Fortschrittsgeschichten. Judentum in der Zeit der Aufklärung

Shownotes

Barbara Stollberg-Rilinger betont, dass Aufklärung in der Frühen Neuzeit noch lange nicht hieß, dass man Juden als gleichwertig in ihrer Kultur und in ihrer Sprache betrachtet habe. „Die Aufklärer waren ja eine Elite aus Adel und Bürgertum, und die Vorstellung war, dass man die Menschen erziehen müsse, wie man Kinder erziehen muss, und so muss man eben auch die Juden erziehen.“ Stollberg-Rilinger beschreibt außerdem den extremen katholischen Antijudaismus von Kaiserin Maria-Theresia, die aus religiösen Gründen die böhmischen Juden vertreiben ließ, was zu unermesslichem Leid der Betroffenen, aber auch zu einer wirtschaftlichen Katastrophe für die jeweiligen Gebiete führte.

Prof. Barbara Stollberg-Rilinger ist Direktorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin und hatte zuvor den Lehrstuhl für Frühe Neuzeit an der Universität Münster inne. Sie zählt zu den bedeutendsten Historiker*innen der Frühen Neuzeitgeschichte in Deutschland. Ihre Biografie über Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit erhielt den Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse.

Dr. Heiner Wember ist Radiojournalist und Historiker aus Münster.

Die didaktischen Materialien finden Sie hier: [https://historycast.de/]

Staffel 3, Folge 1 des historycast - was war, was wird? des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. [http://geschichtslehrerverband.de]

Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat.

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STOLLBERG-RILINGER: Aufklärung heißt noch lange nicht, dass man die Juden als gleichwertig in ihrer Kultur, in ihrer Sprache betrachtete. Die Aufklärer waren ja eine Elite aus Adel und Bürgertum, und die Vorstellung war, dass man die Menschen erziehen müsse, wie man Kinder erziehen muss, und so müsse man eben auch die Juden erziehen.

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus

Folge 1: Fortschrittsgeschichten

Judentum in der Zeit der Aufklärung

Heiner Wember im Gespräch mit Barbara Stollberg-Rilinger

WEMBER: Im Hochmittelalter erlebte das jüdische Leben in vielen Teilen Europas eine Blüte, vor allem in Spanien und im Rheinland. Doch als die Pest durch Europa zog, mussten Juden als Sündenböcke herhalten. Fast alle jüdischen Gemeinden im Reich wurden vernichtet. Für Juden in Spanien endete das Mittelalter mit der kompletten Vertreibung. Wurde das Leben für Juden danach in der frühen Neuzeit leichter, Frau Stollberg-Ringer?

STOLLBERG-RILINGER: Ja, man muss zunächst sagen, dass Juden nach und nach wieder zurückkehrten und sich wieder allmählich jüdische Gemeinden bildeten, auf dem Land sogenannte Landjudenschaften. Es gab durchaus allmählich wieder jüdisches Leben im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, der ja insgesamt eine verheerende Epoche der deutschen Geschichte war, kam es allgemein im deutschen Raum zu einer starken Bevölkerungs-Vermehrung, und das galt dann auch für die jüdische Bevölkerung. Sie nahm deutlich zu, und das hatte zur Folge, nicht nur für die Juden, sondern auch für alle anderen, dass es eine zunehmende Spreizung gab zwischen wenigen Wohlhabenden und einer wachsenden Masse von armen Menschen.

WEMBER: Dazu kommen wir gleich noch. Jetzt will ich Sie erst mal vorstellen. Barbara Stollberg-Rilinger ist Direktorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin und hatte zuvor den Lehrstuhl für Frühe Neuzeit an der Universität Münster. Die Frühe Neuzeit umfasst in etwa den Zeitraum zwischen den Jahren 1500 und 1800, der eine Zeit voller großer Umbrüche in Europa war. Stollberg-Rilinger zählt zu den bedeutendsten Historikerinnen und Historikern der Frühen Neuzeitgeschichte in Deutschland. Ihre Biografie über Kaiserin Maria Theresia erhielt den Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse. Frau Stollberg-Rilinger, am Ende der Frühen Neuzeit kam die Forderung auf nach der sogenannten Judenemanzipation. Wie sah das zu Beginn aus, am Ende des Mittelalters. Wo und wie lebten Juden bei uns im Zeitalter der Glaubenskämpfe, etwa ab 1500?

STOLLBERG-RILINGER: Man muss vielleicht vorwegschicken, dass die Frühe Neuzeit eine Zeit der ständischen Ungleichheit war. Das heißt, es war normal, dass Menschen unterschiedliche Rechte hatten. Es gab kein allgemeines Bürgerrecht oder so etwas. Das war ja erst eine Errungenschaft der Französischen Revolution. Das heißt, dass Menschen unterschiedlich privilegiert waren. Juden hatten so gut wie keine Rechte, sie hatten Zugang zu fast keinem Erwerbszweig.

WEMBER: Was durften sie nicht? Sie durften kein Land besitzen.

STOLLBERG-RILINGER: Sie durften vor allem kein Land besitzen. Wenn man sich vorstellt, dass damals der überwiegende Teil der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebte, war das natürlich eine immense Einschränkung. Sie durften keine Handwerke ausüben, also zünftiges Handwerk war ihnen verschlossen.

