber alle voneinander, wann die anderen Feiertage haben, weil man das so hautnah miterlebt hat. Es war wichtig im Kreditwesen zum Beispiel, die Kredite wurden fällig immer vor bestimmten Feiertagen. Und deshalb musste man genau wissen, wer wann einen Feiertag hat, damit das auch funktioniert hat. Das ist Multikulturalität, dass man voneinander sehr viel weiß.

FINCK: Gab es denn abseits des Handels Berührungspunkte? Wie war’s mit Heiraten? In Anatevka will ja eine der Töchter einen Christen heiraten, und Tewje, der Milchmann, ist entsetzt.

RÜTHERS: Das ist schon zeitbedingt auch. Das ist auch das, was nachher – deshalb kommt es in dem Buch auch vor – schon als Auflösungssymptom des Schtetls begriffen wird. Also die Abwanderung in die größeren Städte. Dann kommt man in die größeren Städte, geht in säkulare Schulen, lebt nicht mehr so religiös und kommt auch mit anderen jungen Leuten zusammen, die nicht jüdisch sind, und dann gibt es Mischehen. Und wenn das auf dem Dorf passiert, ist das natürlich der große Skandal. Das ist klar. Das ist eine konstruierte Geschichte, natürlich, in Tewje, der Milchmann, die aber so ein Panorama entwerfen möchte, wie das Schtetlleben sich verändert. Und das spielt er an seinen … – das waren eben mehr als drei Töchter, an denen spielt er das durch, das ganze Spektrum.

FINCK: Das Schtetlleben veränderte sich nicht nur, weil einige weggingen in die großen Städte, in eine modernere Welt, sondern die Moderne brach auch ein. Vielfalt im Schtetl bestand nicht nur darin, dass es viele verschiedene – christliche, nicht christliche – Gruppen gab, sondern auch innerhalb des Judentums eine große Vielfalt und ein zunehmendes Zusammentreffen von Moderne und Tradition. Wie müssen wir uns das vorstellen?

RÜTHERS: Hier kommt dann irgendwann die Trennlinie auch, die ein Schtetl von einer größeren Stadt unterscheidet, wo es ein Gymnasium gibt, und wo es Kommunisten, Sozialisten gibt, revolutionäre Bewegungen und Jugendliche, die in Aufbruchstimmung sind und denen sich auch jüdische Jugendliche dann anschließen usw., aber Sie haben auch durchaus im Schtetl unterschiedliche Strömungen. Einmal haben Sie vorher schon im 18. Jahrhundert die religiösen Strömungen, die aufkommen, und im 19. Jahrhundert kommen dann eben auch sozialistische Gedanken, und die fassen auch Fuß im Schtetl. Es gibt eine jüdische Arbeiterbewegung, den Bund, es gibt dann eine jüdische Nationalbewegung, das ist auch interessant für junge Leute, die was Neues wollen oder die ausbrechen wollen, und das wird auch das Schtetlleben berühren.

FINCK: Unterschiedliche religiöse Strömungen, sagten Sie, welche gab es da?

RÜTHERS: Am Anfang kamen ja alle, im Mittelalter, frisch dorthin und lebten religiös, aber mit der Zeit, also, es gab einen großen Einbruch im 17. Jahrhundert, 1648, einen Aufstand der ukrainischen Kosaken gegen die polnischen Kolonisatoren. Und da die Polen eben, das waren Adelsgüter, die waren bei Hofe, und vor Ort waren die jüdischen Verwalter, und die wurden dann geschlagen. Man weiß nicht genau, ob es zwischen 50.000 und 200.000 Tote gab. Viele jüdische Gemeinden wurden zerstört, 1648, und es begann eine Rückwanderung. Es war eine große Verunsicherung. Es wurde eine wirtschaftliche Basis auch langfristig zerstört im Süden. Es gab eine große Verarmung, und es gab ein großes Gefühl von Unsicherheit, und in diesen Stimmungen gab es dann einen Hang zu Mystik. Und diesen Hang zu Mystik, das ist aber auch so was, wo man sieht, dass sich das immer berührt. Also die jüdische Geschichte ist nicht isoliert auf einer Insel. Es gab auch im Christentum mystische Bewegungen im 17. Jahrhundert, einfach weil sich eine Untergangsstimmung verbreitet hatte, weil das Klima kälter wurde, weil es viele Kometen am Himmel gab. Es gab ein Krisenbewusstsein, und im Judentum gab es einmal falsche Messiasse, zwei, im 17. und 18. Jahrhundert, und dann einen Wanderprediger, der die mystischen Lehren des Chassidismus für das breite Volk als Prediger vertreten hat. Das war vorher eine elitäre Lehre, für die Gelehrten, und er kam nun und hat gesagt, ihr seid alle direkt zu Gott, ihr braucht keine Rabbiner, ihr könnt beten, ihr könnt auf Jiddisch beten, ihr müsst auch nicht, wenn ihr nicht gut Hebräisch könnt, auf Hebräisch beten, Gott hört euch. Und der hatte sehr großen Erfolg.