WEMBER: Da kamen sie einfach nicht rein als Juden!

STOLLBERG-RILINGER: Da wurden sie einfach nicht zugelassen. Dann waren ihnen auch Ämter im Staatsdienst verschlossen; es waren ihnen die Universitäten und Akademien verschlossen.

WEMBER: Und das Militär.

STOLLBERG-RILINGER: Es war ihnen das Militär verschlossen, was vielleicht nicht unbedingt immer ein Nachteil war.

WEMBER: Da konnte man schnell Karriere machen, beim Militär. Das war die einzige Aufstiegschance, oder?

STOLLBERG-RILINGER: Aber es war natürlich auch für die überwiegende Mehrzahl der Menschen kein angenehmer Dienst. Also, davor waren sie verschont, könnte man sagen, sie waren praktisch in fast allen Hinsichten ausgeschlossen, so dass sie ausweichen mussten auf einige wenige, ihnen nicht verbotene Erwerbsmöglichkeiten.

WEMBER: Als da wären?

STOLLBERG-RILINGER: Das waren zum Teil Handelsgeschäfte mit besonderen Handelswaren, aber auch vor allem Kreditgeschäfte.

WEMBER: Das eine hing mit dem anderen auch zusammen: Handel, Wechsel, Kredite für kurze Zeit.

STOLLBERG-RILINGER: Genau, das war natürlich eng miteinander verflochten, und für beides war es von Nutzen, dass jüdische Familien über ein weit verzweigtes Geflecht von Kontakten, familiären und landsmannschaftlichen Kontakten verfügten. Man muss sich ja vorstellen, dass Handelstätigkeit in hohem Maße auf persönlichem Vertrauen beruhte. Man musste sich auf die Handelspartner verlassen können. Es gab ja noch nicht so was wie Versicherungswesen und so weiter. Das heißt, es ging um persönliche Kontakte, und die Juden verfügten wegen ihrer Vertreibungsgeschichte über ein weit verzweigtes Netzwerk von Kontakten über ganz Europa, im Gegensatz zu vielen eingesessenen Menschen in einzelnen Fürstentümern und Ländern. Das eröffnete ihnen die Möglichkeit, Handelsgeschäfte vielleicht etwas besser betreiben zu können als andere.

WEMBER: Die mussten noch äußerlich kenntlich sein als Juden, auch auf dem Lande.

STOLLBERG-RILINGER: Es gab immer schon, auch im Mittelalter, spezielle Kennzeichnungen für Juden. Ob das immer streng kontrolliert wurde, ist die Frage. Aber in der Regel waren im Mittelalter Juden an ihren Hüten oder anderen Markierungen zu erkennen; sie wurden immer schon in bestimmter Weise kenntlich gemacht. Man darf aber nicht denken, dass sie immer vollkommen getrennt von der christlichen Mehrheitsbevölkerung lebten, sondern es existierten durchaus mehr Alltagskontakte, als man sich das lange vorgestellt hat. Es war nicht so, dass sie überall in Ghettos lebten.

WEMBER: Auf dem Lande war das ja faktisch auch gar nicht möglich.

STOLLBERG-RILINGER: Genau, auf dem Lande war es gar nicht möglich. Da gab es auch nicht so viele Juden, und die wenigen, die es gab, lebten relativ unangefochten mit der christlichen Mehrheitsbevölkerung zusammen. Aber da sie zum Beispiel auch von dem Recht der Freizügigkeit nicht profitieren konnten, konnten sie eben nur da siedeln, wo man es ihnen ausdrücklich zugestand. Sie waren auch vom Bürgerrecht in den Städten ausgeschlossen. Das war ein ganz wichtiges Recht. Was eben auch erwähnt werden muss: Ihr Status war immer prekär. Wo immer sie sich aufhielten, konnten sie jederzeit vertrieben werden, und was sie bestenfalls bekamen, waren Schutzbriefe. Sie waren dann sogenannte Schutzjuden, die ein Privileg besaßen, also ein ausdrücklich ihnen zugestandenes Recht, nicht ein Recht, das sie als Menschen oder Bürger hatten, wie man das heute erwarten würde, sondern ein bloßer Aufenthaltsstatus, der normalerweise teuer bezahlt werden musste. Den bekam man nicht umsonst.

WEMBER: Wie wurde das organisiert? Dass dieses Geld zusammenkam?

STOLLBERG-RILINGER: Ja, es war in der Frühen Neuzeit üblicherweise generell so, nicht nur bei den Juden, dass sich die Landesobrigkeiten nicht an die einzelnen Bürger hielten. Das heißt, es wurde die ganze jüdische Gemeinde in einer Stadt oder die ganze Judenschaft in einer bestimmten Region mit Steuern belastet. Deren Vorsteher mussten diese Steuern dann untereinander umlegen, einsammeln und an die Obrigkeit abführen, und das hatte zur Voraussetzung, dass die Gemeinden sich kollektiv organisierten. Das mussten sie nicht nur wegen der Steuern, sondern es lag auch nahe, weil sie ja kollektive Aufgaben gemeinsam lösen mussten, also gemeinsame Badehäuser, Backhäuser, Versammlungshäuser, und, ganz wichtig: Synagogen und Schulen betreiben mussten.