FINCK: Und die Rabbiner, denen gefiel das überhaupt nicht.

RÜTHERS: Nein! Also das war Israel Ben Elieser, der Ba‘al Shem Tov, der Meister des Guten Namens, der wirklich eine breite Strömung ausgelöst hat von Chassidim, die angefangen haben, die Festtage zu feiern. Das war eine Lehre von Fröhlichkeit und Ekstase. Gott will, dass wir feiern, dass wir ihn feiern und nicht nur im Bethaus lernen, die Torah studieren. Das passte den Rabbinern nicht, weil es gleichzeitig so eine Art rabbinische Oligarchie gab in den jüdischen Gemeinden. Da hatten so die Reichen und die Gelehrten unter sich die Macht verteilt. Und diese Lehre war so eine Volkslehre, die jetzt den einfachen Leuten – Es hat sich so ein bisschen Sozialrebellion verbunden mit Religiosität.

FINCK: Gab es den Chassidismus denn überall in ganz Ostmitteleuropa oder besonders in manchen Regionen?

RÜTHERS: Besonders in den Regionen der heutigen Ukraine, im Süden, wo diese Pogrome stattgefunden hatten, in der Mitte des 17. Jahrhunderts, weil sich diese Region lange nicht erholt hat. Die war verarmt, und da hat sich das besonders schnell verbreitet, auch Richtung Norden. Und es gab dann am Schluss im Norden auch einen gemäßigten Chassidismus. Aber im Prinzip war dieser Nord-Süd-Gegensatz ziemlich ausgeprägt. Also der gelehrte, orthodoxe, traditionelle Norden gegen diesen pietistisch-mystischen Süden.

FINCK: Sie haben gerade schon den Einbruch, in Anführungsstrichen, der „Moderne“ in die jüdische Kultur in Ostmitteleuropa erwähnt. Wie sah es mit der jüdischen Aufklärung aus, der Haskala?

RÜTHERS: Die hatte auch großen Einfluss, und die versöhnte dann auch die Chassidim wieder mit den orthodoxen, toragelehrten Juden, weil sie sich beide gegen diese Aufklärung gestellt haben, die sie als Häresie, als Ketzertum verurteilt haben. Und diese jüdische Aufklärung kam aus Deutschland. Die kam von Moses Mendelssohn in Berlin nach Osteuropa, weil junge Leute dorthin fuhren, zu ihrem Guru, eben Moses Mendelssohn, und weil sich die Schriften der Aufklärer auch in Osteuropa verbreitet haben. Das war ein großer Siegeszug. Das gab es schon vor der Aufklärung, im Prinzip, vor allem im litauischen Judentum, die Idee, dass die Gelehrsamkeit von Mathematik, Astronomie, also das Wissen über die von Gott geschaffene Welt, eben auch ein religiöses Studium sei.

FINCK: Theodor Herzl war ein Wiener Jude, aber – wie einflussreich war der Zionismus? Hat der Zionismus auch das Leben verändert im Schtetl?

RÜTHERS: Unbedingt. Und Theodor Herzl war eigentlich so ein eher spätgekommener Zionist. Es gab schon Leon Pinsker um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Osteuropa, der über die Zionsliebe geschrieben hat, also der schon diese Idee entwickelt hat, quasi einer geistigen Heimstätte, einer Rückkehr nach Palästina. Und viele ältere, sehr religiöse Juden aus Osteuropa gingen im Alter, und alt war man ab 50, nach Palästina, weil man dachte, wenn man dort stirbt und in der Erde begraben ist, wenn der Messias kommt, dann kann man da unverwest wieder auferstehen. Deshalb ließen sich auch Juden gerne mit einem Beutel Erde aus Palästina begraben. Und es wurde immer gesammelt in den jüdischen Gemeinden für den Jischuv, also für diese Juden, die in Palästina lebten.

Musikakzent

FINCK: Lassen Sie uns mal über den Alltag, den jüdischen Alltag im Schtetl reden. Darüber haben wir noch gar nicht geredet. Wie sah das aus? Mich interessieren auch die Geschlechterverhältnisse. Gab es eine Männer- und eine Frauenwelt?

RÜTHERS: Ja, das wollte ich schon bei der Marktgeschichte anbringen, weil die Frauen eigentlich – die Männer sollten ja den Talmud studieren. Das war das Ideal. Und gute Talmud-Schüler konnten die Töchter aus reichem Haus dann heiraten und dort weiter dann im Haus der Schwiegereltern ihren Studien nachgehen. Das war eigentlich das normative Ideal.

FINCK: Talmud-Schüler waren als Bräutigam begehrter als ein Handwerker.

RÜTHERS: Ja. Und ganz unten waren Schneider und Schuster, so quasi, in der Hierarchie. Das ist ja auch bei Tewjes Töchtern ein Thema.

FINCK: Also von wegen Handwerk hat goldenen Boden. Dort nicht.

RÜTHERS: Jein. Es war immer besser, nicht körperlich arbeiten zu müssen, sondern geistig. Das zieht sich durch, weil das Judentum in der Diaspora eigentlich davon weiter bestehen konnte, dass die Tora gelehrt wurde. Das war einfach der Kern der ganzen Geschichte. Und die Frauen sollten das unterstützen. Die waren dann Priesterin im Haus, haben den koscheren Haushalt geführt, aber sie haben eben auch die Geschäfte geführt, meistens. Es gab häufig ein kleines Geschäft, das man hatte, wo etwas verkauft wurde, etwas gehandelt wurde. Und die Männer haben dort zwar auch die Reisetätigkeiten oder so durchgeführt, aber die Frauen eben auch, und die hatten auch die Marktstände. Und es war häufig so, dass die auch ganze Holzhändel geführt haben und dass die auch froh waren, wenn sich die Männer nicht eingemischt haben. Also es war auch bei manchen Frauen auch das Ziel, dass sie ihrem Mann gesagt haben, lern du schön deinen Talmud, und ich mach den Rest. Die wollten gar nicht, dass die sich einmischen. Das war erst dann ein späteres Ideal nach der Aufklärung und bei der Säkularisierung, bei der Verbürgerlichung im 19. Jahrhundert auch in Osteuropa, dass dann plötzlich die Männer gesagt haben, ich bin jetzt der Ernährer, und dass für die Frauen dann die Handlungsräume ganz stark eingeschränkt wurden, was sie vorher nicht waren.

FINCK: Gar nicht so anders als bei Christen. Denn auch da: Das Ideal der Familie kam ja erst relativ spät auf, im frühen 19. Jahrhundert.

RÜTHERS: Ja, dieses Ideal der Kernfamilie wurde dann übernommen, und das war auch eine Spätfolge von Aufklärung und Säkularisierung.

FINCK: Wie sah es mit der Ausbildung der Kinder aus? War das nach Geschlechtern getrennt?

RÜTHERS: Die Jungen gingen ab dem Alter von ungefähr vier Jahren in den Cheder, in die jüdische Grundschule, wo sie erst mal Hebräisch lesen lernten und dann die Bibel studiert haben. Und die Mädchen gingen meistens zur Frau des Rebben und lernten dann dort etwas lesen und schreiben. Aber sie lernten häufig auch das lateinische und das kyrillische Alphabet, auch um ihren Geschäftstätigkeiten nachgehen zu können. Das ist ganz interessant, aber mehr so alltagsbezogen.

FINCK: Und die Jungen gingen sehr früh schon in die Schule?

RÜTHERS: Die gingen sehr früh in die Schule und auch länger. Und dann, wenn sie gut gelernt haben, konnten sie vielleicht nachher auf eine Jeschiva, eine Talmud-Hochschule, gehen. Da mussten sie aber häufig den Ort verlassen und in eine der nächsten Städte und lebten dann da von Spenden, wenn sie nicht aus wohlhabendem Haus waren. Und die Mädchen, weil die Jungen immer den Talmud studieren mussten, durften die Mädchen im Prinzip, die waren Bildungsgewinnerinnen, weil sie früher ins Gymnasium durften. Also es war nicht so schlimm, wenn Mädchen weltliche Bildung erfahren haben, wenn sie in die öffentlichen Gymnasien gingen, während die Jungen dann weiter mit ihrem Talmud-Lehrer zu Hause sitzen mussten und neidisch waren, weil die Schwestern ins Gymnasium durften.