WEMBER: Das hat wahrscheinlich auch den inneren Zusammenhalt sehr stark gefördert, die Binnenstruktur.

STOLLBERG-RILINGER: Das hatte zur Folge, dass eine gewisse gemeindliche Solidarität entwickelt werden musste, weil die Spreizung zwischen den vielen armen Juden und den wenigen, die tatsächlich mit ihren Handels- und Bankgeschäften zu sehr großem Reichtum kamen, immer größer wurde. Das heißt, man erwartete, dass die Reichen für die Armen mit zahlten. Diese innerjüdische gemeindliche Solidarität wurde natürlich, je mehr die Masse der armen Juden anwuchs, desto mehr strapaziert. Viele hatten aber auch gar kein Schutzrecht; sie wurden dann zwar vielleicht von den Steuerforderungen nicht erfasst, wanderten dafür aber ohne Rechte zwischen den Ländern hin und her.

WEMBER: Lassen Sie uns reden über die Juden in den Städten. Da gab es dann eher zum Beispiel das Ghetto in Frankfurt. Das wurde abends auch abgeschlossen.

STOLLBERG-RILINGER: Ghettos reichten für die zunehmende Bevölkerung immer weniger aus; es kam in manchen Städten zu einer absoluten Überfüllung. Diese überfüllten Ghettos machten natürlich auf die gut situierten Bürger dann keinen zivilisierten Eindruck.

Musikakzent

WEMBER: Sie sprachen schon von der Spreizung innerhalb der jüdischen Gemeinde. Ganz Arme, viele ganz Arme, aber auch einige ganz, ganz Reiche. Wie kam das zustande, dass einige diesen Riesensprung schafften zu sogenannten Hofjuden?

STOLLBERG-RILINGER: Ja, weil diese jüdischen Kaufmanns-Netzwerke über besonders begehrte Luxuswaren verfügen, wie zum Beispiel Pelze oder Juwelen, oder eben über Geld. Das führte dazu, dass einzelne, die über solche guten Handelsbeziehungen verfügten, unter Umständen zu großem Reichtum kamen, was aber auch jederzeit prekär war, weil ein Fürst über die Möglichkeit verfügte, die Schulden, die er gemacht hatte, einfach zu streichen. Dann verlor er zwar das Vertrauen dieser jüdischen Händler, aber das war ihm unter Umständen auch egal. Die Chancen, die Schulden gegenüber einem mächtigen Landesfürsten einzuklagen, waren natürlich sehr gering.

WEMBER: Ein Paradebeispiel dafür ist Joseph Süß Oppenheimer, sogenannt verächtlich Jud Süß, später auch Titel dieses Propagandafilms der Nationalsozialisten. Der war Hoffaktor des Herzogs von Württemberg, so um 1700.

STOLLBERG-RILINGER: 1730er Jahre.

WEMBER: Genau, der hat sich auch verdient gemacht, zunächst mal um die Staats-Sanierung, also hat sich nicht nur selbst bereichert, sondern hat offenbar auch dafür gesorgt, dass dieser defizitäre Haushalt halbwegs ins Lot kam.

STOLLBERG-RILINGER: Das war eigentlich insofern eine bemerkenswerte Ausnahme, als Oppenheimer tatsächlich als so eine Art Finanzminister des württembergischen Herzogs fungiert hat. Normalerweise waren ja Juden von Staatsämtern ausgeschlossen, aber ihn hat man tatsächlich zu einer Art Finanzminister oder Wirtschaftsminister gemacht und der Herzog hat ihm einen sehr weiten Spielraum gelassen, um zum Beispiel Manufakturen einzurichten, eine Art von merkantilistischer Wirtschaftspolitik zu betreiben, das heißt, dafür zu sorgen, dass Geld ins Land kam durch gewerbliche Wirtschaft, aber auch eine sehr rigide Finanz- und Steuerpolitik zu entwickeln, die moderner war als die althergebrachte. Damit machte man sich natürlich bei den Untertanen nicht besonders beliebt. Es ist umstritten, wie man das aus heutiger Sicht bewertet. Man kann einerseits sagen, es war ein Beitrag zur modernen Staatsbildung, zur Entwicklung moderner Staatsfinanzen und Staatswirtschaft. Andererseits kann man aber auch sagen, es war ein Fortschritt in der Ausbeutung der Ressourcen des Landes zugunsten der landesherrlichen Schatzkammer.

WEMBER: Die Ursachen für diesen Hass auf den Oppenheimer? Lagen die allein darin, dass er als Finanzminister Steuern erhöht oder eingenommen hat? Oder hatte das auch religiöse Gründe?

STOLLBERG-RILINGER: Der Herzog war zum Katholizismus übergetreten. Das war ein Riesenproblem, weil die Untertanen nach wie vor lutherisch waren, so dass es einen massiven Konfessionsgegensatz gab, und konfessionelle Ressentiments gegen den Herzog verbanden sich jetzt mit Ressentiments gegenüber dem jüdischen Minister.