FINCK: Und Romane lasen.

RÜTHERS: Ja, und Romane lasen.

Musikakzent

FINCK: Die Schtetlkultur ist untrennbar verbunden mit Pogromen in Osteuropa. Wann ging das los? Wir haben vorher schon den Aufstand erwähnt im 17. Jahrhundert. Aber das, was wir unter den eigentlichen Pogromen verstehen, wann begann das?

RÜTHERS: Das begann eigentlich in den 1880er Jahren nach der Ermordung des Zaren, an der

an der eben auch jüdische Revolutionärinnen beteiligt waren.

FINCK: Angeblich.

RÜTHERS: Nein, tatsächlich, weil diese sozialistische, revolutionäre Bewegung eben viele junge Juden auch anzog. Das war einfach der Zeitgeist damals. Und es gab eine weitere Pogromwelle, es gab 1871 ein Pogrom in Odessa, der allerdings darauf zurückging, dass sich dort griechische und – das ist eine Hafenstadt – griechische und jüdische Händler in Konkurrenz standen und diese Gewalt eher darauf zurückzuführen war. Und man muss auch sagen, dass bei den Pogromen in den 1870er und 1880er Jahren es eigentlich wenig Tote gab. Es gab ein bisschen Gewalt, es wurde ein bisschen geplündert, es wurde eingeschüchtert, aber es war nicht so tödlich. Tödlich wurde es erst im 20. Jahrhundert. Es gab dann Pogrome rund um die Revolution von 1905, weil man auch den Bauern sagen konnte, die Juden wollen die gottgewollte Ordnung zerstören. Aber die gingen nicht von der zentralen Regierung aus, auch schon mit behördlicher Unterstützung, aber die waren lokal und vor allem in den Städten, nicht in den kleineren Orten. Und richtig schlimm, eine Explosion der Gewalt, gab es dann eigentlich im Kontext des Ersten Weltkriegs. Als das Kriegsgeschehen da war, als es Truppen gab, als dann nach dem Krieg in der Ukraine der russische Bürgerkrieg losging zwischen roter und weißer Armee und gleichzeitig ukrainische Milizen für die nationale Unabhängigkeit gekämpft haben, da gab es plötzlich viele Kriegsparteien mit marodierenden Truppen, und viele Schtetl und Dörfer haben immer wieder die Besatzungstruppen gewechselt. Immer wenn die kamen und gingen, haben sie versucht, von den Juden Geld zu erpressen, um ihre Truppen, um ihre Kriegsführung zu bezahlen, und haben Pogrome verübt. Also erst erpresst und dann noch geschlagen, aber auch gemordet und vergewaltigt. Und das war wirklich eine Explosion. Das ist erst in den letzten zehn Jahren richtig erforscht worden. Es gibt unheimlich viele Dokumente dazu. Es wurde zeitnah dokumentiert, organisiert durch jüdische Organisationen damals. Aber das war eigentlich so die große Explosion der Gewalt. Und da kann man sagen, dass Sie im Prinzip alle 20 Jahre Gewaltausbrüche haben. Und dann leben ja die Leute noch, die wissen, wie Pogrome gehen. Also wenn sie 1920, ’22, Pogrome haben und dann 1941 wieder, dann leben die alle noch.

FINCK: Und vorher, in den 1880er Jahren?

RÜTHERS: Da waren es Bauern, auch von den Dörfern, die ins Schtetl gekommen sind. Die Nachbarn haben mitgeplündert, aber es war nicht so tödlich und gewaltsam. Es war mehr so, dass man dann so profitiert hat. Man spricht von intimer Gewalt, weil die Nachbarn irgendwo auch beteiligt waren. Aber diese ganz schlimmen Gewaltexzesse, die sind Teil des Kriegsgeschehens gewesen. Und da ist auch manchmal nicht klar, ob man von Pogromen oder Massakern reden muss. Die Ankunft von Truppen, von auswärts, das ist genau der Punkt, der dann diese Gewaltexplosion ermöglicht. Und die Nachbarn fahren Trittbrett, plündern dann im Nachgang, aber sind nicht eigentlich die Auslöser oder die Hauptmörder.

FINCK: Die Juden flohen vor den Pogromen. Wohin?

RÜTHERS: In der Bürgerkriegsrealität zum Beispiel nach Kiew, wo 40.000 Geflüchtete waren dann aus den kleinen Dörfern und Schtetln, weil’s dort weniger Gewalt gab. Und häufig flohen sie auch einfach in den nächsten Wald. Und wenn sich das verzogen hatte, kamen sie wieder zurück. Aber es war so, dass viele Schtetl immer wieder durch Pogrome heimgesucht wurden. Aber wo sollten sie denn hin?

FINCK: Nach Amerika.

RÜTHERS: Ja, das mit dem Auswandern war auch zunehmend schwierig. Anfang der 20er Jahre fingen die europäischen Länder und die USA schon an, Fremdenpolizeien einzuführen, nicht mehr alle reinzulassen.

FINCK: Und auch eine Quotenregelung – Ja – 1924. Trotzdem wissen wir, dass zwischen 1880 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs ungefähr zwei Millionen Juden aus Osteuropa nach Amerika kamen. Das ist ja eine ungeheure Zahl.

RÜTHERS: Mindestens, ja. Aber es ist auch wichtig zu wissen, dass die Emigration eigentlich eine wirtschaftlich bedingte Emigration war, die in den 1840er Jahren eingesetzt hat. Genauso wie aus dem Alpenraum, aus Norditalien, aus der Schweiz, aus Österreich. Irland auch. Alle hatten ihre Hungersnöte, und überall sind sie ausgewandert. Auch aus Russland, Polen, auch gerade die jüdische Bevölkerung, wegen der demografischen Explosion. Sie haben ja am Anfang gesagt, wie stark die Bevölkerung angestiegen ist. Gleichzeitig gab es eine Industrialisierung, die viele Handwerksberufe überflüssig gemacht hat. Deshalb sind tatsächlich sehr viele Leute ausgewandert. Und die Pogrome haben das natürlich befeuert. Aber nicht ausgelöst. Es war nachher unter Juden in den USA immer so, … warum sind die emigriert? Ja, Pogrome. Aber das ist ein Klischee, ein bisschen. Es hat auch was Wahres, aber das war eigentlich der Verstärker, nicht der Auslöser.

FINCK: In der Literatur, sowohl in der Belletristik, als auch in der Forschung, der historischen Literatur, sind Juden aus Osteuropa verbunden mit Berlin, mit dem Berliner Scheunenviertel, wo die sogenannten Kaftan-Juden ankamen, die von den assimilierten Juden dann gar nicht wohlwollend empfangen wurden, weil man dachte, die sind rückständig, die sind religiös, die sind unzivilisiert. Stimmt das? Waren das alles sogenannte Kaftan-Juden?

RÜTHERS: Das ist ein sehr interessantes Phänomen, das ab den 1880er Jahren zunimmt, dass die auf dem Weg eigentlich in die Emigration, vielleicht auch nach Übersee, sozusagen hängenbleiben. Und dann entsteht eben das Scheunenviertel in Berlin, es gibt den Marais in Paris, es gibt das Schtetl an der Sihl in Zürich, also in größeren europäischen Städten entstehen dann solche jüdischen Gemeinschaften, die dann auch zusammenhalten. Und die westeuropäischen Juden waren ja assimiliert, größtenteils, und emanzipiert und hatten Angst, dass die jetzt ihnen so quasi das Prestige verderben, weil sie genau allen scheinbar antijüdischen Klischees entsprechen, denen man endlich entflohen zu sein glaubte. Deshalb half man ihnen, das waren so die armen Cousins aus dem Osten, aber man war auch froh, wenn sie weiterzogen oder wenn sie sich assimilierten.

Musikakzent

FINCK: Machen wir einen großen Sprung. Im Zweiten Weltkrieg wurden zwischen viereinhalb und fünf Millionen Juden in Ostmitteleuropa durch deutsche und einheimische Kollaborateure ermordet, in ihren Wohnorten, in den Ghettos, die die Nazis eingerichtet hatten, in Konzentrationslagern, in die man sie deportiert hatte. Synagogen wurden zerstört, Schtetl niedergebrannt, niedergewalzt. Grabsteine hat man entfernt, um die Steine zu benutzen und daraus Straßen zu bauen. Heute gibt es keine Schtetl mehr. Gibt es noch Spuren?