WEMBER: Als der Herzog dann tot war,

STOLLBERG-RILINGER: Das eröffnete natürlich die Möglichkeit, gegen diesen jüdischen und außerdem in den Augen der Untertanen ausbeuterischen und absolutistischen jüdischen Berater vorzugehen. Und dann hat man ihn angeklagt, und zwar des Hochverrats.

WEMBER: Dann hingerichtet und den Leichnam sechs Jahre lang in einem Käfig zur Schau gestellt.

STOLLBERG-RILINGER: Das ist natürlich grausam. Man muss allerdings sagen, dass damals solche ganz grausamen Strafen nicht so unüblich waren und sich nicht nur gegen den jüdischen Hoffaktor richteten, sondern auch gegen Verbrecher, an denen man ein Exempel statuieren wollte.

WEMBER: Diese Hofjuden, die im Handel und im Bankwesen tätig waren, haben die dann eigentlich zu einer Modernisierung insgesamt dieser Länder beigetragen? Waren sie Fortschritts-Motoren, dass sie praktisch schon vorweggenommen haben, was dann später kommen sollte?

STOLLBERG-RILINGER: ‚Fortschritt‘ hat ja immer eine sehr positive Konnotation. Ich würde den Begriff als Historikerin immer eher wertneutral verwenden. Aber man muss einfach sagen, die Fürsten damals brauchten Geld, sie brauchten flüssiges Geld, sonst hätten sie immer ihre Stände um Geldzahlungen bitten müssen. Das dauerte lange und da kam meistens nicht viel ein. Sie brauchten aber bares Geld, vor allem, um Kriege zu führen, aber auch für ihre Hofhaltung, für ihre Schlösser, für ihre wertvollen Hobbys und so weiter. Dieses bare Geld bekamen sie eben am leichtesten von den Hofjuden und vor allem am wenigsten riskant. Weil die Juden rechtlos waren, waren sie natürlich besonders gute Werkzeuge für diese fürstlichen Interessen.

Musikakzent

WEMBER: Lassen Sie uns sprechen über ein Herrschergeschlecht, was ganz eng mit dem Judenhass auch zu tun hat, nämlich mit den Habsburgern. In ihrem Buch über Maria Theresia haben sie ja mit zwei Klischees aufgeräumt. Das eine Klischee lautete, dass Maria Theresia sehr volksnah gewesen sei. Das war sie wohl nicht, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Das zweite war, was man gerne unter den Tisch fallen ließ, dass sie eine ausgesprochene Judenhasserin war. Kann man das so sagen?

STOLLBERG-RILINGER: Ja, das muss man tatsächlich leider sagen. Sowohl gegenüber den protestantischen Minderheiten in ihrem Land, die sie auch gnadenlos verfolgt hat, als auch gegenüber den Juden war sie eben nicht die gnädige, liebende Landesmutter, als die sie immer inszeniert worden ist. Tatsächlich wurde sie zwar von vielen sehr verehrt, auch zu ihrer Zeit schon, aber tatsächlich war sie gegenüber den Juden gnadenlos. Das hatte im habsburgischen Herrscherhaus Tradition. Da gab es eine lange Tradition von Ausweisungsschüben, in denen man Juden kollektiv des Landes verwies.

WEMBER: Eigentlich hätte sie Gründe gehabt, auch Juden dankbar zu sein bei ihrer Thronbesteigung.

STOLLBERG-RILINGER: Ja, sie bedurfte genau wie viele andere Fürsten der Zeit des jüdischen Geldes, das ist überhaupt keine Frage, auch zum Beispiel für Schönbrunn.

WEMBER: 300.000 Gulden.

STOLLBERG-RILINGER: Dafür brauchte sie einen jüdischen Hoffaktor, den sie auch hatte. Das ist die eine Seite der Sache. Eine andere Seite, die man auch erwähnen muss, ist, dass traditionell das Kaiserhaus oder, besser gesagt, das Kaiseramt, das ja fast immer von den Habsburgern bekleidet wurde, als Schutz der Juden galt. Das heißt, die Kaiser galten als die Schutzherren der Juden.

WEMBER: Ein mittelalterlicher Kaiser, Kaiser Friedrich II., hatte sie zu Kammerknechten erklärt.

STOLLBERG-RILINGER: Sie wurden gewissermaßen behandelt wie Familiares, also Angehörige des kaiserlichen Hofes, und sie wurden vom Kaiser in vieler Hinsicht geschützt, mit Privilegien ausgestattet und so weiter. Und in gewaltsamen Ausschreitungen, Pogromen gegen Juden in Reichsstädten wie zum Beispiel Frankfurt, war es tatsächlich oft der Kaiser, der den Juden Rückhalt gab gegen die städtische Bevölkerung, auch gegen die städtischen Räte. Das heißt, eigentlich gab es traditionell eine kaiserliche Schutzherrschaft über die Juden. Aber im Falle von Maria Theresia und auch einzelner ihrer Vorgänger hat das wenig bis gar keine Rolle gespielt, sondern wegen der gegenreformatorischen, dezidiert katholischen Politik, die diese Herrscher betrieben haben, kam dieser biblisch oder neutestamentlich, also religiös begründete Judenhass zu besonderer Geltung, nämlich die Vorstellung, dass die Juden die Christusmörder sind. Das war ja eine alte Vorstellung, die auch im Mittelalter, in Spanien und so weiter immer wieder auch zu furchtbaren Gewaltexzessen geführt hat. Und dieser religiöse Abscheu – man muss es wirklich so nennen, weil Maria Theresia es selber so genannt hat – dieser Abscheu verband sich mit der Verachtung gegenüber Juden als denen, die die Christen ausplündern, die die Christen betrügen.