RÜTHERS: Ja, es gibt viele Spuren. Man hat auch angefangen in Polen, seit den 80er Jahren, auch gefördert von Stiftungen und auch aus dem polnischen Untergrund zum Teil, diese Friedhöfe wieder auszugraben und die Grabsteine zu reinigen und sich mit dieser jüdischen Vergangenheit als Teil der polnischen Vergangenheit zu beschäftigen, zum Beispiel …

FINCK: Schon im Kommunismus?

RÜTHERS: Ja, im späten Kommunismus schon. So ab Mitte der 80er Jahre.

FINCK: Und bis dahin?

RÜTHERS: Bis dahin war im Sozialismus in der Erinnerungskultur die Shoah kein Thema. Das war eigentlich total unterdrückt. Deshalb war es ja auch für den Untergrund dann interessant, das zu entdecken, weil es auch eine Form des Protests war, zu sagen, da war noch was, was uns verborgen werden sollte. Das ist eine ganz interessante Geschichte.

FINCK: Heute ist es so, dass es – manchmal hat man den Eindruck – einen regelrechten Schtetl-Boom gibt. US-amerikanische Touristen reisen dorthin, suchen nach den Wurzeln ihrer Familien. Es werden Filme gedreht, Bücher geschrieben darüber. Ist das nur ein Wiederaufwärmen von nostalgischen Klischees oder – wie sehen Sie das?

RÜTHERS: Es gibt mehrere Aspekte. Interessant ist, dass in den 90er Jahren es einfach möglich wurde, wieder nach Polen, Litauen, in die Ukraine zu reisen. Und es entstand dann tatsächlich eine ganze Reihe von Reise-Agenturen, die sich darauf spezialisiert haben, gerade für Juden aus den USA solche Reisen in das Schtetl ihrer Vorfahren zu ermöglichen, im säkularisierten Judentum auch. In den USA ist das Judentum sehr pluralisiert. Es gibt alle möglichen Formen und ein ganz breites Spektrum von sehr religiös bis relativ säkular oder Drei-Tage-Juden, oder was man möchte, also sehr viele Varianten. Aber es gilt eben immer als jüdische gute Tat, die Vorfahren zu ehren. Und das tut man, indem man an ihre Gräber geht oder eben, wenn es keine Gräber gibt, die Schtetl besucht. Und das war ein Grund dafür, dass das große Interesse da war, was bis heute angehalten hat, dass man versucht, eben diese Schtetl der Vorfahren zu besuchen. Und das andere ist der Punkt: Es wurde eben in Polen auch möglich, dass jüdische Polen ihre Wurzeln wieder entdeckt haben. Und es gab viele junge Polinnen und Polen, deren Eltern während des Sozialismus nie gesagt haben, dass sie jüdisch sind. Und die haben das, in den 90er Jahren vor allem, erfahren und wollten dann eben auch diese jüdische Identität entdecken und auch leben. Und das war in Polen eigentlich praktisch gar nicht möglich. Es gab nur einen alten, sehr orthodoxen Rabbiner, in Warschau, den Zentralrabbiner, der mit, zum Beispiel, Frauen gar nicht gesprochen hat. Deshalb hat die Lauder-Stiftung aus den USA Rabbiner nach Polen geschickt, um dort Religionsunterricht zu geben, um jüdische Kindergärten einzurichten, Ferienzeiten, Freizeiten zu organisieren und das neu aufzubauen. Und das war eigentlich auch ein Riesenboom dann in den 90er Jahren, dieses jewish revival im Prinzip, um jüdischen Polinnen und Polen zu ermöglichen, ihre Identität wieder aufzugreifen. Das Interessante ist, dass damit eigentlich ein neues Judentum aus den USA nach Europa exportiert wurde. Also ein multikulturelles, internationales, interessantes. Es war dann auch ein Statussymbol. Wenn man dann jüdisch war, hatte man halt Zugang zu diesen ganzen Angeboten und auch sofort ein internationales Umfeld. Es war sehr, sehr attraktiv.