WEMBER: Von Maria Theresia ist überliefert, dass sie gesagt hat bis zu ihrem Tod, dass es ihr innerstes Anliegen war, Zitat: Die Juden zu vermindern, keineswegs mehr zu vermehren, unter keinem Vorwand. Und solchen Worten folgen dann oft auch Taten, nämlich nachdem Preußen eine Zeitlang Prag besetzt hatte, 1744, gab's nach der Rückeroberung dann tatsächlich eine großangelegte Vertreibungs-Aktion.

STOLLBERG-RILINGER: Richtig, den Juden wurde vorgeworfen, mit dem Feind gemeinsame Sache gemacht zu haben.

WEMBER: Was nicht stimmt.

STOLLBERG-RILINGER: Was nicht stimmte. Daraufhin gab es zuerst ein Pogrom im Prager Ghetto, das wirklich niedergemacht wurde, die Menschen wurden zum Teil umgebracht, zum Teil vertrieben. Und dann hat Maria Theresia selbst verfügt, dass zum 1. Januar, das heißt mitten im sehr strengen Winter, die Prager Juden alle die Stadt verlassen mussten. Man muss dazu sagen, dass Prag die größte Judengemeinde in den habsburgischen Ländern hatte.

WEMBER: Ein Viertel der Bevölkerung; 10000 Menschen waren jüdisch.

STOLLBERG-RILINGER: Es war wirklich eine riesige und auch wohlhabende jüdische Gemeinde, die absolut zentral war für den Handel in den habsburgischen Ländern. Ohne diese jüdischen Händler brach der Handel zusammen, die Handwerker hatten keine Rohstoffe mehr und so weiter.

WEMBER: Da gab es ja auch Widerstand, oft selbst von den Handwerkern dagegen.

STOLLBERG-RILINGER: Erstaunlicherweise hat es auf diesen Befehl von allen möglichen Seiten einen großen Widerstand gegeben. Die Stände, also Adel und Städte, und die Minister haben Maria Theresia regelrecht bekniet, den Befehl zurückzunehmen, weil er katastrophale Folgen haben würde für die Wirtschaft in den ganzen Ländern, aber auch aus christlicher Nächstenliebe. Die Berater haben tatsächlich auch mit der christlichen Nächstenliebe argumentiert und gesagt, man kann diese Menschen nicht mitten im Winter aus der Stadt jagen, die verhungern und die erfrieren unterwegs, es sind Frauen und Kinder und Alte und Gebrechliche darunter. Doch sie hat das mit einer bemerkenswerten Starsinnigkeit abgelehnt. Das Interessante ist, dass die Juden selber überzeugt waren, dass es nicht die gnädige Landesmutter sein könne, die sie vertreibt, sondern dass es ihre bösen Einflüsterer aus dem Adel und den Ständen sein müssten, aber nicht die gnädige Landesmutter. Das stimmte nicht, es ist eindeutig, und die Quellen zeigen es ohne jeden Zweifel, dass es die Monarchin selber war, die darauf beharrt hat. Und dann gab es, auch das ist sehr bemerkenswert, eine unglaubliche Aktivität unter den jüdischen Familien.

WEMBER: Internationale Solidarität.

STOLLBERG-RILINGER: Der jüdische Hoffaktor Wertheimer hat seine Beziehungen zu den Höfen überall in Europa aktiviert, bis nach England und bis hin zum Papst in Rom, um die Fürsten, die Könige, den Papst dazu zu bewegen, für die Juden bei Maria Theresia eine Fürsprache einzulegen. Dafür wurde sogar eigens die Sabbatruhe ausgesetzt. Die Boten durften sogar die Sabbatruhe ignorieren.

WEMBER: Das heißt schon was.

STOLLBERG-RILINGER: Das heißt wirklich etwas, es wurde ihnen ausdrücklich von den Rabbinern erlaubt. Dann hat es überall in Europa diplomatische Aktivitäten gegeben, und die Fürsten haben sich an Maria Theresia gewandt und tatsächlich ein Wort für die Juden eingelegt. Das hat alles nichts genutzt. Sie hat an diesem Befehl festgehalten. Das ist dann allerdings an der bekannten Behäbigkeit der Bürokratie – zwar nicht ganz gescheitert, aber doch....

WEMBER: Verzögert worden.

STOLLBERG-RILINGER: Aber der Befehl wurde sogar noch ausgeweitet auf ganz Böhmen; die Juden sollten nicht nur Prag, sondern ganz Böhmen verlassen. Viele sind zum Teil informell, heimlich wieder zurückgekommen. Aber man muss sehen, dass die Monarchin tatsächlich alle Argumente vom Tisch gewischt und an dieser gnadenlosen Vertreibung festgehalten hat. Erst Jahre später, als sich rausstellte, dass die vielen Mahnungen und Warnungen zutrafen, dass wirklich die Wirtschaft massiv geschädigt worden war, weil man auf die Juden nicht verzichten konnte, durften sie gnädiger Weise in das vollständig zerstörte Prager Ghetto zurückkehren und mussten dafür auch noch eine Abgabe zahlen, die genauso hoch war wie die wirtschaftlichen Schäden, die die Vertreibung verursacht hatte.

WEMBER: Sie durften für ihre eigene Vertreibung zahlen.

STOLLBERG-RILINGER: Genau!

WEMBER: Es fielen die Leichen der Menschen wie Dünger auf dem Felde.

STOLLBERG-RILINGER: Das ist ein biblisches Zitat, das die Juden verwandten, um diese furchtbare, furchtbare Verfolgung zu beschreiben.

Musikakzent

WEMBER: Die Aufklärung brauchte neues Denken. Es sollte ja um Vernunft und Verstand gehen. Da könnte man ja zunächst meinen, das war eine Riesenchance, aber das war auch sehr zweischneidig.

STOLLBERG-RILINGER: Zunächst einmal muss man sagen, die Aufklärung war sehr vielschichtig, vielgestaltig und ambivalent. Ein großer und berühmter Aufklärer wie Voltaire hat ganz furchtbare Sachen über die Juden geschrieben. Andererseits hat die Aufklärung aber auch zum ersten Mal den Gedanken aufgebracht, dass man die Menschen als Menschen gleich behandeln müsse, als „Angehörige des Menschengeschlechts“. Und damit zusammen hängt dann auch der Gedanke, dass die Menschen in einem Staat gleiche staatsbürgerliche Rechte haben sollten, im Gegensatz zu den korporativen Rechten, von denen ich eingangs gesprochen habe, den Privilegien, also den je nach Stand, je nach Zugehörigkeit unterschiedlichen Rechten.

WEMBER: Aus den Christusmördern wurden dann potenziell theoretisch gleichberechtigte Menschen, und das Erziehungsideal spielt eine Riesenrolle. Man konnte jeden Menschen erziehen, vermeintlich.

STOLLBERG-RILINGER: Genau, das war ein ganz wichtiger Gedanke. Aufklärung heißt ja noch lange nicht, dass man die Juden in ihrer Kultur, in ihrer Sprache und so weiter als gleichwertig betrachtet hätte, sondern es hieß zunächst einmal nur, auch die Juden seien zu Staatsbürgern erziehbar, was aber genauso für die unteren Schichten der christlichen Mehrheitsgesellschaft galt. Die Aufklärer waren ja eine Elite aus Adel und Bürgertum, und ihre Vorstellung war, dass man die Menschen erziehen müsse. Wie man Kinder erziehen muss, so müsse man auch die Menschen in anderen Weltgegenden erziehen und zivilisieren, und so müsse man und könne man auch die Juden erziehen und zivilisieren. Die Frage war dann, wie es mit den Juden weitergehen sollte, also ob man sie zuerst taufen müsse und ob sie überhaupt bereit sein würden, sich taufen zu lassen. Es gab allerdings auch Zwangstaufen der Juden. Jedenfalls kam ein radikal neuer Gedanke auf, und zwar bemerkenswerterweise zum ersten Mal von einem preußischen Beamten, nämlich Christian Wilhelm Dohm – der für meine Begriffe viel zu wenig bekannt ist –, der 1781 ein Buch veröffentlicht hat mit dem Titel „Von der bürgerlichen Verbesserung der Juden“.

WEMBER: Die Bibel der Judenemanzipation.

STOLLBERG-RILINGER: Genau, worin Dohm nämlich zum ersten Mal schrieb, dass die Juden an ihrem Zustand nicht selbst schuld seien. Er gestand zu, dass ihr Zustand verändert werden müsse, dass die Kritik der Christen nicht völlig unberechtigt sei, aber dass sie eben an diesem Zustand nicht schuld seien, sondern ja von den Christen dazu gezwungen würden. Und er hat zum ersten Mal die Vorstellung von allgemeiner Menschenwürde und staatsbürgerlicher Gleichheit auf die Juden ausgedehnt, was damals wirklich radikal war, das war ja noch vor der Französischen Revolution.

WEMBER: 1781, acht Jahre vor der Revolution, im selben Jahr, als Emanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ erschien. Dohm war auch befreundet mit Lessing, auch mit Moses Mendelssohn, hatte also auch direkte Kontakte zu einem jüdischen Aufklärer.

STOLLBERG-RILINGER: Ja, es gab da die Berliner Mittwochsgesellschaft, einen Zirkel von Berliner Aufklärern, in denen solche wirklich revolutionären Gedanken diskutiert wurden. Nebenbei bemerkt: Die Juden bürgerlich gleichzustellen war damals genauso revolutionär wie die Frauen staatsbürgerlich gleichzustellen. Beides waren sensationelle Forderungen, eigentlich das Radikalste, was man sich damals überhaupt vorstellen konnte.