FINCK: Sie haben gerade gesagt, es „war“ sehr attraktiv. Ich möchte jetzt ganz zum Schluss mit Ihnen, obwohl Sie Historikerin sind und wir ein Geschichtspodcast sind, auch einen Blick in die Zukunft werfen. Im vergangenen März berichtete die FAZ über jüdisches Leben im multikulturellen Krakau. Dort existiert seit 2008 ein Jewish Community Center, und der Direktor, Jonathan Ornstein – ein Amerikaner, genau wie Sie gerade gesagt haben, der nach Polen gegangen ist – er beobachtet nicht nur, dass viele westeuropäische Juden und seit dem 7. Oktober auch israelische nach Polen kommen und sich dort niederlassen, weil sie sich sicherer fühlen, tatsächlich. Er glaubt auch, dass die nicht-jüdischen Polen heute ein riesengroßes Interesse an jüdischer Kultur haben. Wie sehen Sie das, Frau Rütters? Wie sehen Sie die Chancen für ein neues Aufblühen jüdischer Kultur in Ostmitteleuropa?

RÜTHERS: Also, es ist sehr ambivalent, weil unter der PiS-Regierung die Bedingungen jetzt auch nicht wieder so ideal waren. Es gibt ja in Krakau schon seit 1988 dieses jüdische Kulturfestival. Und das war lange eigentlich jüdische Kultur ohne Juden. Das war wirklich virtually jewish alles. Dieses jüdische Viertel – nachdem dort Schindler‘s list gedreht worden war, ‘93, hat man angefangen, das so quasi jüdisch aufzupolieren. Es gab jüdische Cafés, aber ohne Juden. Da waren russische Musiker, die haben Klezmer-Musik gespielt, und die Küche war auch nicht koscher. Also es gab so einen ganzen Tourismusboom, um diese jüdischen Viertel wieder zu beleben. Auch in Warschau und auch in der Ukraine gab es diese jüdischen Cafés. Und das wurde von der Forschung, auch aus den USA, auch von der amerikanisch-jüdischen Forschung, ganz eng begleitet. Einerseits kritisch betrachtet, andererseits aber auch als mögliche Kontaktzone. Als Kontaktzone zwischen nicht-jüdischen und jüdischen Polen. Das hat auch ein Stück weit funktioniert, dass diese Festivals auch zum Begegnungsort geworden sind. Aber es war lange so, also bis jetzt wirklich weit in die 2000er, dass auch in Polen Juden im Alltag nicht mit der Kippa durch die Straßen gegangen sind. Lieber nicht. Und dass das jüdische Kulturfestival in Krakau so quasi eine Woche lang verkehrte Welt war, da war dann plötzlich jüdische Kultur hip. Und da liefen dann alle mit der Kippa rum, Juden und Nicht-Juden. Das war so quasi ein bisschen, … ja, ich finde das sehr ambivalent.

FINCK: Ist das denn heute anders? Haben wir heute mehr …?

RÜTHERS: … man kann sich das wünschen. Also was die FAZ schreibt … ich war in Polen, in den 90er Jahren, ich war auch da in diesem Viertel, und die wollten nachher von mir so einen Artikel haben, wo man immer so … quasi dieses Heilende, es sind wieder Juden da, es ist wieder belebt, es sind doch nicht alle umgebracht worden. Das ist dieses deutsche Feuilleton, ein Stück weit, muss ich sagen. Im Prinzip ist die Realität viel ambivalenter.

FINCK: Sie glauben da nicht so richtig dran?

RÜTHERS: Nein, ich glaube, … also Polen sind nicht antisemitischer als andere Leute auch, aber es ist jetzt nicht plötzlich alles anders als früher Ich finde das zu positiv, das ist Wunschdenken, ein Stück weit, dass man wieder an so eine Symbiose denkt, solche Figuren, die kommen da hoch.

FINCK: Vielen herzlichen Dank, Frau Rüthers, für das Gespräch.

RÜTHERS: Gerne.

Musik

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus

Folge 10: Schtetl-Welten. Alltag, Pogrome, Vertreibung

Almut Finck im Gespräch mit Monica Rüthers

Gefördert vom Bundesministerium des Innern und für Heimat

FINCK: Zum Schluss noch zwei Hörtipps, wenn Sie sich mit Judentum in der Geschichte noch weiter auseinandersetzen möchten. Hören Sie mal beim Podcast-Kanal des Moses-Mendelssohn-Zentrums rein. Das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam hat unter dem Titel Jüdische Geschichte Kompakt und gemeinsam mit dem Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden inzwischen mehr als 70 spannende Podcast-Folgen produziert. Interessante Sendungen zu ähnlichen Themen finden Sie auch beim WDR-Zeitzeichen. Beide Links haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt.

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