WEMBER: Hat der Dohm das auch gefordert, die Gleichstellung der Frau?

STOLLBERG-RILINGER: Schriftlich ist es auch von einem preußischen Beamten, nämlich Theodor von Hippel, zuerst formuliert worden, der schrieb „Von der bürgerlichen Verbesserung der Weiber“. Diese preußischen Beamten in Berlin, die sich in dieser Mittwochsgesellschaft trafen, waren schon damals sehr, sehr, sehr fortschrittlich in einem positiven Sinne des Wortes.

WEMBER: Vor der Französischen Revolution.

STOLLBERG-RILINGER: Vor der Französischen Revolution schon, und Dohm ist wirklich eine Ausnahmegestalt. Es gab schon allerlei Lichtgestalten unter den preußischen Bürokraten. Man muss aber auch sagen, dass der vielgerühmte Friedrich II., also „der Große“ oder „der Einzige“, wie manche Zeitgenossen ihn genannt haben.

WEMBER: Zu dem ja auch viele vertriebene Juden aus Böhmen dann kamen.

STOLLBERG-RILINGER: Viele Juden sind nach Preußen geflüchtet. Aber der Friedrich II. selber, der ja auf dem Standpunkt stand, jeder soll nach seiner Fasson selig werden, hat keineswegs eine judenemanzipative Politik verfolgt, sondern im Gegenteil die Juden ganz besonders ausgepresst, indem er sie für ihre Schutzbriefe eben nicht nur wie üblich zahlen ließ, sondern sie zusätzlich noch verpflichtete, riesige Mengen des Porzellans der Königlich Preußischen Manufaktur zu kaufen, die nicht besonders florierte, die es ja auch heute noch gibt: KPM. Von dieser Manufaktur mussten die Juden, wenn sie ihr Aufenthaltsrecht behalten wollten, für sich selbst oder für eins oder zwei ihrer Kinder, riesige Mengen von diesem damals nicht besonders gut gehenden KPM-Porzellan kaufen.

WEMBER: Und dann durfte auch nur der älteste Sohn heiraten, auch in Preußen!

STOLLBERG-RILINGER: Genau, es gab auch diese massive Beschränkung, um die Vermehrung der Zahl der Juden zu begrenzen, dass nur der Älteste heiraten durfte, dass nur eine bestimmte Zahl das Aufenthaltsrecht erbte – bzw. eben nicht automatisch erbte, sondern immer wieder neu verliehen bekam.

WEMBER: Sagen Sie noch einen Satz zu Moses Mendelssohn. Er gilt ja auch als Aufklärer. Was war sein Weg?

STOLLBERG-RILINGER: Das ist auch ein sehr charakteristisches Phänomen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, dass einzelne Juden – Moses Mendelssohn gehörte nicht zu den reichen Bankiers oder Kaufleuten – , dass einzelne Juden durch Bildung an dem aufgeklärten Diskurs teilnahmen und tatsächlich dann auch unter Gebildeten wie Ihresgleichen behandelt wurden, wenn auch in ganz engen Grenzen. Mendelssohn ist nicht in die Königliche Akademie aufgenommen worden, aber in diese Mittwochsgesellschaft. In solche informellen Zirkel wurden gebildete Juden durchaus aufgenommen und als Gesprächspartner auf Augenhöhe behandelt. Aber die Teilnahme an dem aufgeklärten Diskurs war ambivalent. Leute wie Mendelssohn waren der Meinung, dass man die jüdische Mehrheit durch Erziehung aus ihrem unzivilisierten Zustand befreien müsse. Zum Beispiel sollten sie dann allerdings auch das Jiddische ablegen. Das Jiddische galt als unzivilisiertes Volkskauderwelsch, dass man überwinden müsse. Das heißt, Aufklärung bedeutete auch eine gewisse Assimilation an die christliche Mehrheitsgesellschaft, und das ist natürlich zwiespältig, aber es war vielleicht nicht anders möglich. Viele dieser aufgeklärten und zunehmend assimilierten Juden konvertierten dann auch, vor allem im 19. Jahrhundert, weil sie glaubten, dass sie auf diese Weise das Stigma des Jüdischseins überwinden könnten – was ein Irrtum war.

WEMBER: Denn dann gab es den rassischen, rassistischen Antisemitismus.

STOLLBERG-RILINGER: Genau! Judenfeindschaft wurde dann zunehmend biologisch begründet, auf der vermeintlichen jüdischen „Rasse“, besser gesagt: auf der Konstruktion einer jüdischen „Rasse“. Es verschob sich also von einem stärker religiös und sozial-kulturell bedingten Antijudaismus zu einem stärker biologisch gerechtfertigten Antisemitismus.

WEMBER: Das Problem dabei war auch, dass die Binnenstruktur der jüdischen Gemeinden sehr eng gewesen war, durch den Druck von außen dann plötzlich sich auch auflöste.

STOLLBERG-RILINGER: In dem Moment, als man tatsächlich, wie es in der französischen Nationalversammlung 1791 der Fall war, die Gleichstellung aller Staatsbürger realisierte und damit auch die Juden bürgerliche Rechte erhielten – Frauen immer noch nicht, aber die Juden. Damit verloren sie allerdings auch bestimmte Autonomierechte, korporative Gemeindestrukturen, die zwar immer auch gefährdet gewesen waren, aber die immerhin doch eine gewisse autonome Selbstverwaltung gewährleistet hatten.

WEMBER: Dann wurde das zu einer Art Staat im Staate, den man nicht mehr tolerieren wollte.

STOLLBERG-RILINGER: Genau, eine solche Autonomie wollte man dann eben auch nicht mehr, genau wie alle möglichen anderen korporativen Rechte und Privilegien ja in der Revolution abgeschafft wurden. Auch das war ambivalent. Wie immer in der Geschichte sieht man, dass solche großen Transformationsprozesse nie einfach nur wunderbare Fortschrittsgeschichten sind, sondern immer auch ihre Schattenseiten haben.

Musikakzent

WEMBER: Über Preußen haben wir jetzt gerade schon gesprochen. Es ging dann anschließend um die Fragen im 19 Jahrhundert: Assimilation, Integration, Autonomie. Das sollten die großen Fragen werden.

STOLLBERG-RILINGER: Im Gefolge der Französischen Revolution wurde dann in vielen deutschen Einzelstaaten tatsächlich bürgerliche Gleichberechtigung der Juden eingeführt. Das war aber in den allermeisten Ländern nicht von langer Dauer. Im Gefolge des Wiener Kongresses, in der sogenannten Restaurationsepoche, als viele revolutionäre Errungenschaften wieder zurückgenommen wurden, wurde eben auch die jüdische Gleichberechtigung meistens wieder abgeschafft.

WEMBER: Erstaunlich ist, dass dann während der Befreiungskriege das äußere Feindbild Frankreich war, Napoleon. Kein Wunder, das aber als inneres Feindbild häufig der Jude dann genommen wurde. Dann ging das wieder von vorne los.

STOLLBERG-RILINGER: Ja, man muss generell sagen, das Besondere an der Judenfeindschaft ist, dass die Juden eben immer unter den Christen lebten und deswegen mit ganz besonderem Misstrauen verfolgt wurden, weil sie nicht wie ein äußerer Feind so einfach lokalisierbar waren, wie die Franzosen, die Engländer, die Spanier oder wie auch immer. Sondern sie lebten eben überall in Europa zwischen den Christen, und deswegen fiel auf sie immer ganz besonders leicht die Sündenbockrolle. Deswegen ja auch das fanatische Bedürfnis, sie zu markieren, damit sie nicht ununterscheidbar waren, indem man verbot, dass sie die gleiche Kleidung trugen wie Christen, oder indem man ihnen vorschrieb, wir sprachen schon davon, dass sie Bart tragen mussten oder eine Markierung an der Kleidung. Dahinter steht ja, dass man Angst vor ihnen hatte; man wollte sie markieren, um sie zu erkennen, um sich gegen sie zu wappnen, und das unterscheidet sie von den klassischen äußeren Feindbildern.

Einen Punkt würde ich noch gerne erwähnen, der auch besonders ist. Es gab ja in der Frühen Neuzeit starke konfessionelle Auseinandersetzungen, und die Andersgläubigen der jeweils anderen christlichen Konfession waren ja auch potenzielle Sündenböcke, vor allem, wenn sie als Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft lebten. Aber im Unterschied zu diesen konfessionellen Minderheiten innerhalb des Christentums hatten die Juden nirgendwo auf der Welt ein Land, das von Ihresgleichen regiert wurde. Die Katholiken in England, die dort verfolgt wurden, hatten katholische Monarchen in Spanien, in Frankreich und so weiter; die protestantische Minderheit in Frankreich hatte protestantische Fürsten in der Nachbarschaft, zu denen sie sich flüchten konnte. Die Juden hatten aber keinen Ort, zu dem sie flüchten konnten; das ist ein großer Unterschied gegenüber allen anderen religiösen Minderheiten.

WEMBER: 1812 kam die Judenemanzipation in Preußen. Es begann ein sehr spannendes Jahrhundert. Das wird das Thema eines anderen Podcasts sein. Frau Stollberg-Rilinger, vielen Dank für ihre Gedanken, für ihre Einsichten. Dankeschön.

STOLLBERG-RILINGER: Ich bedanke mich.

Was war – was wird

Der historycast des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands

Staffel 3: Judentum in der Geschichte: Zwischen Integration und Antisemitismus

Folge 1: Fortschrittsgeschichten

Judentum in der Zeit der Aufklärung

Heiner Wember im Gespräch mit Barbara Stollberg-Rilinger

Gefördert vom Bundesministerium des Innern und für Heimat.

WEMBER: Wenn Sie sich mit dem Thema der gerade gehörten historycast-Folge noch weiter auseinandersetzen wollen: Hören Sie doch mal beim WDR-Zeitzeichen rein. Dort finden Sie eine Reihe von spannenden Sendungen zu ähnlichen Themen. Die Links dazu haben wir in den Begleittext zu dieser Folge gestellt.

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